Das ist keine Kunstreligion

Geschätzte Lesedauer 7 Minuten

Ein Gespräch mit Christian Lehnert über Literatur und die Kirche

Christian Lehnert leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut der VELKD. Er war in der Evangelischen Landeskirche Sachsen als Gemeindepfarrer tätig und veröffentlicht Essay- und Lyrikbände im Suhrkamp Verlag. Kürzlich erschien dort sein Werk “Das Haus und das Lamm. Fliegende Blätter zur Apokalypse des Johannes”. Es handelt vom Rückzug des Erzählers in ein altes kleinbäuerliches Haus im Osterzgebirge, zu dem er eine tiefe Beziehung aufnimmt. Gedanken und Beobachtungen über den rätselhaften Text der Johannesapokalypse und das Hineingestelltsein des Menschen in die lebendige Welt um ihn verfangen sich ineinander. So eröffnen sich Sprachräume, in denen sich suchende Bewegungen erheben. Johannes Böckmann hatte die Gelegenheit, an einem ruhigen Mittwochnachmittag über einem Tee und einem Kaffee mit dem Autor für uns ins Gespräch zu kommen.

Johannes Böckmann: Herr Lehnert, Sie als Dichter und Pfarrer haben gewissermaßen in dieser Doppelrolle einen Seltenheitswert in der Gegenwart, sowohl für die Kirche als auch für den Literaturbetrieb. Wie erklären Sie sich Ihren Erfolg, auf beiden Seiten ernstgenommen zu werden?

Christian Lehnert: Was ist Erfolg? In zwei verschiedenen Bereichen? Ich bin umstritten, meine Bücher polarisieren. Offen gestanden, empfinde ich meine Position weniger als eine etablierte in zwei Sphären, eher als eine, die im Zwischenraum im Unsicheren laviert. Als Dichter bin ich in der Theologie und in den Kirchen misstrauisch beäugt, bewege ich mich doch in Sprachformen, die nicht begrifflich abgesichert, nicht populär sind, die suchend und offen sind und lieber Fragen schärfen als Antworten formulieren. Mit meinen Texten mache ich mich ins Fremde auf. Sie lassen sich kaum „verwenden“. Im Literaturbetrieb stehe ich anderseits fortwährend unter Ideologieverdacht, auch sind die hermeneutischen Fenster klein, bis zur Verdunklung klein, wenn etwa die Rede vom „Dichterpfarrer“ ist. Ich werde wahrgenommen, aber ich gehöre zugleich doch nicht ganz hierhin und nicht ganz dorthin.

JB: Nichtsdestotrotz können Sie es ja so machen. Und Sie würden doch wahrscheinlich auch sagen, dass es eine gewisse Überschneidung zwischen Literatur und Religion gibt.

CL: In einem schwindenden Segment. Das hat sich in den letzten Jahren auch deutlich verändert. Als junger Autor, als ich Ende der 90er Jahre begonnen habe zu publizieren, gab es eine gewisse Neugier auch im Literaturbetrieb gegenüber religiösen Themen. Das hat sich gewandelt, und zwar massiv in den letzten zwei bis drei Jahren, seit Corona. Eine gesellschaftliche Stimmung hat sich verändert.

Der Literaturbetrieb ist deutlich religionsdistanzierter geworden. Es gibt ja eine lange deutsche Tradition der Trennung von Literatur und Kirche – das ist anders als etwa im angelsächsischen Raum mit seiner metaphysical poetry. Hierzulande spricht man mit Gottfried Benn von „Gott als schlechtem Stilprinzip“, und die Kirchen haben das lange mit spiegelbildlichem Desinteresse beantwortet. Heute, in Zeiten der Verunsicherung, stehen für die Kirche teils Fragen der Bewahrung, teils Fragen nach schnell wirksamer Popularität im Vordergrund. Da werden – wie bei einem Kranken, der sich zurückzieht – die verunsichernden Außenkontakte gemieden.

