Künstler des Monats – Joseph Beuys

Geschätzte Lesedauer 4 Minuten

 

 

Ein Künstler heute

muss ein denkender Künstler sein.

Giuseppe Sinopoli

BEUYS – Sympoiese von Mensch und Welt

Am 12. Mai 2021 jährt sich der Geburtstag des Künstlers Joseph Beuys zum einhundertsten Mal. Vor fünfunddreißig Jahren, am 21. Januar 1986, starb Beuys im Alter von 64 Jahren im Kreis seiner Familie in seinem Atelier in Düsseldorf an Herzversagen. Seine Asche wurde am 14. April 1986 von dem Motorschiff „Sueño“ (deutsch: „Traum“) der Nordsee übergeben.

 

Joseph Beuys hinterließ ein über die ganze Welt ausgebreitetes Universum seiner immer noch und immer wieder beeindruckenden Kunst, seiner Installationen und Objekte mitsamt der zahllosen, sie auf vielfältige Weise referierenden Fotografien, Aktions-Filme, Skizzen-Bücher, kunstwissenschaftlichen Aufsätze und Forschungsarbeiten, Feuilletonartikel und Ausstellungskataloge. Dieses Universum seiner Werke, ihrer medialen Verbreitung und Rezeptionen verkörpert die sichtbare Substanz seiner Kunst.

Ihre unsichtbare Substanz möchte ich hier in gebotener Kürze zur Sprache und zur Erinnerung bringen. Und zwar deshalb, weil diese in der vorherrschenden Rezeptionspraxis, die sich vor allem auf das sichtbare Werk bezieht, so gut wie keine Rolle spielt – obwohl Beuys immer wieder darauf hingewiesen hatte, dass seine Multiples, Objekte, Installationen, Diagramm-Tafeln und Zeichnungen lediglich Medien oder Vehikels seines „Kunst erweiternden Denkens als Kunst“ zu verstehen sind. Dasselbe gilt für seine Aktionen und für sein größtes Kunstwerk, den „Erweiterten Kunstbegriff“.

Kreativität

Beuys kritisierte die traditionelle Auffassung von Kunst und ihre Lehre an der Akademie. Er erklärte sie für überholt. Denn er sah sich als Kunststudent und danach als Freischaffender Bildhauer immer wieder dazu gezwungen, seine Kreativität überkommenen Sehgewohnheiten und einem akademischen Regeln folgenden Erzeugen von Bildwerken zu unterwerfen.

Kreativität in der Kunst war für Beuys jedoch mehr als die Fähigkeit, bildgestalterische Probleme zu lösen. Sie war für ihn erlebbarer Ausdruck der Potenzialität des Menschen – genauer: des menschlichen Geistes. Sie war für ihn Quelle sowohl seines wissenschaftlichen als auch seines künstlerischen Arbeitens und auf alles bezogen, was die reale Existenz der Menschen seiner Zeit ausmachte.

Kunsterweiterung

Was er von der damals vorherrschenden Kunst der Klassischen Moderne annehmen konnte, war ihr Prinzip der Autonomie – der Autonomie im Sinne der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des künstlerisch tätigen Menschen und seiner künstlerischen Praxis und somit der Autonomie des Werkes gegenüber der Welt. Dieses Prinzip der Autonomie der Kunst aber war für Beuys nur der erste Schritt hin zu einer zeitgemäßen Kunst. Den zweiten Schritt sah er in einer ihm als historisch notwendig erscheinenden Erweiterung der Kunst, deren praktische Verwirklichung in die Kunstgeschichte der 2. Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eingegangen ist.

Seine Kunsterweiterungsthematik bestand – vereinfacht gesagt – darin, das Prinzip der Autonomie der Kunst der Klassischen Moderne um das Prinzip der Verantwortung der Kunst für Welt und Leben zu erweitern. Wo und wann immer Beuys sich in seinem Schaffen politisch, ökologisch, therapeutisch oder pädagogisch äußert, ging es ihm einzig und allein um die Hervorbringung eines entsprechenden Kunstkonzepts. Um die theoretische und praktische Erarbeitung des Begriffs einer die Kunst der Nachkriegsmoderne erweiternden Kunst – und zwar: als Kunst.

 

Sympoiese

Mit dieser Erweiterung der Kunst, und durch diesen Prozess hindurch, wollte er die Menschen mit sich selbst, ihrer Welt, ihrem Leben, ihrer Kultur und Gesellschaft in eine bewusste, produktive Beziehung bringen: durch ein Üben von Wahrnehmungsbewusstheit in der Begegnung und im Austausch mit diesen Wirklichkeitsebenen und -bereichen. Die stärkste Ausprägung dieser Erweiterungspraxis sehe ich in der Tatsache, dass Beuys im Hervorbringungsprozess seiner Kunst sich selbst hervorbrachte, indem er sich in das durch sie eröffnete widerspruchsvolle Spannungsfeld zwischen Mensch und Welt, Individuum und Gesellschaft, Kunst und Politik, Kultur und Ökonomie, Ökonomie und Ökologie hineingestaltete – und zwar als Subjekt dieses selbstbildenden Geschehens.

