Was verbindet den großen Kirchemusiker Johann Sebastian Bach mit seinen Kolleg:innen, die heute diesen Beruf ausüben? Alle spielen sehr sehr viel Bach. Und was unterscheidet sie? Bach spielt seine eigene Musik. Der heutige Kirchenmusiker tut das nicht.
Was würde sich ändern, wenn das anders wird? Das war die zentrale Frage einer Zukunftswerkstatt zur Kirchenmusik, die von Franz Danksagmüller von der Musikhochschule Lübeck und Bernd Schwarze, Pastor an Kulturkirche St. Petri geplant, organisiert und durchgeführt wurden. Kooperationspartner waren die Regensburger und Weimar Kirchenmusik. Denn auch die Kirchenmusik spürt die Veränderungen in der Gesellschaft und die Umformungskrise der Kirche. Man muss sich nur den Reputationsverlust der Orgel vor Augen führen. Die Königin der Instrumente wird von den Zeitgenossen nicht mit innovativen Klangwelten in Verbindung gebracht, mit wenigen Ausnahmen, etwa St. Peter in Köln oder die Orgel in der Martinskirche in Kassel. Orgeln gelten vielmehr als Inbegriff vergangener Musik und eines traditionellen Gemeindegesangs.
Dominik Susteck, ehemaliger Organist in St. Peter Köln und Tobias Hagedorn, Komponist elektronischer Musik, sägten kräftig an diesem Voruteil bei einem der Workshops in der Lübecker Kirche St. Jacobi. Im Dialog von analogen Pfeiffen und digitalen Synthezierklängen enwickelten sie ein sinnlich-intellektuelles Abenteuer, das in unbekannte Klangwelten führte.
Christoph Hönerlage und seine Schola entstaubten einen Musikstil, der wie kein anderer für musikalische Stagnation steht. Mit wenigen Handgriffen wurde unter seiner Leitung aus der Gregorianik, einem strengen einstimmigen Psalmgesang, eine klangvolle mehrstimmige Gruppenimprovisation. Steven Heeleins Komposition „du stellst meine Füße auf weiten Raum“ mit Texten von Rilke und Emil Cioran beteiligte das Publikum so leise wie möglich an einer Suchbewegung entlang einer feinen Linie, wo die Töne und die Stille sich berühren.
Da wächst eine Generation von Kirchenmusisker:innen heran, die from scrach, vom ersten Semester an komponiert und die Werke von Buxtehude, Bach, Reger bis Messiaen nicht nur studiert, um sie virtuos zu reproduzieren. Die alten Meister sind vielmehr Begleiter auf dem Weg zu einem eigenen Stil, einen gegenwartigen, authentischen Ausdruck, der den Verstand beschäftigt und das Herz berührt. Die neue Kirchenmusik, die in Lübeck, Weimar, Regensburg unterrichtet wird, ist experimentell, schöpferisch, suchend, an der Grenze des Sagbaren und Hörbaren. Es ist eine dezidiert zeitgenössische Kirchenmusik, wie sie es einst auch bei Bach war.
Doch wechselt damit die neue Kirchenmusik nicht von einer Außenseiterposition zur nächsten? Statt sich an die Pflege einer erschöpften christlichen Musiktradition zu binden, wird sie Teil der nicht minder marginalisierten musikalischen Avantgarde? Franz Danksagmüller, der in Lübeck das Profil „Improvisation Komposition Neue Medien“ (IKN) im Bachelor Kirchemusik vorstellte, würde widersprechen. Die umkämpfte Konfliktlinie zwischen Pop und Avantgarde hält er für überbetont. Entscheidend ist die Frage, ob die Produktion oder die Reproduktion im Zentrum der Ausbildung und des neuen Berufsbildes steht. Ist dieses Zentrum produktiv besetzt, ist vieles möglich, Rock, Pop, Techno oder Jazz, wie Carlo Maria Barile und Gerwin Eisenhauer virtuos vorführten. Die Stilrichung ist sekundär, wenn ein authentischer Ausdruck von etwas Neuem entwickelt wird.
Soll diese neue Musik jedoch in Kirchen erklingen, musss sie sich dem Anspruch der Räume stellen. Die gewaltigen Kirchen in Lübeck erheben einen eigenen Anspruch mit ihrer Akustik, ihre Weite, ihrem Licht. Kirchenräume wollen das Daseins der Menschen weiten. Musik, die in diesen Kirchen erklingt, muss daher zu dieser inneren Weitung und Selbsttranszendenz beitragen, so wie der Evensong von Sarah Proske für Sopran (Sarah Proske), Saxophon (Paul Steinert), Orgel (Maja Vollstedt) und Chor.
Kirchen, die über beeindruckende Räume, Kunst und gute Orgeln verfügen, werden eine Zukunft haben. Es sind Räume der Daseinsweitung als ein Ereignis der Architektur, des Lichts, der Bilder und einer neuen zeitgenössischen Musik. Da wäre es doch eine gute Idee, wenn es auch die Theologie ein Profil für religiöse Textkomposition, liturgische Improvisation und Medien (TIM) entwickelt. Denn die Krise im Berufsbild der Pfarrer:innen hat sich analog zu der im Berufsbild der Kirchenmusiker:innen entwickelt. Eine Reproduktion gehärteter theologischer Positionen, die sich tapfer und frontal dem Zeitgeist in den Weg stellt, wird nicht helfen. Vielmehr muss auch im Theologiestudium die produktive Seite ins Zentrum gerückt werden. Das Moment der Divination, des Experimentellen, des Schöpferischen, das einem eigenen, authenischen religiösen Ausdruck dient, kann nicht nachgelagert werden auf eine spätere Phase der Ausbildung. So als müsste ein Musiker 12 Semester Musikgeschichte studieren bevor er sich an ein Instrument setzt. Die Dominanz der Reproduktion historischen Wissens unterschätzt ja auch die Bedeutung der produktiven Arbeit an einem zeitgenössischen, religiösen Ausdruck für die Aneignung der historischen Wissensbestände.
Kirchen werden eine Zukunft haben, wenn dort Architektur, Kunst, neue Musik gemeinsam mit der christlichen Religion der Weitung unseres Daseins dienen. Dazu müsste die Theologie im Zusammenspiel mit den Künsten lernen ihre Botschaft neu zu sagen. Religion, die beim Nullpunkt beginnt, nennt Bernd Schwarze diese produktive Neufindung. Und für Friedhelm Mennekes, der auf dem Symposion in Lübeck seinen Weg einer schöpferischen Spurensuche nach dem zeitgemäß Religiösen in der Kunststation St. Peter in Köln nachzeichnete, liegt die Leistung der Kunst in einer Atmosphäre der Leere und Weite, ohne die eine religiöse Weitung im Inneren nicht entstehen kann.