Plädoyer für eine lustvolle Kirche
Herbert Marcuse hält 1950/51 eine Vorlesung über Freud an der Washington School of Psychiatry.[1] Marcuse geht es um ein radikal neues Verständnis des Eros, der bei Freud den Gegenpol zum Realitätsprinzip darstellt. Die Reaktion in der Öffentlichkeit ist verhalten. Der deutsche Freudforscher und Psychoanalytiker Wolfgang Loch jedenfalls lehnt Marcuses These, dass die Gesellschaft auf Basis des Lustprinzips neu organisiert werden kann, rundweg ab.[2] Erst in den 1960ern stößt Marcuses Neuinterpretation auf fruchtbaren Boden bei revolutionär gesinnten Studenten. Marcuse würde in dieser verspäteten Resonanz vermutlich seine zentrale und marxistische Annahme bestätigt sehen: Wie wir das Verhältnis von Realität und Lust bestimmen, hat einen historischen Index und hängt vom Stand der ökonomisch erreichten Produktivität ab. Deutschland nach dem Wirtschaftswunder ist ein anderes Land. Die Generation, die in einer prosperierenden Wirtschaft groß wird, kann mit dem Fleiß und der Sparsamkeit der Kriegsgeneration, die ja nicht nur materiell, sondern auch emotional karg war, nicht mehr viel anfangen.[3]
Lust und Realität bei Freud
Bei Freud bestimmt die Polarität von Realitätsprinzip und Lustprinzip nicht nur die frühkindliche Situation. Das Lustprinzip steht für das symbiotische Verhältnis des Säuglings mit der Mutterbrust. Der Vater dagegen bringt das Realitätsprinzip zur Geltung, die Mühsal der Daseinssorge. Für Freud durchzieht dieser Konflikt unsere gesamte Kultur. Alle sozialen Formen des Zusammenlebens, Familie, Gesellschaft beruhen nach Freud auf Triebverzicht. Ein witziges Beispiel: In der Urhorde haben die Männer ein unwiderstehliches Bedürfnis in das Feuer zu pissen. Folgten sie ihrer Lust wäre auch die Entwicklung zu höheren Formen des Zusammenlebens ausgelöscht, die an warme Mahlzeiten geknüpft ist. Das Realitätsprinzip ist daher in Freuds Lesart der notwendige Zuchtmeister der Lust. Nur wenn der Eros ausgebeutet wird, Freud nennt das sublimiert, gibt es menschliches Zusammenleben, Familie, Gesellschaft und Staat.
Realistischer Irrsinn
Übersetzt man, wie das Marcuse vorschlägt, das Realitätsprinzip mit dem Begriff der Leistung, dann wird allerdings klar, dass in einer Leistungsgesellschaft die Leistung zum Selbstzweck wird und sich die Lust auch dann unterwirft, wenn es für die Daseinsfürsorge nicht mehr nötig wäre. Wir müssten, so Marcuse, heute nicht mehr so viel arbeiten. Die Produktivität ist so gewaltig, dass eine Lockerung des rigiden Regimes des Leistungsprinzips denkbar geworden ist. Die Frage ist nur, wie wir die Ergebnisse der gewaltigen Produktivität so verteilen, dass für alle ein Leben möglich wird, das dem Eros mehr Raum gibt. Denn in der Reinform einer vollständigen Sublimierung des Eros durch Leistung wird das Leistungsprinzip selber pathologisch.
Freuds Dilemma und Lösung: Balance
Freud ist nun in einem Zwiespalt. Einerseits hält er das Realitätsprinzip hoch, weil keine Kultur ohne Triebverzicht möglich ist. Anderseits ist Freuds therapeutische Arbeit dieser Tendenz zum Triebverzicht entgegengesetzt. Er sucht als Therapeut die Spielräume seiner Patienten, die unter dem Regime des Realitätsprinzips leiden, zu erweiterten. Freuds Lösung scheint in einem Balanceakt zu bestehen, der zwischen den beiden widerstrebenden Prinzipien austariert. Ich-Stärke wäre weder im Verzicht exzessiv zu sein noch in der Lust. Wo diese Fähigkeit zur Balance zwischen sich widerstrebenden Tendenzen verloren geht, da braucht es die therapeutische Arbeit des Analytikers.
Die Radikalität Schillers
Warum kommt Marcuse in diesem Zusammenhang auf Friedrich Schiller zu sprechen? Schiller entwickelt in seinen „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ ein Konzept des Spiels, das die Grundsituation aushebelt, die Freud wie ein biologische Datum behandelt. Im Spiel wird der Gegensatz von Realität und Eros, Arbeit und Lust überwunden. Marcuse nennt das „die explosiven Eigenschaften der Schillerschen Konzeption.“[4]. Wenn das Lustprinzip im Spiel aus sich heraus mit der Realität zurecht kommt, wird die Arbeit als dominierendes Realitätsprinzip enthront. Das ist in einer hoch-disziplinierten Leistungsgesellschaft ein Tabubruch. Schiller traut dem Spiel offenbar zu eine eigene, realitätsgerechte Ordnung der Lust zu schaffen. Die Abwesenheit von äußerem Zwang, etwa der Vernunft als Anwalt der Realität, die die Lust in die gesellschaftlich gewünschte Leistung transformiert, führt gerade nicht und schon gar nicht zwingend zu wilden und barbarischen Exzessen. Vielmehr zeigt sich im Spiel so etwas wie eine Selbstgesetzgebung der Lust. Das Spiel ist ja nicht regellos, aber die Regeln kommen nicht von außen, sondern werden innerhalb des Spiels und in spielerischer Art entwickelt. Das Spiel ist gewissermaßen Lust, die sich selber ordnet, aus sich heraus, also lustvoll und spielerisch Regeln und Gesetze sucht und findet, die ihr entspricht.
