Die theologische Großzügigkeit der Musik

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Hans Blumenbergs Matthäuspassion von Thomas Erne

1. Ästhetischer Reiz

Matthäuspassion heißt das letzte zu Lebzeiten veröffentliche Werk Hans Blumenbergs. Eine tiefgründige und leidenschaftliche Auseinandersetzung mit zentralen Themen des christlichen  Glaubens am Beispiel der Matthäuspassion[1]. Blumenbergs Buch sucht und provoziert das Gespräch mit der Theologie. Aber ohne die Musik wäre es wohl nie geschrieben worden, ohne den tiefen Eindruck, den Bachs Vertonung der Matthäuspassion auf den Musikhörer Blumenberg machte. Deshalb ist dieses Buch auch ein Lehrstück über das Verhältnis von ästhetischer und religiöser Erfahrung am Ende des 20. Jahrhunderts. Ein bedeutender Philosoph, in kritischer Distanz zu Kirche und Christentum, findet in der Musik Bachs einen Tonfall, der ihm einen erneuten Versuch mit der Theologie erlaubt – nicht umgekehrt. Das entspricht auch Blumenberg These zum Verhältnis von Ästhetik und Religion: Der neuzeitliche Hörer der Bach´schen Matthäuspassion muß offenbar tief berührt werden von der Musik, sonst wird die Theologie, die in ihr zum Ausdruck kommt, nicht virulent. Denn nicht die Musik, sehr wohl aber die Dogmatik der Passion ist unzugänglich geworden. Nirgendwo wird dies deutlicher als bei den alljährlichen Aufführungen von Bachs Passionsmusiken. Einer Gemeinde aus gläubigen und ungläubigen Hörern wird ein Geschehen vorgeführt, dessen entscheidende Voraussetzungen nicht mehr die ihren sind – und das sie sich trotzdem gefallen läßt. Denn der Gott, der in dieser Passion beleidigt wird durch die Sünde der Menschen, und zwar so übermäßig, daß nur das Opfer seines Sohnes ihm Genugtuung bieten konnte, ist nicht mehr der Gott der heutigen Hörer, weder für die Gläubigen und schon gar nicht für die Ungläubigen unter ihnen. Das ist die Situation von der Blumenberg ausgeht: Die Passion dieses Gottes und die Sünde des Menschen, die sie motiviert, sind für das moderne Bewußtsein ein „Erraticum“ geworden. Ein Fremdkörper, der sich mit nichts Vertrautem aus dem Horizont der eigenen Lebenserfahrung verbinden ließe. Dieser Bruch liegt nicht mehr innerhalb der Rezeptionsgeschichte christlicher Gehalte. Er betrifft in der Sicht Blumenbergs nicht mehr nur eine der Umformungen, die den Protestantismus seit jeher begleitete. Was für Blumenberg durch die Aufklärung und ihre Anwendung auf Texte, nämlich die historisch-kritische Methode, destruiert wurde, ist mehr als was die fundamentalistische Reaktion an ihr wahrnahm. Es betrifft, mit einem anderen Buchtitel Blumenbergs[2] gesagt, die Frage, ob diese Texte als Texte heute noch lesbar sind. Für eben diese Wörtlichkeit der  Bilder und Geschichten scheint die Theologie ihr Sensorium verloren zu haben, falls sie es je hatte. Darauf gründet Blumenbergs Spott über die Sprachohnmacht, die Theologen immer dann befällt, wenn sie von ihrem eigentlichen Thema zu reden haben.
Warum aber, so fragt man sich, soll das narrative Material der Bibel, das in der Passion eine zentrale Rolle spielt, für das heutige Bewußtsein zugänglich  sein? Wozu die Sünde Adams und das Opfer Jesu für den modernen Zeitgenossen? Müßte nicht gerade der Philosoph, der die Aufklärung bejaht, über diesen Verlust an religiösem Ballast erleichtert sein? Aber offenbar macht es gerade für den Philosophen einen Unterschied, ob diese Erleichterung noch am Ort der Passionerlebt werden kann – und dazu müßte sie nachvollziehbar sein – oder ob sie nur das Resultat einer unüberbrückbaren Distanz ist. Kathartische Erleichterung kann es nur geben, wenn zuvor das Gewicht gespürt wird und sei es nur hypothetisch. Ist also noch nachvollziehbar, was es denn bedeutet haben könnte, einen solchen Gott gehabt zu haben, der mit Blumenbergs Worten, die für uns abgelegenste Voraussetzung erfüllt, nämlich zutiefst beleidigt werden zu können durch die Menschen?  Dann erst wäre es eine Erleichterung diesen Gott nicht mehr zu haben, oder aber einen anderen, der anders geworden ist durch seine Passion.
