Geht man an der Nordseite der Stadtkirche Schorndorf vorbei, stößt man am Übergang von Chorkapelle zum Kirchenschiff auf eine hohe Skulptur aus dünnen weißen Eisenstäben. Sie bildet von oben nach unten sich verbreiternd die drei Buchstaben OMG, die Anfangsbuchstaben des umgangssprachlichen Ausrufs „Oh, my God“, der Erstaunen, Verblüffung oder Entsetzen ausdrückt. Wer “Oh mein Gott“ ruft, ist sich in der Regel nicht bewusst, was er oder sie damit sagt. Es ist eine Floskel, an der die Wurzeln, die sie mit der Gebetsprache verbindet, nur noch lose herunterhängen.
Die Skulptur von Oliver Braig knüpft diese Verbindung wieder neu. Auf der einen Seite rückt er seinen filigranen Buchstabenturm dicht an das Mauerwerk der Kirche, wo „Oh, mein Gott“ seinen Ort im Gebet der Psalmen hat. Auf der andere Seite zeigt die Skulptur in einen abgelegenen Winkel, so als sei die ins Floskelhafte abgesunkene Alltagsprache eine solche Nische in der die biblische Tradition ihr öffentliches Dasein fristet. Geht man weiter um die Kirche herum, stößt man auf dem südwestlichen Vorplatz auf eine Skulpturengruppe von Christoph Traub. Zehn Stelen erinnern an die zehn Hingerichteten des Bauernaufstandes Armer Konrad, die an dieser Stelle 1514 enthauptet wurden. Man sieht den Torso, den Rumpf ohne Kopf. Eingeritzt wie ein Tattoo in die Haut sind Vornamen der Enthaupteten. Während Transparenz und Leichtigkeit das Wortgitter von Oliver Braig auszeichnet, macht Christoph Traub die Dinglichkeit des Körpers spürbar, das Fleisch wie Luther sagt. Das verletzliche und vergängliche Fleisch verbindet uns mit der Natur, der Erde, aus der wir Menschen sind, zu der wir wieder werden und aus der wir hoffentlich eines Tages auferstehen.
Die Skulpturen auf der Nord und der Westseite stehen in keinem unmittelbaren Zusammenhang. Was sie verbindet, ist jedoch die Kirche. Zum einen strebt die Gotik nach Transparenz. So viel Licht wie möglich, so wenig Material wie nötig. So kommt es zur minimalistischen Skelettbauweise der Gotik, die heute auch das Bauprinzip modernen Architektur ist. Die Auflösung der Materialität dient in der Stadtkirche als Symbol für die Immaterialität Gottes. Die unsichtbare Quelle des Lichtes soll ungehindert in der Kirche alles zum Leuchten bringen, ohne selber sichtbar zu sein. Das verbindet die Kirche mit der Skulptur von Oliver Braig. Auch diese zeigt in ihrer Transparenz das Unaussprechliche in der Sprache. Das Wortgitter „Oh my God“ öffnet, gegen das Floskelhafte des Ausdrucks, einen Leerraum in den Worten, der mit Worten nicht zu fassen ist. Zum anderen ruht die immaterielle Dimension der Stadtkirche auf materiellen Grundlagen. Die kühne Bauidee, soviel Licht wie möglich und so wenig Material wie nötig, lässt sich nur verwirklichen, wenn sie in der Natur, der Erde gegründet ist, die dieser Idee gegenüber verschlossen bleibt, obwohl sie das Bauwerk verlässlich trägt. Auch der menschliche Geist kann seine kühnen Ideen und weitausgreifenden Gedanken nur leben, wenn er verlässlich in der Natur, dem Körper aus Fleisch und Blut gegründet ist. Wird dieses Band mit der Natur gewaltsam zertrennt wie bei den Opfern des Bauernaufstandes, dann zeigt sich an der stummen Verschlossenheit des Torsos der menschliche Geist, der diesem Leib genommen wurde.
Geradezu idealtypisch verkörpern daher die Skulpturen von Olivier Braig und Christoph Traub diese beiden Prinzipien, den immateriellen Geist und seine materiellen Basis, die Natur, die beim Bau der Stadtkirche in ihrer heutigen Form formgebend waren.