Olivier Messiaen Saint Francois d´Assise. Stuttgarts Wiedergeburt aus dem Geist des heiligen Franziskus?

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Schon einmal war diese Stadt das Ziel hochgespannter Erwartungen: “Mit heiligem Laub umkränzt erhebet die Stadt schon/Die gepriesene, dort leuchtend ihr priesterliches Laub.” Am 9. Juli 2023 um 14 Uhr leuchtet in Stuttgart jedoch nichts, nur die Gluthitze des Kessels. Das “glückliche Stutgard”, das Friedrich Hölderlin preist, findet man allenfalls in den vollklimatisierten Räumen des Großen Hauses.

Verwandlung

Hier erwartet die Zuschauer zwar nicht der mit heiligem Laub umkränzte Gott Dionysos, aber immerhin acht Szenen aus dem Leben des Heiligen Franziskus in Musik gesetzt von Olivier Messiaen. Und es erwartete sie eine Verwandlung. Aus Zuschauern soll im Laufe von acht Stunden Oper eine Gemeinde werden, die sich miteinander auf den Weg macht, angetrieben von der Sehnsucht nach gemeinschaftlicher Entgrenzung.

Titus Engel und das Staatsorchester Stuttgart, Foto: Martin Sigmund

Pilgerweg

Und das wörtlich: die Operngemeinde wandert nach den ersten drei Tableaus, die auf der Bühne des großen Hauses Franziskus beim warming up für seine finale Verklärung zeigen, hinaus und hinauf zur Freilichtbühne auf dem Killesberg. Jeder mit einem MP3-Player und der Musik des wanderenden Engels im Ohr, verschiedene Engel im Gebüsch inklusive.

Am Ziel des Pilgerweges, der Freilichtbühne, lauscht dann die Operngemeinde der Vogelpredigt des Heiligen Franziskus unter freiem Himmel, Rotkehlchen, Turteltauben, Mönchsgrasmücken, Zaunkönig, Kuckuck und, besonders passend zu Stuttgart, der Pirol, französisch Loriot, auch “Bülow-Vogel” genannt.

Oper als Gemeindehaus?

Und das Operhaus? Es übernimmt “die traditionelle Rolle des Gemeindesaals”, während das Ensemble zum Gastgeber wird “im Geiste des Unsagbaren”, so der Intendant der Staatsoper Viktor Schoner. Das zeigt sich vor allem am Abend, nach der Rückkehr von den Vögeln, den staunenswerten Vermittlerinnen des Unsagbaren. Das Finale im Opernhaus hat es numinos in sich. Der Chor, dem Messiaen die Stimme Gottes anvertraut, geht, kriecht, umkreist, bedrängt Franziskus auf zwei schrägen, sich spiegelnden Ebenen. Wie ein Megaphon verstärkt das Bühnenbild den wuchtigen Chorklang und schiebt ihn in den Zuschauerraum hinein.

Saint Francois: Michael Mayes, Staatsopernchor Stuttgart Fotos: Martin Sigmund

Geblendet von der Überfülle der Wahrheit

Hier komponiert Messiaen überwältigende Musik für eine überwältigende Erkenntnis. Durch die Welt, die ist, weil Gott, der Logos sie sich denkt, blendet Gott uns mit der Überfülle seiner Wahrheit. Man denke nur an die unüberschaubare Vielfalt an Vögeln und ihren unüberschaubar vielen Klängen, die Messiaen zutiefst fasziniert haben. Hier kommt alles zusammen zum Tremendum, einer tiefen Erschütterung durch das Heilige, die Musik, der Text und das gewaltige Bühnenbild von Susanne Gschwender, ein gelbes Rhizom, das sich über die herankriechende Gottestimme und den niedergegestreckten Franziskus herabsenkt.

Staatsopernchor Stuttgart, Statisterie Staatsoper Stuttgart, Staatsorchester Stuttgart, Fotos: Martin Sigmund

Schlichter Text

Doch so nahe am Heiligen ist die Inszenierung selten in diesem acht Stunden. Denn so komplex die Musik von Messiaen ist, so schlicht  ist der Text. Richard Wagners Parsifal, das Referenzwerk der Gattung kunstreligiöser Erlösung hat da ein anderes Niveau. Wagners Anspruch war es den Kern der Religion dadurch zu retten, dass er die religiöse Wahrheit befreit aus ihrer dogmatischen Umklammerung und sie in der ästhetischen Form des Gesamtkunstwerks wieder erkennbar macht. Bei Messiaen wird diesem Anspruch nur die Musik gerecht, die eine entgrenzende Klangfülle mitunter eine überwältigende Wucht oder kaum greifbare Zartheit entfaltet. Die Musik lässt weitaus mehr Tranzendenzerfahrungen zu als der Text, der die katholische Lehre der Heiligen, der congregatio sanctorum des Credo widerspruchslos mit naiven Szenen bebildert.

