Aus einem Seminar zum Thema "moderne Bilder und die Bibel" entwickelte sich langsam eine Diskussion über den Zusammenhang von Text(en) und Bild(ern) allgemein. Zur Grundlage dieser Diskussion wurden weniger die sorgfältig kurierten Texte als die Bilder, die im Rahmen von "Bilderrätseln" von Teilnehmern und Teilnehmerinnen des Seminars mitgebracht wurden. Die Aufgabenstellung war denkbar simpel, das Ziel der Übung allerdings offen und jeden Montag so unvorhersehbar wie das Bild, das wir betrachteten. Es waren unterschiedliche Länder, Stilrichtungen und sogar eine Künstlerin persönlich vertreten, nachdem wir sie infolge eines "Bilderrätsels" zum Gespräch eingeladen hatten.
Kommentar Celica Fitz
Die Spezifika von visuellem Material, ob Kunstwerk, Informations- oder Werbegrafik, verschwimmen im Bilderpool des Internets. Verbreitete Darstellungsarten stellen die visuellen Suchergebnisse nach eigenen Regeln des Algorithmus zusammen, die sich nicht mit Kunstbegriffen oder Konventionen decken müssen. Aus den Bildern entsteht am Bildschirm eine Oberfläche, die visuell abgetastet wird. Um aufzufallen, muss das Bild auf den ersten Blick fesseln. Es scheint eine Selektionsleistung dieses Blickens zu sein, aus der Flächigkeit – die nicht zwingend eine negativ konnotierte Oberflächlichkeit meint – das gesuchte Bild herauszufiltern. Der Filter des „Bilderrätsels“ war es, moderne und zeitgenössische, religionsbezogene Kunstwerke zu finden. Dabei die Grenzen von Kunst- und Bildbegriffen auszuloten und nach den Relationen von Bild und Text in diesem visuellen Material zu suchen war Thema unseres Seminars.
Ich -- Johannes Böckmann, guten Tag, angenehm -- habe das kleine DinA3-Poster aufgehängt, die Idee entstand in der Diskussion um dieses "Bilderrätsel". Die Deutungsmöglichkeiten sind vielfältig: Der Betrachter in der Trinität; Der Betrachter als dasjenige welches das Dreieck erst zum Symbol Gottes des Vaters macht, nämlich der Kreis in der Mitte des Dreiecks wird zum Hinweis auf das Auge Gottes; Der Betrachter als Christ, freiwillig oder unfreiwillig; Der Betrachter als Gott selbst; U.a.
Eines der Bilder war eine Illustration eines Künstlers, der mit dem Pseudonym Abm6 auf Reddit unterwegs ist. Ihr habt es vielleicht gesehen, wenn ihr in der entsprechenden Woche auf das schwarze Brett der Theologie gesehen habt. Darauf zu sehen: ein Dreieck vor einem Kreuz vor einem Stern und daneben ein Legendenelement der Kartographie -- YOU ARE HERE, in großen schwarzen Lettern, in einem roten Kasten mit Verweis auf die Mitte des Dreiecks. Warum hing das da? Was soll das? "Wer will das wissen?" Wer hat das aufgehängt? Wörtlich oder dem Sinn nach standen diese Fragen in oder neben dem Kommentarfeld, das ich neben die Illustration gedruckt hatte, oder in den Köpfen vieler Betrachter mit denen ich gesprochen habe.
Kommentar
Von einem Bilderrätsel zu einem Bildexperiment wurde das Projekt im Moment der Materialisierung des Werks von einem digitalen Image zu einem öffentlichen Aushang an einer Pinnwand.
Thomas Erne interpretierte das Bild als Problem der umfassenden Selbstwahrnehmung Gottes / als Problem der reinen, objektiven, perspektivlosen Wahrnehmung folgendermaßen:
Es kann ja in diesem Zentrum kein Außerhalb geben und das Schaubild oder die Karte würde in sich widersprüchlich sein, weil sie von einem Außerhalb ein Innen zeigt, das kein Außen hat, weil es alles umfasst, auch diese Karte.