Vollzug der Passion heute, das erschließt für Blumenberg die Musik. Bachs Matthäuspassion leistet das schier unmögliche, die dogmatischen Positionen der Passion in einer Weise zum Tönen zu bringen, daß auch in einem modernen Hörer, trotz seiner Distanz, die Bereitschaft wächst, sich diesen Gott als den seinen gefallen zu lassen, wenn auch nur für die Dauer der Musik. Musik hat etwas mit Bereitwilligkeit zu tun, Metaphern zu akzeptieren. Eine Konzessionsbereitschaft, die auch im Alltag von Nöten ist, im Fall der Passion aber auf ihre härteste Probe gestellt wird. Das geht nicht ohne ästhetischen Reiz. Wenn die Heilsnotwendigkeit der Passionsgeschichte nicht mehr evident ist, sondern ihre Relevanz für den modernen Menschen erst ermittelt werden muß, dann fragt sich, was diesen Zeitgenossen motiviert, sich auf ein Geschehen wie das der Passion einzulassen. Allenfalls der gute Geschmack, so lautet Blumenbergs provozierende Antwort. Es sind die sakralen Räume, die Rituale, die Bilder und die Musik in denen die Religion eindrücklich bleibt, auch wenn sie in ihren dogmatischen Formeln längst unzugänglich geworden ist. Erst die Ästhetik erzeugt eine Atmosphäre der Leichtigkeit, in der erstarrte Traditionen wieder verflüssigt werden können. Denn die Musik suspendiert in ihrem Vollzug eine ganze Sorte von Fragerichtungen, die sich als dogmatische Rationalisierung religiöser Vorstellungen wie deren historische Kritik identifizieren lassen. Beides verfehlt die eigentliche religiöse Dimension. Diese beginnt damit sich Metaphern gefallen zu lassen, ohne nach ihrem tatsächlichen Gegenwert zu fragen. Eine solche Konzessionsbereitschaft ist aber unter Bedingungen des historischen Bewußtseins nicht mehr ohne ästhetische Mithilfe  zu erlangen. Man könnte sagen, das Verhältnis von Wort und Ton kehrt sich in der Moderne um. In Bachs Matthäuspassion wird unter diesen Umständen das Wort durch den Ton nicht mehr begleitet, sondern überhaupt erst hörbar als beim Wort genommenes Wort. Niemand fragt sich während er die wenigen Takte des Hauptmanns und seiner Soldaten unter dem Kreuz hört, ob denn tatsächlich stimmt, was er da zu hören bekommt. Zu dieser Gutwilligkeit bedarf es der Musik, und sei es nur in dem banalen Sinn, daß sie dem Hörer keine Zwischenfragen gestattet. Musik ist in dieser Perspektive die Rettung des Textes vor der historischen Kritik, ästhetische Erfahrung folglich eine wesentliche Zugangsbedingung, um religiöse Erfahrung überhaupt noch machen zu können. Jedenfalls, sofern es sich um eine Erfahrung handelt, die nicht einfach jenseits der Arbeit an den Bildern und Geschichten der biblischen Tradition, nur aus der Existenz des Betroffenen oder aus orthodoxem Wissen gewonnen werden soll.
Wollte man diese These generalisieren, so könnte man sagen, ästhetische Erfahrung konstituiert die Rezeption religiöser Gehalte durch Zweifelresistenz. Und es ist gerade die Unbestimmtheit der Kunst, die diese Suspension des Zweifels leistet. Ein musikalisches ´Mehr´, das in Worten nie ganz zu fassen ist und wodurch der Ton die Worte transzendiert, die ihm unterlegt sind (vgl. 15). Blumenberg bietet damit eine bedeutsame Variante der Beziehung von ästhetischer und religiöser Erfahrung. Ästhetische Erfahrung ist gleichsam das Rezeptionsferment für religiöse Erfahrung. Denn Rezeption kann nicht ohne einen Spielraum an möglichen Lesarten stattfinden. Kreativität spielt sich nur in einer Streubereite von Varianten ab. Genau diese Unbestimmtheit[3] erzeugt die Kunst. Sie destruiert die Geschlossenheit einer christlichen Tradition, die durch dogmatische Bemühung um Eindeutigkeit rezeptionsresistent geworden ist. Gegenmodell zur Musik ist deshalb der Begriff, die kategoriale Eindeutigkeit, die religiöse Erfahrung in der dogmatischen Arbeit gewinnt. Wasserdichte Systeme aber lassen sich nicht rezipieren, nur repetieren. In diesem Sinn ist Blumenbergs Generalthese zum Rezeptionsproblem zu verstehen, daß „Unbestimmtheit die vielleicht letzte Chance einer Idee ist, Macht über die Geister zu behalten“ (289). Damit ist noch nichts über das Ergebnis einer erneuten Aneignung der religiösen Bilder und Geschichten gesagt. Nietzsches These vom Tod Gottes könnte sich als der Weisheit letzter Schluß erwiesen, aber nur wenn sich dieses Ende auch heute noch erzählen läßt. Dazu bedarf es einer erneuten Aufarbeitung der christlichen Tradition. Und die Möglichkeit dieser Arbeit erschließt die Musik.

