Essen statt Vergessen: Día de Muertos

Die Berliner Künstlerin und Ethnologin Jördis Hirsch hat an einem residency-Programm in Mexiko teilgenommen und berichtet als Gastautorin in unserem Webzine von ihrer Auseinandersetzung, ihrem Erleben und der Bedeutung des Totenfestes „Díá de Muertos“ mit seinen Ofrendas, ein kultisches Fest mit aztekischen Wurzeln, das die Mitfeiernden zwischen Trauer und Ernst sowie Spiel und heiteren Erinnerungen hin und her pendeln lässt.

Es ist eines der großen Tabus in unserer Gesellschaft. Der Tod wird so weit wie möglich aus dem gemeinschaftlichen Leben gedrängt, als Schreckgespenst ferner Kriege oder maskiert als medizinisches Versagen. In einer Gesellschaft, welche Jugend und Optimierbarkeit zu ihren höchsten Werten erklärt, wird der Begriff immer stärker abstrahiert. Keinen Zugang und keine Berührung mit dem Thema zu haben, erzeugt das Gefühl von Hilflosigkeit in Momenten der direkten Konfrontation, zum Beispiel wenn ein Bekannter von einem überraschenden Verlust berichtet oder ein Angehöriger stirbt. Aber auch der Gedanke an die eigene Sterblichkeit wird vielfach verdrängt und gefürchtet.  Deshalb habe ich mich auf die Suche nach Antworten begeben, die den Tod sichtbar machen und wieder Teil des Lebens werden lassen.

Meine Erfahrung mit dem mexikanischen Totenfest beschreibt den Vorgang der bewussten Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit und das Teilen der Erinnerung, die Abschiednahme und Wiederkehr als kollektive, über den Familienkreis hinausgehende, zyklische Erfahrung. Diese ist im Gegensatz zu unserer eignen Bestattungskultur zum Teil sehr spielerisch und positiv konnotiert und eines der größten Feste des Jahres:

November 2023

Es ist Donnerstagabend, ich stehe auf dem Zocalo (dem zentralen Platz) von Oaxaca, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates in Süden Mexikos. Die Stimmung ist ausgelassen, Menschen im T-Rexkostüm tanzen mit anderen im Skelettanzug, bunte Scherenschnitte flattern im Wind. Kinder fragen Passanten nach Süßigkeiten. Touristen posieren vor einer großen Pappmacheefigur in Gestalt einer Catrina (einem Skelett in mondäner Frauenkleidung). Daneben ein Feld mit kleinen weißen Kreuzen, auf jedem ist der Name einer ermordeten Frau notiert. Ein Plakat an der Wand zeigt die Gesichter von Männern verschiedenen Alters, auch ein Kind ist darunter. Alle diese Menschen gelten als vermisst. Der Tod und das Leben sind untrennbar miteinander verwoben, hinter aller Fröhlichkeit steht das Endgültige. Im Wissen darum versuchen Menschen am heutigen Tag einen Umgang mit diesem Spannungsverhältnis zu finden: Es ist Día de los Muertos, das alljährlich stattfindende mexikanische Totenfest.

Trotz regionaler Unterschiede wird am 1. und 2. November überall der Toten gedacht und die kurzzeitige Rückkehr ihrer Seelen erwartet. Leben und Tod werden als Zyklus gesehen, der in dem jährlich wiederkehrenden Fest seinen Ausdruck findet, der Tod ist ein Übergang. Die Vorbereitungen für das Fest beginnen bereits einige Wochen zuvor. Viele Menschen besuchen Friedhöfe, um die Gräber zu reinigen, zu streichen und für das Totenfest zu schmücken. Auch in den Straßen und auf den Plätzen werden Veränderungen sichtbar. In Bäckereien wird das Totenbrot gebacken, ein rundes Zuckerbrot, das mit Teigknochen und einer kleinen Krone in Form einer Teigkugel verziert ist. Es ist mit Orangenessenz oder Anis und Zimt gewürzt, doch häufig wird der feine Geschmack von einer dicken Zuckerschicht überdeckt. Kleine bunte Zuckerschädel werden als Süßigkeiten verkauft. Überall auf den Plätzen werden Figuren aus dem Totenreich aufgestellt, Statuen aus Pappmaché ragen übergroß aus dem Meer der Passanten oder baumeln fröhlich von Hauseingängen, Läden und Balkons. Sobald die Dunkelheit hereinbricht, strahlen sie farbenfroh illuminiert in die Nacht. 