Diesen Zusammenhang wechselseitiger Hervorbringung von Künstler und Werk oder Mensch und Welt als Kunst bezeichne ich – in Anlehnung an Humberto Maturana und David Bohm – als Sympoiese.

Sie geschieht, indem ein Mensch seine Wahrnehmungsfähigkeit für die damit angesprochenen elementaren ökologischen, ökonomischen und politischen Lebenszusammenhänge ausbildet und dadurch lernt, sich selbst als einen aktiven Teil von und in ihnen wahrzunehmen und zu begreifen, sein personales, ich-perspektivisches Bewusstsein auf diese Höhe zu transformieren: „die Evolution fortzusetzen”, wie Beuys sagt. Denn diese vollzieht sich schon lange nicht mehr vor allem eigengesetzlich. Vielmehr ist sie inzwischen in Umfang und Qualität von unserer Lebensform und -weise bestimmt – dem Anthropozän, dessen Ökonomie dabei ist, die Biosphäre der Erde zu zerstören.

 

7000 Eichen – Kunst der Sympoiese von Mensch und Welt

Die Verantwortung für eine Umkehr dieses ungebremst vonstatten gehenden Prozesses macht bis heute die ethische Qualität der Kunst von Joseph Beuys aus. Verantwortung aber ist eine Haltung, die der Bildung bedarf, einer Bildung, die auf ein engagiertes zivilgesellschaftliches Bewusstsein zielt, das die Notwendigkeit der Hervorbringung einer anderen Ökonomie und Politik erkennt und zu einem entsprechenden Umlernen in Vollzügen des Wahrnehmens, Denkens und Handelns motiviert.

Als ein solches Umlernen vollzog sich bei Joseph Beuys sein experimentierendes Fundieren und Etablieren seiner Kunst zwischen 1957 und 1967. Die hieraus während der Siebziger Jahre hervorgegangenen Installationen und documenta-Beiträge 1968, 1972 und 1976, seine Teilnahme an der Biennale in Venedig 1976 und eine Retrospektive im Guggenheim-Museum in New York 1979 brachten ihm und seiner Kunst eine bis in die Gegenwart anhaltende internationale Aufmerksamkeit und Anerkennung.

Für die documenta 7 1982 schuf er seine erste und einzige, Raumgrenzen aufhebende und sich organisch in die reale Welt hinein verfügende Großinstallation. Sie bestand aus zwei Naturelementen: aus einer keilförmig angelegten Halde von 7000 Basaltstelen und einer entsprechenden Anzahl Baumsetzlinge. Jeder Basaltstele war ein Baum zugeordnet, überwiegend Eichen. Das aktionskünstlerische Konzept dieser Installation sah vor, dass beides, Baum und Basaltstele, an dafür vorgesehenen Stellen innerhalb und außerhalb des Kasseler Stadtgebiets von engagierten Bürgern gesetzt resp. gepflanzt werden. Mit jedem gepflanzten Baum nahm die monumentale Basaltstelenhalde an Höhe und Umfang ab, bis der letzte der 7000 Bäume vier Jahre später, Ende Juni 1987, gepflanzt war. Beuys verstand sein Werk als eine „Soziale Skulptur in actu“ oder auch als „Wärmezeitmaschine“.

In meinen Augen ist 7000 Eichen ein von Beuys, stellvertretend für den Menschen, veranlasstes, sich horizontal und vertikal in den biosphärischen wie in den sozialkulturellen Lebensraum hineinbewegende wie hineinwirkende Sympoiese von Mensch und Welt.

 

 

Zum Autor:

Dr. Hans Raimund Aurer, geboren 1945 in Mannheim | Schriftsetzerlehre, danach Studium der Visuellen Kommunikation, der Kunstpädagogik, Kunstgeschichte, Politischen Ökonomie und Philosophie | Promotion bei Prof. Gert Selle und Prof. Rudolf zur Lippe | Forschungsgebiete: Sympoietische Bildung, Integrative Pädagogik und Psychologie | bis 2009 Lehrtätigkeit an Gymnasien und den Universitäten Essen, Flensburg und Bremen im Bereich Ästhetische Bildung sowie in der Lehrerfortbildung und außerschulischen kulturellen Bildung | freier Autor und Künstler

 

Vom Autor zum Thema Beuys / Sympoiese erschienen:

„Bildung des Wandels – Bezüge und Ebenen sympoietischen Lehrens und Lernens“, 2013, Logos Verlag Berlin

„Lernen ist intensives Leben – Umrisse einer Bildung, die von den Menschen ausgeht und für ein Dasein befähigt, das Zukunft hat“, 2. Auflage 2019, Logos Verlag Berlin

„Joseph Beuys – Kunst der Sympoiese von Mensch und Welt im 21. Jahrhundert“, 2021, Logos Verlag Berlin (erscheint voraussichtlich am 1. August 2021)

 

Illustrationen: © Aliaa Abou Khaddour

Aliaa Abou Khaddour, geboren 1978 in Damaskus (Syrien) | Illustratorin und Künstlerin| lebt und arbeitet in Kassel