Das Sanctus und die Skelette

Der folgende Text ist ein Beitrag von Lisa Bartling zum ökumenischen Gottesdienst im ZKM | Karlsruhe am 22. Oktober 2023, der in der Ausstellung „Renaissance 3.0 – Ein Basislager für neue Allianzen von Kunst und Wissenschaft“ stattfand. Mit dem jährlichen Gottesdienst überschreitet das ZKM in Kooperation mit der evangelischen und katholischen Kirche bewusst die Grenzen von Museumsraum, Kunst und Institution. In diesem Jahr stand er unter dem Titel „Wege ins Freie: Wissenschaft – Kunst – Religion“.


Barbara Hammer, „Sanctus“ (1990) in der Ausstellung „Renaissance 3.0“ im ZKM | Karlsruhe, 2023 / © ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, Foto: Felix Grünschloß

 

Der Found-Footage-Film „Sanctus“ von Barbara Hammer aus dem Jahr 1990 wirkt zunächst befremdlich, gruselig oder gar morbide. „Sanctus“, das Heilige im Titel, scheint mit dem zu kollidieren, was wir sehen: Skelette – deren Sichtbarkeit wir normalerweise mit dem Tod, oder zumindest mit Knochenbrüchen oder anderen Verletzungen assoziieren.

Die Arbeit von Hammer basiert auf Filmmaterial des US-amerikanischen Arztes und Fotografen Dr. James Sibley Watson, der Anfang der 1950er Jahre das Röntgenfilmverfahren miterfand. Hunderte Menschen hat er mit diesem Verfahren durchleuchtet und auf diese Weise sonst unsichtbares sichtbar gemacht – nämlich Innenansichten des lebendigen, menschlichen Körpers bei ganz alltäglichen Handlungen: Skelette legen Lippenstift auf, rasieren sich, trinken aus einem Glas. Ein mittlerweile 70 Jahre altes Filmverfahren, und dennoch sind das für uns noch immer höchst ungewohnte, irritierende Bilder.

Hammer schneidet ausgewählte Filmsequenzen zusammen, verätzt einzelne Sequenzen, spiegelt, spult sie zurück oder collagiert sie – und vor allem fällt die lebhafte, bunte Farbigkeit auf, die sie den Aufnahmen gibt. Sie ist fasziniert von diesem wissenschaftlichen Verfahren aus der Radiologie – davon, wie es uns die Funktionalität und Komplexität, aber auch die Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers enthüllt. Ebenso zieht sie die besondere Ästhetik der Röntgenaufnahmen in ihren Bann – womit es ihr nicht anders geht, als Watson, dem Urheber des Rohmaterials, der nicht nur Arzt und Wissenschaftler, sondern auch künstlerisch ambitioniert war. Ein eindrückliches Beispiel dafür, dass künstlerisches und wissenschaftliches Arbeiten keine konträren Motivationen sein müssen.

In der Arbeit „Sanctus“ sehen wir also Skelette, aber sehen wir tatsächlich Tod oder Verletzung? Eigentlich nicht. Vor allem sehen wir lebendiges Leben, wie faszinierend der komplexe menschliche Körper selbst bei den alltäglichsten Handlungen funktioniert. Wir bekommen ein Gespür für das Wunder des Lebens und der Lebendigkeit, was die leuchtenden Farben zu unterstreichen scheinen. Und doch drängt sich, auch aufgrund der medizinischen Assoziationen, unweigerlich das Bewusstsein um die Fragilität und Vergänglichkeit des Lebens auf, das vor diesem Hintergrund unendlich wertvoll, ja, geradezu heilig erscheint. Hat die Künstlerin ihr Werk deshalb mit dieser feierlichen „Sanctus“-Komposition von Neil B. Rolnick unterlegt?

Das „Sanctus“, das „Heilig“, ist bis heute ein Teil der katholischen Messe. Dieser liturgische Gesang soll die Erhabenheit und Herrlichkeit Gottes zum Ausdruck bringen. Viele Komponisten setzten dieses Thema um, etwa Beethoven in seiner „Missa solemnis“, auf deren „Sanctus“ die elektro-akustische Interpretation von Rolnick möglicherweise basiert.

„Heilig“, das heißt in Barbara Hammers „Sanctus“ „wertvoll“ oder „schützenswert“ und meint den lebendigen menschlichen Körper. Dabei bleibt diese Arbeit für die Künstlerin selber ein zweischneidiges Schwert: Erst die zerstörerische Röntgenstrahlung ermöglicht die Sichtbarmachung des Schönen und Faszinierenden; die Technologie ist hier Moment der Erkenntnis und der Zerstörung zugleich.

„Sanctus“ erinnert uns daran, dass die Lebendigkeit allen Lebens ebenso wertvoll wie zerbrechlich ist. Und dass Wissen und Technologie mit Weisheit eingesetzt werden wollen.

Die Ausstellung „Renaissance 3.0 – Ein Basislager für neue Allianzen von Kunst und Wissenschaft“ kann nach Verlängerung noch bis zum 25. Februar 2024 besucht werden.