Das eindrucksvollste am Día de Muertos sind jedoch die Ofrendas. Da die Toten nur für eine Nacht zurückkehren dürfen und ihre Seelen eine weite Reise auf sich nehmen, muss für ihre Ankunft alles bereit sein. Lieblingsspeisen, Erinnerungsstücke, Portrait-Aufnahmen und Geschenke für verstorbenen Familienangehörige und Freunde werden auf einem Altar so arrangiert, dass jeder Tote seinen persönlichen Platz bekommt. Mit dieser sogenannten „Ofrenda“, werden die Toten willkommen geheißen. Es kann sich dabei um einen kleinen Tisch aber auch ein Objekt in Form einer mehrstöckigen Pyramide handeln. Jede Ebene entspricht dabei eines der Elemente Erde, Wasser, Feuer und Wind, und wird durch die Anordnung der darauf dargebotenen Objekte repräsentiert.

Die unterste Ebene symbolisiert das Element Erde. Auf ihr werden Blumen und Früchte drapiert, insbesondere die Totenblume Cempasúchil, die in Deutschland als Studentenblume bekannt ist. Eine strahlend orange-gelbe Blume, mit einnehmendem Duft, die bereits in prähispanischen Zeiten große rituelle Bedeutung als Sonnensymbol erlangte. Die Blume wird nicht nur auf der Ofrenda verwendet, sondern schmückt in großen Mengen die Hauseingänge und Straßen. In Atlixco, einer Stadt zu Füßen des Vulkans Popocatepetl gedeihen die Blumen in der vulkanischen Erde besonders gut. Die gelben Felder verschwinden erst kurz vor dem Totenfest, stattdessen türmen sich die Cempasúchil dann auf den LKWs auf ihrem Weg in Städte und Dörfer. Die Blütenköpfe werden zu kunstvollen Pfaden angeordnet, die die Toten zu den Ofrendas leiten, denn die Seelen, so sagt man, können die Farbe Gelb am besten erkennen. Ein Glas Wasser symbolisiert eine weitere Ebene der Ofrenda, und soll den Durst der Seelen nach ihrer langen Reise stillen, das Licht des Feuers in Form von Kerzen weißt ihnen den Weg und Wind wird in Form von Weihrauch repräsentiert. Viele Objekte sind auf den zum Teil sehr aufwendig gestalteten oder auch ganz schlicht gehaltenen Ofrendas zu finden. Im Vorbei gehen sehe ich Bilder von berühmten Persönlichkeiten, Luchadores (mexikanischen Ringkämpfern), Zigaretten, Kruzifixe oder Heiligenbilder- und Figuren wie das der Schutzheiligen Jungfrau Guadalupe. Jedem Verstorbenen wird etwas geschenkt, das er oder sie im Leben besonders schätzte. Kindern werden Süßigkeiten und Spielzeug dargebracht, Erwachsene heißt man mit Kaffee und alkoholischen Getränken willkommen. Es kann sich aber auch um die geliebte Hibiskus- Limonade oder eine gute Zigarre handeln.  Fotos von noch lebenden Personen sind hingegen niemals Teil der Ofrenda.