2. Horizontverlust

Blumenberg geht in seiner Analyse der Matthäuspassion vom Hörer aus, seinem Horizont, der die Gegebenheitsweise der Matthäuspassion für ihn umschreibt. Dabei gibt es zwei Arten von Hörer. Den impliziten Hörer, den Bach im Blick hatte, und den möglichen Hörer heute. Horizont meint die Summe der Bedingungen, die ein Werk für einen Rezipienten bedeutsam werden läßt, ohne daß dieser Horizont an sich und jenseits der Phänomene, die durch ihn erscheinen in Erscheinung trete. Horizonte repräsentieren den geschichtlichen Zusammenhang, vor dem ein Werk seine Wirkung entfaltet. Werke erscheinen immer in solchen Horizonten, nie erscheinen sie an sich, losgelöst von ihrer Gegebenheitsweise. Und eben dieser gilt Blumenbergs Interesse. Dabei ist der Graben, den die Aufklärung zwischen den Texten der Frühzeit und dem modernen Bewußtsein aufgetan hat, was die Konstitution eines Horizontes für diese Texte betrifft, nicht tief genug anzusetzen. Für den modernen Hörer der Passionsmusik sind nämlich „die Bilder und Gleichnisse, die heiligen Geschichten und Reden, die Sprüche und Choräle der Bachgemeinde entschwunden – nicht einmal, um anderem Vergleichbaren Platz zu machen.“ (8) Für diesen neuzeitlichen Hörer, der „glaubensarm“ und traditionsverlassen, auf dieses Werk trifft, ist die Frage nicht mehr wie er diesesWerk hört, sondern ob er es überhaupt noch hören kann, jedenfalls wenn sein Höreindruck über eine punktuelle Wahrnehmung hinausgehen soll. Der Horizont für seine Rezeption müßte nicht nur umbesetzt, sondern überhaupt erst besetzt werden. Das ist zugespitzt Blumenbergs These, die in der paradoxen Metapher der Horizontabschreitung anklingt: Es bedarf keiner Variation der noch zugänglichen Deutungen – Umformungen wie sie jede Aneignung eines Werkes erfordert – es bedarf der Neubesetzung, der „Konstitution des noch möglichen Hörers als des von seiner Tradition verlassenen und doch punktuell noch erinnerungsfähigen Zeitgenossen.“ (9) Und dazu muß der Horizont dieses Hörers `abgeschritten´ werden, um zu klären, wie die Passion unter modernen Bedingungen bedeutsam werden könnte.
Dabei ist die Situation dieses modernen Hörers von einer eigentümlichen Doppeldeutigkeit, denn der Abstand zur Vorstellungswelt der Passion bringt auch Chancen mit sich. Im Gegensatz zum gläubigen Hörer, den Bach als den seinigen voraussetzen durfte, ist der glaubensarme, moderne Hörer durch nichts festgelegt als durch seinen Abstand zur Tradition. Darin liegt auch die Chance wieder ganz neu zu lernen von Gnade zu reden. Fragen des Heils, die für den Hörer der Bachzeit eindeutig entschieden sind, werden für den modernen Hörer wieder fraglich. Diese Unentschiedenheit könnte den Texten aber angemessener sein als die Triftigkeit eines dogmatisch durchgeklärten Christentums. Jedenfalls weckt die neuzeitliche Rückführung auf Unbestimmtheit das Verständnis für Risiko, das die biblischen Texte auszeichnet. Im Bestimmtheitsverlust der Moderne[4] liegt  daher auch ein Gewinn, verbunden mit der Aussicht, daß durch diese Verlusterfahrung, die Passion für einen modernen Hörer wieder bedeutsam werden, ihm sogar im gesteigerten Sinn „zur Verfeinerung der Aufmerksamkeit verholfen“ (9) werden könnte. Dem `gläubigen Hörer´ dagegen, so nennt Blumenberg den impliziten Hörer, den Bach voraussetzen durfte, ist vieles zu selbstverständlich, was sich ihm unter dem Eindruck der Passion eigentlich als kontingent erweisen müßte „Der Hörer der Passion ist, als das historische Rezeptionsorgan Bachs, gleichsam zu gläubig, um die `Kontingenz´ des Gottesknechtes mitzuvollziehen.“ (244)
Fast, so könnte man meinen, genießt der glaubensarme Hörer der Neuzeit einen heimlichen Vorzug, nämlich dem dogmatischen Wissen entronnen zu sein, das immer schon die Antwort weiß, bevor überhaupt die Frage gestellt worden ist. 2000 Jahre Christentumsgeschichte erzeugen nicht nur ein Höchstmaß an dogmatischer Bestimmtheit, sondern auch einen Zustand, wo diese Entschiedenheit umschlägt in ihr Gegenteil. Und in eben dieser Lage ist der neuzeitliche Hörer der Matthäuspassion heute. Für ihn ist die Geschichte wieder offen, so wie sie es für die Jünger war, diese Vertreter des modernen Unglaubens und der Skepsis. Gleichzeitiger könnte der moderne Rezipient den Texten der Bibel werden, und sie wieder in einem Horizont von Möglichkeiten wahrnehmen, der einen Raum für neue Aneignung eröffnet, wäre da nicht die historische Kritik, die mit ihrem Programm der Entmythologisierung verbaut, was in der Frontstellung gegenüber dem Dogma an Beweglichkeit erreicht wird.

