Künstlerin des Monats – Johanna Diehl

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Der Bildband gehört zu der Königsklasse der Foto-Publikation. Die Auswahl und die Abfolge der Fotografien sind für die Dramaturgie des Bandes entscheidend. Auf intime Weise führt er die Betrachtenden beim Durchblättern durch einen visuellen Dialog der Bilder.

2015 veröffentlichte Johanna Diehl den Bildband “Ukraine Series”. Auf dem türkisfarbenen Einband ist ein verfallener Innenraum zu sehen. Die Wandfarbe ist abgeblättert, Ziegel liegen frei, Feuchtigkeit zerfrisst die Kuppeldecke, eine Tür ist zugemauert. Über der Tür befindet sich ein Schriftzug in Hebräischen Lettern. Der Farbton Türkis wird als die Kälteste aller Farben empfunden. Passend zum Inhalt führt dieser Einband in die kälteste und dunkelste Zeit Europas des 20. Jahrhunderts.

 

Die Publikation beginnt mit dem Bild eines mit Wandmalerei bestückten aber zerstörten Raumes. Ihm folgt das Bild eines Tanzsaals mit abgehängter Decke, dann das Bild eines heruntergekommenen Flures mit einer heroischen männlichen Pappfigur im Bildzentrum. Die Motive nehmen zwei Drittel einer Doppelseite ein. Der breite weiße Rand ohne Titel oder Bildbeschreibung wirkt wie eine stille Einladung, das Bild genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie beiläufig in den Bildband hineingelegt wirken die Texte auf dünnem, hellblauem Papier von Bernhard Maaz und Juri Andruchowytsch zu Diehls Fotoserie.

Beim Weiterblättern wandert der Blick durch verlassene Ruinen und findet immer wieder neue Spuren der mutwilligen Zerstörung, Schändung und des Vergessens. Irritierend wirken plötzlich die folgenden Fotografien von mehr oder weniger frisch gestrichenen und neu ausgestatteten Kinosälen, von übermäßig mit Bildern, Gebrauchsgegenständen oder Maschinen zugestellten Räume.

Johanna Diehls Fotoserie ist das Ergebnis einer Reise in die Ukraine. Von Czernowitz aus fuhr sie sternförmig in die umliegenden Dörfer auf der Suche nach ehemaligen Synagogen. Sie fragte alte Menschen auf den Straßen und recherchierte bei Behörden nach den Standorten der Synagogen. Diese standen meist am alten Marktplatz Richtung Osten.

Die Gotteshäuser, die sie vorfand, lagen teils in Trümmern. Andere waren zu Turnhallen, Kinos, Fabriken, Völkerkundemuseen, Geschäften, Sitzungssälen oder Festsälen bis zur Unkenntlichkeit ihrer ursprünglichen Funktion umgebaut worden. Mit einem analytischen Blick hielt sie die gespenstischen und teils skurrilen Orte fest, die zwischen Ziegelstapeln und kitschigen Polyestervorhängen, abgeblätterter Wandmalerei und Zahnpastatuben von Brutalität und Rücksichtslosigkeit erzählten.

Die meisten Synagogen in der heutigen Ukraine stammen aus dem 18. und 19. Jahrhundert, als die jüdische Bevölkerung in vielen Städten zur größten Bevölkerungsgruppe zählte. Als die jüdische Bevölkerung unter den Diktaturen des 20. Jahrhunderts der grausamen Verfolgung und Vernichtung zum Opfer fiel, blieben die steinernen Gotteshäuser als stumme Zeugen zurück. Mit dem Aufkommen des Realsozialismus wurden die sakralen Bauwerke schließlich gedankenlos überformt und zu Orten der Propaganda, der Arbeit und der körperlichen Ertüchtigung umgebaut.

Zeitgleich zum Erscheinen des Bildbandes “Ukraine Series”, für den die Fotokünstlerin den Deutschen Fotobuchpreis in silber erhielt, zeigte Diehl die Fotostrecke in der Pinakothek der Moderne in München. Die großformatigen Abzüge eröffneten den Betrachtern die Möglichkeit, auf besondere Weise in die verstörenden Orte einzutauchen.

Wie wird Geschichte in Architektur sichtbar, wie manifestieren sich Ideologien in ihr, sind Fragen, die Diehl fotografisch untersucht. 2009 fotografierte sie Moscheen und Kirchen auf Zypern. Die Teilung der Insel und die damit einhergehenden Grenzverschiebungen hatten zur Folge, dass die Religionsgemeinschaften in den Gotteshäusern wechselten. Kirchen wurden zu Moscheen und Moscheen zu Kirchen.

 

Die nächste Reise führte Diehl 2011 und 2014 nach Sizilien. Fernab von touristischen Routen suchte sie Mussolinis faschistische Idealdörfer auf, die nach seiner Agrarreform in Italien gebaut wurden. Die fotografische Untersuchung zeigt die Systematik und die Inszenierung dieser ideologischen Architektur.

Johanna Diehl arbeitet mit einer analogen Großformatkamera. Diese Technik ermöglicht ihr eine besondere Konzentration beim Fotografieren. Zurück im Studio entscheidet sie sich nach der Entwicklung und Sichtung der Bilder für ein einziges Bild, das entwickelt werden soll. Das Resultat ist nicht nur eine Momentaufnahme, sondern eine Art Zeitkapsel, die Spuren der Vergangenheit in sich einschließt.

In Zeiten von kulturellen Umbrüchen und Mitgliederschwund in den christlichen Kirchen spiegeln Johanna Diehls Fotoserien unweigerlich die Frage, welche Schicksale mitteleuropäische Kirchen erwarten. Würde Johanna Diehl die Verfasstheit der Kirchen untersuchen, würde sie neben Kindergärten, Altenheimen und Bibliotheken auch Skateparks, Diskotheken und Zirkusschulen finden. Was würden diese Bilder über das spirituelle Erbe Europas aussagen? Sie würden vermutlich nicht ermahnen, sondern analytisch den aktuellen Stand feststellen und zugleich Skurriles und Verstörendes sichtbar machen.

Das Haus am Waldsee in Berlin zeigt vom 28. November 2019 bis 23. Februar 2020 die jüngste Fotoserie der mehrfach ausgezeichneten Fotokünstlerin. In der Einzelausstellung mit dem Titel “In den Falten das Eigentliche” bezieht sich Johanna Diehl auf deutsche Biografien der Nachkriegszeit.

 

Text: Dorothea von Kiedrowski

Fotos: Johanna Diehl, Dorothea von Kiedrowski

www.johannadiehl.com

www.wilmatolksdorf.de

www.hausamwaldsee.de