Interview mit Tanja von Gilsa. Ein 50km langer Schal von Brescia nach Bergamo

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CB: Liebe Tanja, Du hast ein Praktikum im Museo Santa Giulia in Brescia gemacht – in einer Stadt, die dieses Jahr gemeinsam mit Bergamo italienische Kulturhauptstadt ist. Wie hat sich Brescia denn für das Kulturjahr gerüstet, was sind die Besonderheiten?

TvG: Brescia ist auch für viele Italiener eine Unbekannte. Als Kulturhauptstadt bietet sich für Brescia die Gelegenheit auf sein reiches kulturelles Erbe aufmerksam zu machen. Der Parco Archeologico und die Klosteranlage von San Salvatore-Santa Giulia stehen auf der Liste des UNESCO-Welterbes. Aber auch die fast vollständig erhaltende Altstadt mit vielen Kirchen, Palazzi und Plätzen sind ein Besuch wert. Für das Kulturjahr hat das Museo del Risorgimento Leonessa d’Italia (Freiheitsbewegung Italiens im 19. Jahrhundert) eine neue Ausstellungskonzeption erhalten. Es gibt viele Kunstausstellungen im Verlauf des Jahres. Aber auch ein reichhaltiges Nebenprogramm mit Ballettchoreographien und Konzerten. Und viele Aktionen an denen die Bürger*innen Brescias selbst teilnehmen. Zum Beispiel gibt es eine Perfomancegruppe, die von professionellen Tänzerinnen angeleitet wird, um in Tableaux vivants (lebende Bilder) die Renaissancegemälde aus der Sammlung der Pinacoteca Tosio Martinengo nachzustellen.

Girolamo a Romano detto il Romanino "Cena in casa di Simone fariseo"

Eine besondere Aktion ist der geplante Flashmob 50 Miglia. Eine Menschenkette soll am 04. Juni die beiden Kulturhauptstädte 2023, Brescia und Bergamo, über 50 Kilometer mittels tausender handgestrickter Schals verbinden. Die Schals sind 1,50 Meter lang und erinnern so an den Mindestabstand, den wir Menschen während der Corona Pandemie einhalten mussten. Die Aktion setzt ein Zeichen der Solidarität und des Zusammenhaltes, visualisiert durch die bunten individuellen Kreationen und physisch im Kollektiv umgesetzt. Gleichzeitig wird an die schreckliche Corona Pandemie erinnert, die genau dort in der Region um Bergamo im Februar 2020 mit voller Wucht zum Ausbruch kam und viele Tote gefordert hat.

CB: Für mich hat diese Aktion etwas sehr Berührendes. Viel Leidenschaft ist in die Erstellung der Schals geflossen, wahrscheinlich sind auch viele Erinnerungen an geliebte Menschen, Kranke, Verstorbene in die Arbeiten darin verwoben. Die Schals besitzen Schlaufen, um sie besser halten, greifen zu können. Sie haben etwas Verbindendes und Griffiges, verbinden im Leid, versuchen die traumatischen Erlebnisse aus der Coronazeit in einem Kunstwerk visuell und haptisch zu artikulieren, zu begreifen. Sie stehen für die Brüchigkeit und Krisenhaftigkeit unserer Zeit, spenden aber Trost durch bunte Farben und wärmende Wolle. Was bedeutet diese Aktion für Dich, Tanja; für die italienische Bevölkerung aus Brescia?

TvG: Ich konnte selbst erfahren, wie engagiert die Bürger von Brescia sind. Bei privaten Einladungen waren die Schals immer ein großes Thema. Wollberge und angefangene Strickarbeiten waren zu entdecken. Die Stricklust kennt kein Alter und kein Geschlecht. Wirklich alle stricken. Und es entstehen dabei wahre Kunstwerke. Die Farb- und Musterwahl wird genau abgewogen und manche sind auch noch bestickt. Für mich steckt in jedem:jeder Italiener:in eine Künstler:in.

CB: Das Projekt wirkt sehr demokratisch und verbindend. Derartige kollektive Kunst, politische Aktionskunst liegt gegenwärtig im Trend, hat die letzte documenta geprägt, wenn auch bereits zuvor die Avantgarde sich dieser Formen bedient hat. Wie nimmst Du die Kunst in Brescia wahr? Hast Du den Eindruck, dass diese von der documenta 15 geprägt ist?

TvG: Schwer zu sagen. Kassel ist auf jeden Fall vielen ein Begriff durch die documenta. Nun ist Venedig und die Biennale auch nicht weit entfernt von Brescia. Es gibt eine Reihe zeitgenössischer Installationen in der Stadt. Oder auch temporäre Ausstellungen zeitgenössischer Kunst werden regelmäßig gezeigt. Das Interesse für Kunst allgemein ist sehr stark ausgeprägt. Auch wenn die Geschichte durch historische Architektur und alte Kunstwerke im Alltag sehr präsent ist, hatte ich den Eindruck von einer großen Offenheit gegenüber avantgardistischer Kunstpraktiken. In Mailand gibt es bis Ende des Monats im Palazzo Reale eine Ausstellung des Videokünstlers Bill Viola, die in Brescia sehr beachtet wurde.