3. Die Neu- nicht Umbesetzung des Hörerhorizonts.

Es gibt für Blumenberg eine Art von `Heiligkeit´ biblischer Texte, die nichts mit ihrer `historischen´ Wahrheit zu tun hat, sondern mit der Bedeutung, die Texte über die Jahrhunderte für Leser gehabt haben, und die sich wie eine Aura um diese Texte legen, auch um die der Passion. Blumenberg nennt diese Anreicherung den Sinnzuwachs eines Textes. Was da wächst, verdankt sich einer kontinuierlichen `Mittäterschaft der Zeit`, die auch den biblischen Text auf die Höhe der Homer´schen Epen hebt. Sinn meint in Bezug auf diese Texte eine „Konsistenz höheren Grades als etwa die der bloßen Widerspruchsfreiheit oder Wahrscheinlichkeit.“ (37). Denn dieser Sinnzuwachs bestünde eben darin, keine Fragen mehr an die historische Tatsächlichkeit dieser Text aufkommen zu lassen. Eine Art sakrosankter Dignität, die manchen Texten durch das Gewicht  ihrer Rezeptionsgeschichte zukommt. Darin ist der Sinn, der um einen Textes gewachsen ist wesentlich Überredung, ein rhetorischer Vorgang, der zum Einverständnis mit der Konsistenz des Textes als einem Ganzen einlädt. Diese Unterstellung eines Textganzen geht jeder möglichen Bedeutung des Textes für einen Rezipienten voraus.
Eben diese unerläßliche Unterstellung wird durch die Arbeit der historischen `Bibelkritik` auch für den gutwilligsten Hörer unmöglich gemacht. Dabei betrifft historische Kritik nicht den in sich spannungsvollen, durch Konstruktion und Kritik gesteuerten Sinnzuwachs der Rezeptionsgeschichte, sondern die Möglichkeit von Bedeutsamkeit von Texten überhaupt. Blumenbergs Vorwurf: Die moderne historisch kritische Exegese, die den Anspruch erhebt, das Wahrheitsbewußtsein der Aufklärung auf die Bibel anzuwenden, um sie für die modernen Zeitgenossen zu retten, zerstört die Möglichkeit, Sinn an biblischen Texten überhaupt noch zu bilden. Die basalen Voraussetzungen von Rezeption werden durch die historische Kritik destruiert, nämlich, „die Grundleistung jeder Leserschaft, die Diskontinuität des faktischen Substrats mit den subjektiven Eigenmitteln zu überwinden und sich ein gegenüber von `Subjekt´ zu schaffen.“ (22). Nur mit dieser Leistung, die Einheit des Autors zu fingieren, selbst wenn es die „Einheit und Einzigkeit des Gottessubjekts“ sein muß, kann gelesen werden. „Alles wird für den Hörer und Leser auf immer verloren, wenn er aus den Geschichten nicht mehr die eine Geschichte zusammenbringt, in der er mit dem Einen sich als einen vorkommen kann.“ (23)
Blumenbergs harsche Kritik an Bultmanns Kerygmatheologie läßt sich vor dem Hintergrund dieser Konstellation verstehen. Blumenberg teilt mit Bultmann das Problembewußtsein der Aufklärung, zieht aber daraus die entgegengesetzte Konsequenz. Bultmanns Reduktion der biblischen Botschaft auf den harten Kern des Kerygmas ist für Blumenberg eben nicht die Rettung, sondern die `frohgemute´ Preisgabe des Textes an die Maximen der historischen Kritik. Frohgemut kann Bultmanns historische Radikalität sein, weil sie das Kerygma zum Ausgleich hat. Was den Texten an narrativer Integrität durch die historische Kritik genommen wird, das wird kompensiert kraft eines Residuums, aus dem Bultmann die Inhalte nimmt, auch wenn die Texte keinen solchen mehr hergeben: dem Kerygma als einer existentiellen Wahrheit des Hörers. „`Inhalt´ kommt nicht von dem, der verkündet, sondern aus dem, der es hört.“ (218) Biblische Texte sind dann im Grunde die Widerspiegelung einer Wahrheit, die der Leser aus seiner Existenz entnimmt, nicht aber aus seiner Textrezeption. „Alle zeitgebundenen Rückfragen und Zweifel werden dem biblischen Text ferngehalten[…]Die großzügige Reduktion läßt kaum anderes als das genuine Ich bin es übrig…Sie kann es dabei bewenden lassen, weil jeder aus seiner `Existenz´ weiß, was in einer Heilsbotschaft enthalten sein muß, um seiner Sorge und Schuld zu genügen.“ (218).