Im Kulturbetrieb wächst ebenfalls eine Generation heran, die weitaus weniger Berührungspunkte mit religiösen Fragen hatten und haben als die Älteren. Hier gibt es schlichte Bildungsabbrüche, grundlegende Verschiebungen im Interesse. Die Bereiche laufen auseinander. Andererseits werden auch die etablierten gegenreligiösen Großerzählungen, etwa von der Säkularisierung, brüchig.

JB: Würden Sie sagen, dass es für die Kirche dann eine Art Heilfasten ist? Oder ist es ein Fehler?

CL: Wer derzeit kirchenleitend tätig ist, hat meine ganze Hochachtung, denn das ist wirklich keine leichte Aufgabe. Es ist ein Handeln im höchst unsicheren Raum. Zunächst leuchtet es ein, dass man sich in Zeiten der Erosion auf die innere Substanz konzentriert. Nur steht bei den Kirchen die Frage: Worin besteht diese? Streng genommen in nichts, was wir haben – ja, nicht einmal sagen können wir es. Vielleicht ist das aber Teil der Antwort. Die ekklesia ist, so der griechische Wortsinn, „herausgerufen“. Herausgerufen aus allen Bezügen, auch aus denen der eigenen Identität.

Die Kirchen konzentrieren sich derzeit auf innere Strukturen, Organisationsformen, mediale Strategien, effiziente Öffentlichkeitsarbeit, sie docken sich an Muster der Kulturindustrie an – aber ist das ein Bemühen um die eigene Gestalt? Um die eigene Überlebenskraft? Diese besteht ja gerade darin, nicht menschlich verfügbar zu sein. Schwäche, Zerfall können theologisch gesehen die bedeutendsten Momente sein.

Die Kirche hat eine Zwittergestalt – sie ist eine weltliche Institution, und sie ist „außer sich“. So gesehen kann sie sich gar nicht zurückziehen – aber sie kann Acht geben auf die eigenen Erinnerungen, auf das Unvergessliche ihres Erscheinens, auf ihr über Jahrtausende gewordenes kulturelles Gedächtnis. Wir brauchen die Kirche nicht zuletzt als lebendige Erinnerungsinstitution.

JB: In ihrem neuen Buch „Das Haus und das Lamm“ schreiben Sie an mehreren Stellen in Klammern: „Das ist ein Behelfswort“, hat das etwas mit dieser Skepsis zu tun, mit der sich gegenseitig beäugt wird?

CL: Das kommt immer an Stellen vor, an denen ich spüre, dass ein Ausdruck erstens komplett unzulänglich ist, ich aber noch keinen anderen habe. Und zweitens der Ausdruck, den ich verwende, im höchsten Maße missverständlich sein kann. Ich spreche zum Beispiel von der „Seele des Waldes“. Das ist natürlich höchst problematisch. Gleichzeitig steckt dahinter eine Erfahrung, die beginnt Sprache zu werden, die Erfahrung, dass Natur nicht einfach gegeben ist, sondern mich immer auch schon meint, sich zeigt, etwas bedeutet, Antwort verlangt. Und dann schreibe ich: „ein Behelfswort“, und zeige damit an: Achtung, ich stehe auf einem ganz, ganz brüchigen Boden!

Literarische Texte, so wie ich Sie schreibe, bewegen sich an einer Grenze, wo die Sprache noch nicht weiß, wo sie hinführt, und also gewissermaßen ein Grenzland zu einem sprachlich unsortierten Terrain aufsucht. Es sind Ausbrüche in eine Wildnis, die es kaum mehr in der Natur, um so mehr im Innern gibt. Vornehmlich suche ich Grenzen des Menschen auf, in der Horizontalen zur nichtmenschlichen Welt, in der Vertikalen zur Transzendenz. Das geschieht notwendig im Modus suchenden Sprechens. Ich setze Worte, die nicht auf etwas weisen, was sie bezeichnen, sondern Selbstbewegungsformen sind ins Fremde. Im Grunde genommen könnte ich das bei jedem Wort oder bei jeder Figur hinschreiben: „Das ist ein Behelfswort“. – Also sie merken, es ist auch ein Ausdruck von Ängstlichkeit.