Es war die Frage aufgekommen, ob unsere im Seminar entwickelte Deutung so auch in einem anderen Kontext aufkommen würde, vielleicht sogar, in einem ambiguosen Kontext. Wir wollten wissen, ob die Illustration als philosophisches Spiel mit dem Problem der Subjektivität oder als frommes Glaubensstück interpretiert würde. Die aktuelle Hochschulpolitische Situation bot sich für genau diese Frage bestens an: An der Pinnwand, nur wenige Zentimeter rechts von unserem Plakat hingen Wahlplakate der Fachschaftsparteien verschiedener Frömmigkeit. Die Stimmung als "angespannt" zu beschreiben ist untertrieben.
In dieser Situation ergab sich eine weitere Ebene dieses Versuchs, die ich besonders interessant fand. Die Wahlplakate reagierten nicht nur aufeinander, es hingen auch kurze Absätze als direkte Reaktion neben oder auf den Plakaten. "Warum", dachte ich "nicht gleich ein Kommentarfeld auf das Plakat drucken?" Ich war gespannt, ob jemand tatsächlich reagieren, ob die Kommentare aufeinander Bezug nehmen, und ob jemand auf die Idee kommen würde, das Kommentarfeld zu verlassen.
Kommentar
Der Virtualität eines solchen entdeckten Bildes einen Ankerpunkt in der materialen Umwelt zu geben war wohl das Ziel dieses Experiments: Das Bild wurde zum „Unikat“, zu einem Plakat – welches genauso ein Pasting, ein Tattoo oder eine Wachstischdecke hätte werden können. Ein medienbasiertes Werk kommt aus der Digitalität ins Analoge. Auch das digitale Bild besteht dabei nicht ohne seine Materialität und Ästhetik, seine Wahrnehmung ist ebenso stark von seinem Medium geprägt, wie was bedruckte Papier an der holzlattengerahmten Korkpinnwand. An einer physischen Pinnwand wird aber auch gelesen, angebracht, überlagert und wieder abgerissen. An dieser Pinnwand wird gar durch die Anbringung von Plakaten oder Kommentaren text- und bildbasiert weiter kommuniziert.
Die Ergebnisse waren so spannend wie ich es mir erhofft hatte. Schon nach einem Tag im Säulengang waren die ersten Kommentare zu verzeichnen: Mehr oder weniger gute Witze, Trotz, eine clevere Anspielung auf Benjamin Zubers Werk, und sogar Unverständnis! Und genau an der Stelle des Plakats, wo man eine Unterschrift des "Absenders", oder eine Angabe der Quelle erwarten würde ein Kommentar außerhalb des Rahmens, der genau danach verlangte: Hilfe bei der Einordnung in einen Kontext. Es war großartig. Bis zum nächsten Morgen hatte sich die Zahl der Kommentare verdoppelt. Mehr Witze, eine weitere Anspielung (Harry Potter) und die Frage "Bin ich da drin oder ist das in mir?" Eine klare Auseinadersetzung mit den Fragen, die das Werk aufwirft, wie wir sie im Seminar auch hatten. Der folgende Morgen war weniger interessant; es hatte sich nichts verändert. Doch irgendwann zwischen 12 und 14 Uhr änderte sich schlagartig alles. Das Plakat mitsamt Kommentaren war verschwunden.
Es hatte niemand Platz schaffen wollen um etwas anderes aufzuhängen, denn die Stelle blieb leer.
Ich stellte fest, dass meine Reaktion auf das verschwinden des Plakats gespalten war. Einerseits freute ich mich über den drastischen Ausdruck, mit dem Plakat umzugehen, indem man es entfernt, andererseits war ich traurig um die nun zum schweigen gebrachten Kommentare. Das Internet vergisst nie, sagt man (fälschlicherweise zwar, denn viele alte Websites sind mittlerweile verloren gegangen, doch als Warnung vor unvorsichtiger Internetnutzung berechtigt) aber ein analoges Kommentarfeld ist weniger beständig. Ich konnte von Glück sagen, dass ich jeden Tag ein Foto gemacht hatte, um den Verlauf des Projekts zu dokumentieren.
Mein Interesse an den Beweggründen für die Entwendung des Plakats, und außerdem mein Spaß an der Sache, ließ mich nicht los. "Vermisstenanzeige einer interaktiven Karte mit Kommentarfunktion" verkündete nun hyperbolisch ein zweites Plakat, unterstützt durch die verkleinerte ursprüngliche Illustration, ein Foto des Kommentarfeldes vor und ein Foto der Pinnwand nach der Entfernung des Plakats. An der selben Stelle, an der auf dem ersten Plakat das Kommentarfeld war, lud ein neues dazu ein, zu dieser neuen Entwicklung Stellung zu nehmen.