Lustvolle Trieb-Ordnung
In diesem Sinn einer „nicht-repressiven Triebordnung“[5], einer Lust, die sich die Regeln ihrer Ordnung selber gibt, einer vernünftigen Sinnlichkeit, ist dann auch ein Begriff von Arbeit denkbar, der nicht nur, wie bei Freud, auf der Seite der Mühsal steht. Tendenziell lassen sich in einer hochindustrialisierten Gesellschaft körperlich schwere Arbeit automatisieren. Arbeit müsste dann nicht mehr in strengen Gegensatz zum Spiel stehen. Nicht nur die in engerem Sinn künstlerische Arbeit könnte eine künstlerische Qualität annehmen, eine lustvolle Auseinandersetzung mit einem Thema, das sich seine eigenen Regeln und Ziele gibt und zwar auf spielerische Art, ein gemeinsamen Suchen und Finden von Regeln und Zielen.
Kirche und christlichen Religion?
Welche Rolle spielt nun bei diesem Vorschlag Marcuses unser gesellschaftlichen Zusammenleben neu zu ordnen, und zwar lustvoll und spielerisch die christliche Religion und Kirche? Die Reaktionen auf Vorschläge, die religiöses Praxis als lustvolles Spiel zu begreifen, in der Liturgie, der Pastoraltherologie[6], aber auch in der Seelsorge[7] sind ja eher verhalten. Auch die Angebote von playing arts sich im lustvollen Spiel fortzubilden, lösen in der Kirche wenig Begeisterung aus.
Warum gibt es kaum Euphorie, aber viel Distanz zu Eros, Lust und Spiel in der Kirche? Freud würde vermutlich sagen, dass diese Abwehr tiefe Wurzeln im Unbewussten hat. In der jüdisch-christlichen Tradition sind beide Momente präsent: Das explosive Wissen um die Revolte gegen das Realitätsprinzip, gegen das strenge Gesetz des Vaters im Namen des Sohnes, im Namen seiner Botschaft der Liebe, das „Evangelium von Agape-Eros“[8]. Präsent ist in der Kirche aber auch die lähmende Angst, das schlechte Gewissen den strengen Vater entmächtigt zu haben und damit die Ordnung und Einheit der Familie, Gruppe, Gesellschaft aufs Spiel zu setzten. Im Blick auf die Geschichte der Kirche wird man sagen können, dass sie als Institution die Liebe der Ordnung, den Eros der Moral untergeordnet hat. Allerdings wird die Kirche als moralische Anstalt in der modernen Gesellschaft überflüssig. Das Realitätsprinzip ist aus ihr ausgewandert. An die Stelle der Kirche tritt eine ungleich effizientere Kontrolle und anonyme Steuerung unseres Verhaltens durch Leibilder, Vorbilder, Handlungsmuster, die in den Medien, vor allem im den social media geprägt werden, kaum noch in der Familie und schon gar nicht in der Kirche.
Offenbar entsteht so ein Leer-Raum, wo in der Kirche wieder die Erinnerung an die brüderlich-schwesterliche Liebesreligion wachsen kann. In welche Richtung die gegenwärtige Umformungskrise die Kirche führt, ob sie zu einem Ort der Abwehr wird oder der Kultivierung von Lust und Spiel ist offen. Ich jedenfalls setzte auf die Vision meines Tübinger Nachbarn, Friedrich Hölderlin. Ohne die Unterschiede einzuebnen wird Christus, „des Hauses Kleinod“[9] Dionysos, dem griechischen Gott des Weines und der kultivierenden Lust, brüderlich die Hand reichen.
[1] Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft (Eros and Civilisation, Boston 1955), Frankfurt (1957) 1967
[2] W. Loch, Zur Theorie, Technik und Therapie der Psychoanalyse, Frankfurt 1972, 101
[3] Vgl. Heinz Bude, Adorno für Ruinenkinder – Eine Geschichte von 1968, München 2018
[4] Marcuse, Triebstruktur, S. 188
[5] Marcuse, Triebstruktur, S. 196
[6] Vgl. Th. Klie, Zeichen und Spiel. Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktion der Pastoraltheologie, Gütersloh 2003
[7] Vgl. Therapie als Spiel bei D. W. Winicott, Playing ands Reality, NY/USA 2005
[8] Marcuse, Triebstruktur, S. 72
[9] Vgl. H.-Chr. Askani, Der anwesend-abwesende Christus in Hölderlins „Der Einzige“, in: Erne/Krüger/(Niemeck (Hg.), Das Christusbild in der Gegenwart, Darmstadt 2022, 13-37, 34.