4. Rettung aus dem Geiste der Musik

Ein Rückgang hinter die Aufklärung ist für einen aufgeklärten Philosophen wie Blumenberg keine ernsthafte Option. Nichts läge ihm ferner als die Repristinierung eines fundamentalistischen Tatsachenrealismus. Aber angesichts der Alternative, daß entweder alles so gewesen sein muß oder nichts so gewesen zu sein braucht, sind religiöse Texte für den Leser nur zu retten, wenn ein realistischer Umgang mit Metaphern möglich wird. Denn das verbindet die historische mit der existentialen Interpretation. Beide Positionen haben keine Verständnis für die Metapher als einer eigenständige Form des Unbegrifflichen[5]. Religion aber ist ein solcher lebenspraktischer Vollzug, wo Metaphern nicht nur als Vorform des Begriffs verstanden werden, sondern als Mittel, lebensweltliche Kontingenz zu verarbeiten. Das funktioniert aber nur, wenn den Bildern die Fragen historischer Tatsächlichkeit vom Leib gehalten werden können. Unter Bedingungen des historischen Bewußtseins ist das aber alles andere als selbstverständlich. Dazu bedarf es der Großzügigkeit der Musik, die die Fragen historischer Wahrheit nicht verdrängt, aber doch in der Schwebe hält. Die musikalische Suspension rettet den Eindruck, den dogmatische Bestimmtheit überflüssig und historische Kritik unmöglich macht. „Darin ist die Passionsmusik Erbin des Rituals: Das Symbol kann großzügig sein. Niemand fragt in das Rezitativ des Evangelisten hinein, was denn genauer gemeint sei[…]Es ist kein Angebot zu Zweifeln am Text, dem die Musik die sakrale Qualität der Unbefragbarkeit verleiht.“ (45).
Musik macht gleichsam den Text wieder begehbar. Sie ist insofern, „die Prävention aus dem Geiste der Musik gegen die heranrückende historische Vernunft.“ Unter diesen Bedingungen wäre es sinnlos „auf ästhetischen Reiz“ (9) zu verzichten. Im Gegenteil: Es ist gerade die ästhetische Erfahrung, die ein Rezeption theologischer Gehalte überhaupt erst ermöglicht, jedenfalls für einen Hörer, der die Vorstellung der Welt als Schöpfung, „bestehend aus Himmel und Erde[…]nicht mit dem Gleichmut dessen sieht, der weiß, das liege eben im Begriff Gottes.“(11)