Aber es gibt dem Umstand Ausdruck, dass Sprache brüchig ist. Diese Erfahrung verbindet Poesie und Religion. In dem Moment, wo die religiöse Sprache nicht ideologisch auftritt, in dem Moment, wo sie nicht im Modus eines begrifflich sortierten Weltanschauungssystems uns entgegenkommt, steht sie ja permanent vor den Trümmern ihrer selbst, steht sie vor der unmöglichen Aufgabe, etwas sagen zu sollen, was Sie nicht sagen kann. Und dann ist sie angewiesen auf Bilder, auf lebendige Metaphern, auf den inneren Puls und Atem, auf Erzählungen, auf alle Formen, die irgendwie offene Enden haben.

JB: So liest man ja auch ihre Bücher. Also man liest eine Passage, zum Beispiel darüber, dass parasitäre Pilze Birken befallen und dann dort Wildwuchs auslösen, der letzten Endes tödlich für die Bäume ist. Und dann beobachten Sie daran etwas über das Böse, und man fragt sich als Leser, ob sie denn jetzt gerade Naturbetrachtungen machen oder ob sie das Innere des Menschen erkunden. Spielt die Frage für sie eine Rolle, was sie da eigentlich tun?

CL: Meine Naturerkundungen sind immer beides: Sie lauschen, schauen, wittern, tasten nach dem, was mir fremd entgegenkommt, also so etwas wie diesen besagten Pilzen, genauer gesagt: der Beobachtung, wie sich in alten Birken Zweiggeflechte bilden, wirres Wachstum. Warum? Die Pilze sind ja bereits eine erste Antwort, die neue Fragen auslöst … Zum andern geschieht im Sehen eine Reflexion darüber, von welchem Standort aus, von welchem inneren Ort ich das eigentlich wahrnehme und wie das eine das andere bedingt. Betrachtender und Betrachtetes lassen sich nie trennen. Dann findet sich der Pilz in einer mythischen Erzählung wieder, von der man sagen könnte, dass sie eine innere Erfindung, zumindest sekundäre Deutung sei. Aber das trifft es nicht ganz, denn auch eine mythische Erzählung ist eine Erzählung der objektiven Wirklichkeit. Sie zeigt etwas. Jede Erzählung der Welt bringt Sichtbares hervor und verbirgt anderes. Auch der Naturwissenschaftler erzählt. Immer sind beide Pole verwoben: Inneres und Äußeres, Wahrnehmen und Deuten. Man kann nicht einmal sagen, was zuerst da ist. Nur in der Abstraktion gibt es eine Trennung. Wenn ich dann, ausgehend von dem schmarotzenden Pilz über das Zimzum und die Frage nach der Herkunft des Bösen nachdenke, ist das wie eine Fortsetzung des wuchernden Myzels im eigenen Innern, im Sprachkörper. Ich versuche zu verstehen, und das heißt Nach-Sprechen, Nach-Denken, und von dort her zeigt sich mir die Wirklichkeit wieder anders. Da ist eine Art offener Zirkel, der viele Entdeckungen bereithält.

JB: Lassen Sie und kurz über ihre Biografie sprechen. Können Sie sich daran erinnern, wie Sie zum ersten Mal festgestellt haben, dass es da diesen Punkt gibt, in dem Literatur und Religion verschwimmen.