CB: Was nimmst Du persönlich aus Deiner Zeit in Brescia mit, was wünschst Du Dir auch für die deutsche Museumslandschaft, gibt es etwas, wovon Du denkst, dass wir darin besonders von Italien lernen können?

TvG: Ich nehme die Erinnerung an eine herrliche Zeit mit dolce vita und einen sonnenreichen März mit! Ich durfte viel lernen und viele neue Erfahrungen sammeln: Sprache, Menschen, Arbeitsleben. Das Museum Santa-Giulia bietet über hundert Programme für Kinder und Jugendliche an. Jährlich besuchen das Museum ungefähr 66 000 Kinder. Sie bekommen auf eine sehr spielerische Weise auf einem Ausflug die Geschichte, Kunst und Kultur ihres Landes vermittelt. Das Museum ist keine verstaubte, leere Institution, sondern ein lebendiger Ort. Das konnte ich jeden Tag dort erfahren. Und das wünsche ich mir von deutschen Museen.

CB: Das hört sich wunderbar lebendig an! Was sollte Kunst Deiner Meinung nach in der heutigen Zeit leisten?

TvG: Kunst soll den Betrachter ansprechen. Kunst soll anregen und inspirieren, sie muss nicht immer gefallen, sie kann uns und unsere Welt spiegeln oder gerade nicht. Kunst ist oft seismographisch: Ein Aspekt, den ich an zeitgenössischer Kunst besonders schätze und der mich schon oft hat erschaudern lassen.

CB: Ich habe auch den Eindruck, dass Künstler:innen in ihrem Blick auf die Welt anderen Menschen oft etwas voraus haben, dass ihr Blick eine besondere Tiefe und Weitsicht hat – für mich besitzt dieses Seherische auch eine religiöse Dimension. Fällt Dir etwas in der Kultur- und Museumslandschaft von Brescia ein, was besonders bemerkenswert in puncto Kunst und Religion ist?

TvG: Da ist ein Besuch des Museo St. Giulia empfehlenswert. Der Gebäudekomplex des ehemaligen Klosters Santa Giulia geht auf die Gründung des Langobardenkönigs Desiderius zurück. Im Herz der Anlage befindet sich das romanische Oratorio Santa Maria in Solario. Dort wird ein Hauptwerk karolingischer Goldschmiedekunst ausgestellt: das Kreuz des Desiderius. Es ist ein mit Goldblech überzogenes Holzkreuz, das übersät ist von einer Fülle an Edelsteinen, Gemmen und Glasplasten und vormals als Vortragekreuz für Prozessionen diente. Es verbindet die römische Tradition der militärischen Standarten mit dem Erkennungszeichen der christlichen Gemeinschaft. Seine ursprüngliche Bedeutung als Kultobjekt ist für den:die heutigen Betrachter:innen nur noch schwer erfassbar, steht er doch staunend vor einem riesigen Schmuckstück. Für die frühchristlichen Gläubigen im Territorium des Römischen Reiches war das Kreuz des Desiderius ein Gegenstand von hohem moralischem Wert, der Orientierung verleihen und dem Glauben zu Gott stärken sollte.

CB: Ja, und zugleich ist das feingearbeitete Prunkkreuz auch Zeichen von Herrschergewalt, Macht und Reichtum der Kirche. Mit der Einfachheit des Urchristentums hat dieses nicht mehr viel gemeinsam, wenn auch dadurch Gott die Ehre gegeben wird. Du merkst, meine Empfindungen sind in Hinblick auf derartige Kultgegenstände zumeist auch immer ambivalent.

Und nun noch eine Frage zum Schluss: Welches Museum sollte man sich auf jeden Fall anschauen, wenn man in Brescia ist und warum?

TvG: Natürlich die Pinacoteca Tosio Martinengo. Eine wunderbare Sammlung italienischer Renaissancebilder, der aus Brescia stammenden oder wirkenden Künstler Moretto, Moroni und Savoldo. Bewunderswert ist auch der Palazzo selbst, indem die Sammlung untergebracht ist und seine elegante Ausstellungskonzeption.

CB: Liebe Tanja, das Interview mit Dir hat richtig Lust gemacht, nach Brescia zu reisen, die Kulturhauptstadt zu genießen, die wunderbaren Ausstellungen, eleganten Museen zu besuchen und die Bewohner:innen und das, was sie bewegt, kennenzulernen. Schön, dass Du uns so wunderbare Fotos zur Verfügung gestellt hast. Danke!

 

Tanja von Gilsa
B.A. und Studentin der Kunstwissenschaft im Master an der Kunsthochschule Kassel

 

Das Interview wurde am 15. Mai 2023 geführt.

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