5. Der beleidigte Gott

Nach Blumenberg ist die Ausgangsthese der Passion, so wie sie Bach und seine Hörergemeinde verstanden haben, die Auffassung, daß Gott durch die Sünde des Menschen beleidigt und durch das Opfer seines Sohnes versöhnt werden kann. Genau dieser beleidigte Gott ist wesentlich für Bachs Passionsverständnis und  kann nicht „aus den Prämissen des Werks exstirpiert werden“ (14). Müßte es dabei bleiben, wäre die Passion für den neuzeitlichen Hörer verloren, denn mit dieser Prädikation Gottes als zu beleidigender und zu versöhnender Gott läßt sich keine Vorstellung verbinden und sei sie rein hypothetischer Natur. „Ob er einen Gott hat oder nicht, ist dabei sekundär gegenüber dem Begriff, mit dem er noch erfassen kann, was es bedeutete einen zu haben.“ (15). Weil es aber kraft der Wirkung der Musik nicht bei diesem unüberbrückbaren Abstand bleibt, muß es, so Blumenbergs Folgerung, um mehr gehen, und „dieses Mehr macht in Bachs Passion die Differenz zwischen dem Wort und der Musik aus.“ (15)
Die Musik ist deshalb nicht nur Zugang, sondern selber ein wesentlicher Inhalt in Blumenbergs Passionsverständnis. Sie bringt etwas zum Tönen, gegen die begriffliche Arbeit des Textes, was diese Passion auch für einen Hörer interessant macht, der ihrer dogmatischen Position nicht mehr folgen kann. Man könnte sagen, in der Passionsmusik, wird die Passion, das Leiden und Scheitern dieses allmächtigen Gottes zu einem hörbaren Erlebnis, auch gegen die behauptete Rettung seiner Allmacht im unterlegten Text. Offenbar hat der spezifische Ton der Bach´schen Passionsmusik, sein transzendierendes Mehr in dem Realismus mit dem er das Leiden, die Konkretheit des Schmerzes zum Tönen bringt. „Bach ist groß, weil er diese Zentrierung [auf das Kreuz] an sich genommen und zum Tönen gebracht hat.“ (78). Bachs Musik ist in diesem Sinn konkreter Leidensausdruck und damit anti-doketisch, und zugleich anti-dogmatisch, nämlich individueller Ausdruck des Scheiterns  Gottes und nicht dessen Begriff. Man begreift durch die Musik nicht, warum dieser leidet, sondern man leidet selber mit. Es ist also die Musik, die Blumenberg zu seiner Ausgangsthese gegen die Prämissen des Werkes motiviert, „Der beleidigte Gott wird der gescheiterte Gott sein. Daß die Allmacht mit der Welt die gotteswürdige Intention verfehlt – und nicht schon an ihr, sondern erst in ihr zerbricht -, ist Thema der Passion.