CL: Ich bin in der DDR aufgewachsen, ohne eine religiöse Sozialisation. Als ich begann zu lesen, die Dichtung und die Literatur zu entdecken, entstand merkwürdigerweise eine religiöse Frage in mir, die vielleicht nichts weiter war als die radikalisierte Infragestellung meiner bisherigen ideologischen Heimat, dem Marxismus. Ich weiß es nicht. Schreiben und diese Frage nach Gott – das trifft es vielleicht eher als das Wort „Glaube“ – waren gewissermaßen gleichursprünglich. Ich klingelte eines Abends bei einem Pfarrer, um Fragen zu stellen und er schickte mich in eine Junge Gemeinde. Die war merkwürdig offen. Ich fand eine Mixtur vor zwischen religiöser Jugend, Umweltteam, Friedensgruppe, eine Versammlung werdender DDR-Oppositionelle. Alles war für mich neu. Die traditionelle Sprache der Gottesdienste erlebte ich als Radikalinnovation, jedes Wort bedeutete hier etwas anderes, als ich bisher meinte. Die Junge Gemeinde war eine neue, nie gekannte Form freien Gesprächs. Ich wurde in einem Atemzug erweckt zur Sprache, die plötzlich ein lebendiger vieldeutiger Organismus war, zum Denken, denn die vertraute Begriffsmechanik zerfiel, wie zur religiösen Unruhe. Das bin ich nie losgeworden.

JB: Meine abschließende Frage. Was verstehen Sie persönlich unter dem Begriff „Kunst-Religion“ und was bedeutet das für ihre Arbeiten?

CL: Mit Kunstreligion verbinde ich ja reflexhaft den Namen Rilke. Bei ihm begegnet mir eine tiefe und zugleich gebrochene Religiosität, die ihren eigentlichen Ort im literarischen Text hat, als Kunstfigur, als Mystik etwa, die nicht auf Erlösung zielt, sondern auf das vollkommene Gedicht. Darin steckt eine Frage: Können Kunst und Religion so zusammenfinden, dass sie beide bei sich selbst sind? Oder anders gefragt: Können Kunst und Religion für sich, ohne das Beisein des anderen, überhaupt verstanden werden? Diese Frage ist für Rilke existentiell: Was ist ein religiöser Dichter? Also kein religiöser Versschmied, Kunsthandwerker, sondern ein Dichter. Oder ist das bereits eine unsinnige Wortkombination, „religiös“ und „Dichtung“? Dichtung verträgt keine starke begriffliche Unterordnung, Inanspruchnahme, weder weltanschaulich noch politisch. Sie ist dort lebendig, wo sie den abgesicherten Ausdruck verlässt. So gesehen, entzieht sie sich der verfassten Religion. Anderseits führt sie auf einen religiösen Kernbestand, eine Lücke im eigenen Inneren des Glaubens, einen Riss oder leere Kammer, wo die eigenen Ausdrucksformen sich als unzureichend erweisen und immer wieder transzendiert werden müssen – hin auf das unsagbare Geheimnis Gottes.

Dem Gedicht ist ein gewisses religiöses Erbe eigen. Es geht um die Sagbarkeit der Welt, um eine Sprache, die im Ausdruck sich selbst erkundet und schöpferisch ist, indem sie sprechend Wirklichkeit hervorbringt, etwa Bilder, die ich als Leser sehen kann – das ist immer wieder ein Geheimnis. In Versen schwingen immer ganz archaische Phänomene mit: Anrufungen, Beschwörungen, Zauberformeln, vor allem aber die Frage, wie überhaupt etwas sagbar wird. Das ist die DNA der Dichtung. Religiöses Sprechen und dichterisches Sprechen sind für mich an einem Punkt bleibend verwandt: Beide haben sie nicht, was sie sagen, bewegen sich ins Offene, ins Fremde. So sind Gedichte, selbst wenn sie etwas völlig anderes beschreiben als religiöse Themen, in einem gewissen Sinne religiös für mich. Und andererseits ist Religion, so rituell begrenzt, sprachlich eingehegt und traditionell bestimmt sie immer auch erscheint, eine kreative Bewegung und diese beiden Sphären sind untrennbar. Das ist keine Kunstreligion, sondern etwas anderes. Ich habe dafür kein Wort.

JB: Vielen Dank für das Interview.

Hinterlasse eine Nachricht