Der erste Kommentar war ein Witz, der entweder den Humor des Titels exakt oder ganz und gar nicht verstand und die starke Übertreibung durch den bekannten Running-Gag "!!!!!!!!!!!1" (eine Anspielung darauf, dass beim schnellen, wütenden Tippen oft die Hochstelltaste zu früh losgelassen wird und die übertrieben eindrückliche Punktuation durch Massen an Ausrufezeichen ins lächerliche gezogen wird) deutlich machte.
Auf den nächsten Kommentar antwortete ich mit meiner ersten Antwort. Dialog ist ja durchaus im Interesse des Projektes.
"Dranschreiben [sic!] von wem es kommt könnte helfen, wenn das Plakat hängen bleiben soll." Nachträgliche Rationalisierung oder nicht, der Kommentar macht eines deutlich: Die Schwierigkeiten mit der Illustration, die wir im Seminar befürchtet hatten, sind stark genug, um jemanden zu bewegen, die Uneindeutigkeit zu bewältigen, indem man sie auslöscht.
Kommentar
Unbekannt muss bleiben, welchen Zweck oder welche Funktion die Autorin oder der Autor dem Bild selbst einschreiben wollte. Wird die Autorschaft zweitrangig, steigt die Relevanz der Bedeutungsgenerierung der Rezipientinnen und Rezipienten und damit der bewusst implizierten oder unbeabsichtigt mitgesendeten Bildaussagen.
Es ist spannend, dass so klare Linien und ikonische Motive die Deutung nicht unbedingt erleichtern. Klare, einfache Aussagen "You are here", Fremdzuschreibungen mit Wahrheitsanspruch, einprägsame Bilder und schlichte Farbgebung, Reduktion und Einfachheit waren schon oft Mittel von Propaganda. Der mangelnde Kontext und die verwirrende Komposition des Plakats mit einem "Kommentarfeld" versperren dem Betrachter gewohnte Mittel der Interpretation. Warum hing das da? Was soll das? "Wer will das wissen?" Wer hat das aufgehängt? Was soll mir das sagen? -- Warum soll ich etwas dazu sagen? Hä?
Und so endet dieses kleine Kunstprojekt, das mit einer Antwort auf eine Frage begann, die niemand gestellt hatte, mit einer Menge Fragen, die niemand mehr beantworten kann. Die Deutung bleibt Verantwortung des Betrachters.
Johannnes Böckmann
Kommentar
Der Appell, welcher die Farb- und Formgebung hier impliziert, ist bekannt von dem orientierungssuchenden Blick auf Stadt- oder Landkarten; Einer visuellen Darstellungsart der Verortung, der im Alltag meist Vertrauen geschenkt wird. Sie impliziert hier — und auch an jedem weiteren Standort der Betrachterin und des Betrachters — in das Zentrum eines spezifisch religiösen Symbolkonglomerats versetzt zu sein. In vielfältiger Weise Orientierung zu stiften, ist auch eine Funktion von Religionen, die hier auf den Punkt gebracht wird. Es ist eine Orientierung, die jedoch ohne den Kontext (in diesem Fall ihrer Hängung) ortslos wäre, die ihren innerbildlichen Punkt der Verortung vielleicht hier im eigenen Standpunkt der Betrachterin und des Betrachters finden soll.
Die Kommentare auf dieser Seite wurden mir freundlicherweise von Thomas Erne und Celica Fitz zur Verfügung gestellt. Sie beziehen sich nicht auf den Artikel, sondern auf das "Bilderrätsel"/Bildprojekt im Ganzen und basieren auf dem Seminar über Bildtheorie an der Universität Marburg. Die Positionierung und Reihenfolge der Kommentare auf dieser Seite wurde von mir gewählt. Mir ist die Ironie, mit einem "kleinen Kunstprojekt" einen Kommentar zur "Kommentarkultur" zu machen und darüber auf einer Seite zu schreiben, die keine Kommentare zulässt, durchaus bewusst.