Manch eine(r) mag sich fragen, warum es Autobahnkirchen und -kapellen gibt, wer sie eigentlich baut und von wem sie aufgesucht werden?
Ihre Geschichte kann bis ins Mittelalter zurückverfolgt werden. Als kleine Kapellen und Kreuze dienten sie häufig an Straßen und Pilgerrouten als Orte der Andacht und der Besinnung auf einst gefährlichen Wegen. Gerade für Pilger war die Einstimmung auf das Pilgerziel ein wichtiger Aspekt. Für die meisten ging es daneben schlicht um Beistand, um wohlbehalten am Ziel überhaupt anzukommen. Heutige Autobahnkirchen und -kapellen können in dieser Tradition verstanden werden.
Die erste Autobahnkirche entstand 1958 an der A 8 zwischen München und Stuttgart bei Adelsried. Inzwischen gibt es in Deutschland ein Netz von 44 Autobahnkirchen; die meisten davon befinden sich in den südlichen und westlichen Bundesländern. Viele der Autobahnkirchen sind aus Privatinitiativen oder Initiativen von Gemeinden entstanden. Seit 1980 fördern und koordinieren die “Versicherer im Raum der Kirchen” den Ausbau der Kirchen. Autobahnkirchen sind inzwischen kein ausschließlich deutsches Phänomen mehr. Auch in den skandinavischen Ländern, Estland oder Russland sind in den letzten Jahren Orte für geistliche Pausen entstanden.
Auch die Autobahnkirche Siegerland ist aus einer Privatinitiativen heraus erwachsen. Angeregt durch den Besuch einer Autobahnkirche in Süddeutschland, gründete das Ehepaar Hering 2009 in Ihrer Heimat Südwestfalen den Förderverein Autobahnkirche Siegerland e. V. Sie schrieben einen Wettbewerb aus, den das Architekturbüro schneider+schumacher gewann.
Seit ihrer Einweihung 2013 hat die Autobahnkirche Siegerland eine besondere Anziehungskraft entwickelt. Das liegt nicht zuletzt an der ungewöhnlichen Fassade und dem einladenden Innenraum. Der Ausgangspunkt für die äußere Gestalt der Autobahnkirche ist das schlichte Piktogramm für Autobahnkirchen. Daraus entwickelten die Architekten eine vielansichtige, zackenartige Fassade mit zwei Kirchtürmen, die das Piktogramm mal erkennen, mal verschwinden lässt. Einem Herrnhuter Stern gleich entfaltet sich der Baukörper in seiner kargen Umgebung an der A 45, Ausfahrt Wilnsdorf, neben seinen profanen Nachbarn, einer Tankstelle, “Burger King”, einem Hotel und einer Spielhalle.
Der gesamte Baukörper ist in Holzständerbauweise und einer Holzbinderkonstruktion im Bereich des Dachtragewerks und der Turmbauten gebaut. Die Holzaußenflächen wurden gegen Witterung mit einer Polyurethan-Sprühabdichtung versehen. Ein Steg führt die Besucher*innen, am Psalm 91,11 vorbei, ins Kircheninnere: “Er hat seinen Engeln befohlen dich zu behüten auf allen deinen Wegen”. Der Schriftzug, eigens für die Kirche von der Grafikagentur Heine/Lenz/Zizka entworfen, stellt einen direkten Bezug zum Standort der Kirche her, indem er sich an Heckklappentypografie orientiert.
Die abstrakte weiße äußere Gestalt der Kirche lässt einen ebenfalls weißen, kühlen Innenraum vermuten. Die Besucher*innen werden jedoch vom Gegenteil überrascht. Das Kircheninnere gleicht einem Bienenstock, der Geborgenheit und Wärme ausstrahlt. Eine Innenkuppel mit einer Kreuzrippen-Struktur aus Grobspanplatten bildet den Innenraum. 66 vertikal und horizontal zueinander verlaufende, halbkreisförmige Holzspanten, aus 650 Einzelteilen zusammengesetzt, bilden die Innenkuppel.
Durch die einseitig verglasten Kirchtürme dringt natürliches Licht ins Kircheninnere. Die Kirche ist sparsam mit Sitzhockern, Kniebänken, einem Lesepult und einem Kerzenhalter ebenfalls aus Grobspan ausgestattet. Der Raum wirkt durch die Wiederaufnahme des Materials harmonisch.
Eine Öffnung in der Kuppel beherbergt auf einem Podest den Altar und das Kreuz, die in schlichtem Weiß gehalten sind und vom Deckenlicht hinterleuchtet werden. Alle drei Komponenten - die leichte Erhebung, das Weiß sowie das Licht - symbolisieren auf unprätentiöse Weise die göttliche Sphäre, die sich von dem holzbraunen Raum abhebt. Außerhalb der Kuppel sind aufgrund des quadratischen Grundrisses Freiräume entstanden, die als Sakristei und als Nebenräume genutzt werden.
Das einzigartige Bauwerk wurde bereits mehrfach vom Fachpublikum gewürdigt. Es wurde beispielsweise 2016 mit dem “American Architecture Prize” in Gold in der Kategorie “Cultural Architecture” ausgezeichnet und im Architektur-Führer “Destination Architecture” des renommierten Verlages Phaidon zu den 1000 weltweit besten zeitgenössischen Bauten aufgenommen.
Neben Ihrer Hauptfunktion als Raum der Stille und Besinnung für Durchreisende dient die Autobahnkirche Siegerland zudem als Kultur- und Begegnungsraum. Wöchentlich finden hier freitags Wochenschlussandachten sowie musikalische Abende, der Tag der Autobahnkirche und Sommerbegegnungen statt.
In Zeiten erhöhter Mobilität und Rastlosigkeit wird die Autobahnkirche Siegerland einerseits wegen ihrer Funktion als “Tankstelle” für die Seele, aber auch wegen ihrer reizvollen Architektur und nicht zuletzt wegen des ansprechenden Rahmenprogramms jährlich von tausenden von Besucher*innen aufgesucht.
Am 8. Dezember lädt die Autobahnkirche Siegerland zum Weihnachtskonzert mit dem Ensemble Glissando Stuttgart ein.
Text: Dorothea von Kiedrowski
Bilder: Helen Schiffer, Jörg Hempel
Skizzen: Michael Schumacher