Erlösung durch Verwesung?

Das Mißverhältnis von Musik und Text ist auch Anna-Sophie Mahler, der Regisseurin aufgefallen. Sie versucht gegen die katholische Botschaft des Textes die Natur als großes Mysterium in den Vordergrund zu schieben. Beuys Hase, ein Zitat aus Schlingensiefs Parsifal, das die Oper eröffnet, das Rhizom des Schleimpilzes im Finale, die Engel als Königsanbeterinnen und Fransziskus Auffahrt in den Himmel als Libelle sind natürliche Prozesse der Verwesung und Verwandlung. Reichen diese Naturbilder um Messiaens Franziskus als eine Art von ökologischen Heiligen einem modernen Publikum zu erschließen? Der katholische Stadtdekan Christian Hermes war jedenfalls nicht überzeugt. Ihm war die Inszenierung zu wenig katholisch. Daraus ergab sich eine öffentlich ausgetragene Kontroverse in der Stuttgarter Zeitung mit Intendanten der Staatsoper, Viktor Schoner über das Verhältnis von Oper und Kirche. Und das Publikum? Das wird es vermutlich umgekehrt gesehen haben. Die Inszenierung wird ihm zu nachsichtig gewesen sein mit einem Text, dessen theologische Prämissen in weiten Teilen obsolet sind, auch für den liberalen Katholizismus.

Transzendenz im Plural

Ist nun die  Stuttgarts Wiedergeburt aus dem Geiste des Heiligen Franziskus in der Staatsoper gelungen? Jedenfalls versucht die Oper eine Sehnsucht nach Daseinsweitung zu befriedigen, die bisher das Alleinstellungsmerkmal der Kirche war. Denn genau dies, was Viktor Schoner in seiner Antwort auf Christian Hermes als Aufgabe der Oper bezeichnet, war bisher die Aufgabe des sonntäglichen Gottesdienstes: “die Sehnsucht in unseren westlichen Stadtgesellschaften nach gemeinschaftlichen Momenten des Rituals (zu befriedigen) … nach emotional herausgehobenen, mit anderen geteilten Erlebnissen”. Deshab greift die Oper auch zu den großen religiösen Stoffen, der Johannes-Passsion im vergangene Jahr und jetzt Saint Francois. Sie tut dies, weil es den großen Kirchen immer seltener gelingt die Stadtgesellschaften für eine religiöse Auslegung dieser Stoffe zu gewinnen. Denn die Oper greift diese Stoffe auf mit den Mitteln der Kunst. So tritt die Oper in Stuttgart neben die Kirche als ein alternativer Ort der Entgrenzung. Transzendenz gibt es in modernen Stadtgesellschaften offensichtlich im Plural. Eine ästhetische Weitung des Daseins, die innerhalb der Sinne bleibt, bietet die Oper. Eine religiöse Daseinsweitung, die  auch noch die Kunst umfasst und überschreitet, bieten die christlichen Kirchen. Gemeinsam ist Oper und Kirche das große Ziel das Dasein der Stuttgarter Stadtgesellschaft in einem gemeinsamen Erlebnis zu weiten. Kein Wunder also, dass es in dieser Konstellation zu Überschneidungen und großen Gemeinsamkeiten, aber auch zu Konkurrenz und Konflikten kommt. Beides ist ein Gewinn für eine Stadtgesellschaft wie Stuttgart.

Olivier Meassiaen, Saint Francois D´Assise

Saint François d’Assise von Olivier Messiaen Oper in drei Akten und acht Bildern, Libretto vom Komponisten, Musikalische Leitung: Titus Engel, Regie: Anna-Sophie Mahler Bühne: Katrin Connan, Kostüme: Pascale Martin, Choreografische Mitarbeit: Janine Grellscheid, Video: Georg Lendorff, Licht: Bernd Purkrabek, Dramaturgie: Ingo Gerlach, Chor: Manuel Pujol, Saint Francois: Michael Mayes, Der Aussätzige: Moritz Kallenberg, Bruder Léon: Danylo Matviienko, Bruder Massée: Elmar Gilbertsson, Bruder Elie: Gerhard Siegel, Bruder Bernhard: Marko Spehar, Bruder Sylvestre: Elliot Carlton Hines, Bruder Rufin: Anas Séguin, Staatsopernchor Stuttgart, Statisterie Staatsoper Stuttgart, Staatsorchester Stuttgart, Fotos: Martin Sigmund