“(15) Genauer: Thema der Passionsmusik. Ein Scheitern, das sich allerdings explizieren läßt als eine neue Horizontbesetzung, die die Passion einem möglichen Hörer am Ende des 20 Jahrhunderts erschließt. Denn das Scheitern Gottes ist die einzige Form ihn für diesen Hörer noch zu retten. Es muß der Begriff des allmächtigen  Gottes scheitern, um den Geschichten Platz zu machen. Das bedeutet gerade nicht die Rettung der Theologie aus dem Geiste der Musik. Gerettet wird nur die Metapher „Gott“, ihre Bedeutung für die Selbstkonstitution des Einzelnen und den Aufbau menschlicher Kultur, nicht aber der Gottesbegriff einer Theologie, die mit ihrer begrifflichen Arbeit auf Eindeutigkeit und Wahrheit zielt.[6] Damit ist aber wieder alles offen. Der „Unfolgsame“ als der sich Blumenberg in theologischen Fragen selber bezeichnet, „kehrt gelassen zu den Texten der Kindheit und Geistefrühe zurück“ (248) mit der Ahnung einer unantastbar gewordenen Wirklichkeit, die eben die Wirklichkeit der Metaphern und Bilder ist – nichts weiter. Für andere dagegen ist das die Gelegenheit wieder neu von Gnade und Wunder zu erzählen. Bei beide aber besteht der Bedarf die Metaphern der religiösen Tradition ernstnehmen zu können, für den gläubigen wie den ungläubigen Hörer, und sei es nur um die Ahnungen der eigenen Jugend zu verstehen, daß die Furcht des Herrn seine eigen Furcht ist, die er vor seinen Geschöpfen hat (vgl. 28ff.) Aber dazu muß der Bilderreichtum, der sich mit den Gottesgeschichten verbindet für beide Hörer wieder erzählbar werden. Und das geht in der Moderne nicht ohne ästhetischen Reiz.

 


[1] Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt a. M. 1988. Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf dieses Buch. Eine Auseinandersetzung mit Blumenbergs Matthäuspassion bietet P. Behrenberg, Endliche Unsterblichkeit. Studien zur Theologiekritik Hans Blumenbergs, Würzburg 1994, 156-182

[2] Hans Blumenberg, Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a. M. 21983

[3] Vgl. zum Folgenden, M.  Moxter, Über Ungenauigkeit, Frankfurt a. M. (unveröffentlicht). Moxters Vorschlag, das Verhältnis von Unbestimmtheit und Bestimmtheit zum Thema einer theologischen Bezugnahme auf Blumenberg zu machen, folgt dieser Beitrag.

[4] Vgl. G. Gamm, Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, Frankfurt a. M. 1994

[5] Vg. H. Blumenberg, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt a. M.  1979, 75-93

[6] In einer solchen „Zurückführung auf Unbestimmtheit“, eine Art von „Remetaphorisierung“ metaphysischer Antworten, könnte die theologische Aufgabe neu verstanden werden, vgl. dazu, Philipp Stoellger, Passion und Säkularisation. Die Verborgenheit Gottes und die Gottlosigkeit der Welt als Horizont der Lehre von der Metapher bei Hans Blumenberg und Eberhard Jüngel, Tübingen (unveröffentlicht).  Damit zeichnet sich auch eine andere Fassung des Gottesgedankens ab im Sinne eines Zusammenhangs von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, von notwendigen Gottesbildern und ihrer ebenso notwendigen Destruktion.