Tamal ist eine typische Speise, die den Toten angeboten wird und ebenfalls prähispanische Wurzeln hat. Das Gericht besteht aus einem Maisteig, gefüllt mit Bohnen oder Fleisch und eingewickelt in Mais- oder Bananenblätter. So wurden auch die Toten bestattet, eingewickelt in Decken. Manche Ofrendas bestehen komplett aus Naturalien und verströmen einen aromatischen Duft. Mit viel Geschick werden hier verschiedene Sorten getrockneter Linsen, Bohnen, Maiskörner, Reis und Chilis so angeordnet, dass sie zum Beispiel ein tanzendes Gerippe-Pärchen darstellen.

Wenn die Toten kommen, so hofft man, dass sie die Essenz von allem mitnehmen, den Geruch des Kaffees oder der Mole (Schokoladen-Chilisoße) die für sie gekocht wurde, die Orangenessenz des Totenbrots, der Duft der Cempasúchil, der Geist des Mezcals. Mehr können sie nicht aufnehmen, nur die Essenz dessen was dargeboten wird. Was übrig bleibt am nächsten oder an einem der darauf folgenden Tage, wird unter den Lebenden verteilt. Man sagt, nach dem Besuch der Toten hat dieses Essen seinen Geschmack verloren.

Man findet Ofrendas überall, in den Wohnungen und Häusern, in staatlichen Institutionen genauso wie in Hotels, in Kirchen, selbst im Oxxo (ein Mini-Supermarkt) gibt es nicht selten einen Bereich, der für die Toten reserviert wird. Mir wird seltsam zumute beim Betrachten der lächelnden Menschen auf den aufgestellten Fotos, den vielen liebevoll angeordneten Objekten und sorgfältig zubereiteten Speisen. Es ist ein Einblick in etwas sehr Privates, doch viele Ofrendas sind öffentlich zugänglich, der Tod omnipräsent. Es ist eine Vorbereitung auch für die Lebenden, denn sie wissen dass auch sie irgendwann ihre Ofrenda erhalten.

Der heutige Totenkult basiert auf vielen aztekischen Legenden und Mythen. Wenn ein Mensch starb, war seine weitere Reise davon abhängig, wie er starb und nicht wie er sich zu Lebzeiten auf Erden verhalten hat. Die meisten Menschen gingen nach Mictlán, weil sie an einer Krankheit oder eines natürlichen Todes starben. Aber andere, z.B. Krieger oder Frauen, die während der Geburt eines Kindes ihr Leben ließen, gingen ins Paradies der Sonne, wo sie sich in wunderschöne bunte Vögel verwandelten, die ihren Lauf begleiten.  Menschen, die durch Ertrinken oder Blitzschlag starben, kamen in das Paradies des Regengottes Tlaloc. Die verstorbenen Neugeborenen reisten in ein Paradies, wo Milch von den Bäumen tropfte um sie zu nähren und warten darauf vielleicht irgendwann, wenn die Menschheit ausstirbt, auf die Erde zurück zu kehren, um diese neu zu besiedeln.

Wer wie die meisten seinen Weg nach Mictlán nahm, dessen Seele erwartete eine lange Reise. Sieben Unterwelten mussten überwunden werden, dabei half ein Xoloitzcuintle (ein mexikanischer Nackthund). Dieser Xolo führte die Seelen über reißende Flüsse und Berge, die gegeneinander stürzen. Durch eisige Regionen, in denen es immer schneit und Stürme aus Obsidiansplittern toben und Gegenden in denen sich Jaguare auf die Seelen stürzen, um ihr Herz zu verschlingen. Auf dieser Reise löst sich der irdische Körper systematisch auf. Nach vier Jahren erreicht die Seele Mitclán, wo die letzten Teile des ehemaligen Körpers geopfert werden und nur noch die Seelen existieren. Mictlán wird als ein Ort ohne Licht beschrieben, an dem die Seele zur Ruhe kommt, doch einmal im Jahr erhält sie die Erlaubnis, diesen Ort zu verlassen. Am 1. November besuchen die Seelen der Kinder und am 2. November die Seelen der verstorbenen Erwachsenen die Lebenden. An anderen Tagen wird je nach Region auch der Verstorbenen ohne Hinterbliebene sowie der verstorbenen Tiere gedacht.

Am Tag des 2. Novembers macht sich die ganze Familie zurecht, packt Essen, Getränke, Blumen, Kerzen, Stühle und Kissen und geht zusammen auf den Friedhof, wo sie sich an das Grab setzen, Nachtwache halten und darauf warten, dass die Seelen erscheinen. Währenddessen werden Erinnerungen geteilt, die gemeinsam mit der verstorbenen Person erlebt wurden, über lustige Begebenheiten gelacht und so der Moment wieder lebendig. Wer etwas Geld hat, kann eine Mariachi Band einladen, am Grab das Lieblingslied der Verstorbenen zu spielen oder jemand aus der Familie bringt eine eigene Gitarre mit. Jetzt sind die Lebenden mit den Toten vereint.

Die große „Tag der Toten Parade“ in der Hauptstadt, basiert hingegen auf einem Ereignis wesentlich jüngeren Datums und ist in erster Linie kommerziell ausgerichtet. 2015 erschien der James Bond Film „Spectre“, in dessen erster Sequenz eine große Totenfestparade gezeigt wird, die bis zu diesem Zeitpunkt in Mexiko Stadt nicht stattfand. Aufgrund der großen Beliebtheit des Films, wird die Parade nun jedes Jahr im Zentrum der Stadt abgehalten und zieht zahlreiche in- und auch ausländische Besucher an, in erster Linie um zu konsumieren. Die eigentliche Bedeutung des Totenfests ist eine Andere:

„Das Totenfest ist kein banales Fest, kein Fest um des Feierns willens, sondern eine Begegnung von Lebenden und Toten – eine Möglichkeit, unsere Toten zu spüren und mit ihnen zusammen zu sein. Über den Tod zu sprechen, zu singen, zu lachen, den Tod zu fühlen und das Totenfest zu feiern, all dies ist eine Vorbereitung auf das, was unvermeidlich ist.“*              

Die spielerische Komponente im Angesicht des Endgültigen weckt in mir den Wunsch nach der künstlerischen Auseinandersetzung, da der Tod in Deutschland primär mit Trauer konnotiert ist und in unserer Gesellschaft alles Spielerische im Umgang mit dem Sterben der Ehrfurcht vor dem Endgültigen weichen muss. Humor wird als Gegenpol und Respektlosigkeit im Angesicht des Ewigen angesehen, obwohl er eine der stärksten menschlichen Techniken im Umgang mit dem Unvermeidbaren ist und in Mexiko den bewussten und respektvollen Umgang mit den Toten stärkt, da er eine Brücke zu den Lebenden schlägt.

Der Holzschnitt „Fiddling Death“ ist meine Reaktion auf die Omnipräsenz der mich umgebenden Skelettdarstellung, in der das Lustige betont wird. Entstanden aus der Idee des wörtlich genommenen „Musikantenknochens“, im englischen als „funny bone“ bezeichnet, fiedelt das Skelett stellvertretend auf der eigenen Elle und greift damit das Motiv des Totentanzes auf. So findet das Spielerische auch in unserer Tradition seinen Ausdruck. Im Vergegenwärtigen und Zulassen der eigenen Endlichkeit und dem Teilen gemeinsamer freudiger Momente, wird die Erinnerung lebendig und feiert am Ende – das Leben.

 

Dieser Artikel wurde mit freundlicher Unterstützung von José Luis Crisostomo und dem Humboldt Forum Berlin verfasst.

Zur Künstlerin: joerdishirsch.com

 

* Zitat von Mario Vázquez, Mitbegründer des Vereins Calaca Berlin und zuständig für die Zeremonie beim Mexikanischen Totenfest in Berlin, präsentiert im Humboldt Forum als Tonbeitrag der Ausstellung un_ endlich. Leben mit dem Tod.