Realitätsüberschreitung in Christian Petzolds Film Wolfsburg

Geschätzte Lesedauer 12 Minuten
von Thomas Erne, Filmtagung Ev. Akademie Hofgeismar
„Auf der Suche nach Deutschland. Die Filme Christian Petzolds als Parabel zeitgenössischer Existenz“ vom 20.-22. November 2009, Leitung: Prof. Dr. Karl Prümm/Marburg und Studienleiterin Dr. Heike Radeck/Hofgeismar
Vortragstext (c) Thomas Erne

1. Gott im Kino?

Sollte es also wahr sein, dass Gott tatsächlich und gelegentlich im Kino zu sehen ist? Der Film also das Medium einer umfassenden Realitätsüberschreitung ist, die umfassender nicht gedacht werden kann? Gott, die umfassende Realität der Realität, im Film zu sehen? „Mitnichten!“ Ich höre schon den Zwischenruf des Philosophen Robert Spaemann. Gott kann überhaupt nicht im Kino sein, und das Kino folglich auch nicht zu einer umfassenden Realitätsüberschreitung taugen, weil Gott das Kino ist.

2. Gott ist das Kino

Gott, so Spaemanns[1] Argument, das er aus Platons Höhlenkino herausdestilliert, ist die Quelle alles Sichtbaren. Alle und alles, die ganze Welt, der ganzes Kosmos – göttliche Filmleinwand!
Gott, der Projektor, Gott der Filmstreifen. Und weil das Medium hinter seine Botschaft zurücktritt, damit überhaupt etwas zu sehen ist, deshalb ist Gott in seinem Universal-Film nicht zu sehen. Sonst gäbe es nämlich nichts zusehen, keinen Film, nur einen ratternden Projektor und Streifen aus Celluloid. Gott, so Robert Spaemann, ist kein Ereignis innerhalb der Kette von Ereignissen. Er ist keine prima causa. Er ist das nie zu sehende Außerhalb, in dem alles Sichtbare, also auch jeder Kinofilm seinen Grund hat, ohne dass dieser Grund ein Teil der sichtbaren Welt ist.
Spaemanns Argument hat den Charme der Kürze. Die Frage nach der Realitätsüberschreitung im Filmschaffen Christian Petzolds wäre beantwortet, bevor sie ernsthaft gestellt ist. Die eigentliche Realitätsüberschreitung ist die religiöse und sie zeigt sich nicht, auch nicht im Kino. Im Blick auf dieses umfassende Außerhalb sitzen wir immer noch im Höhlenkino Platons und sehen allenfalls die Bilder eines göttlichen Außerhalb. Dieses Außerhalb, die alles umfassende Realität, Gott, sehen wir nicht.
Aber was passiert dann im Kino? Was treibt die Menschen vor die Filmleinwände vermutlich in deutlich größerer Zahl als vor die Altäre? Und warum strömen sie verwandelt wieder aus den Kinos heraus, beglückt oder zu Tränen gerührt, nachdenklich, irritiert, ja manchmal auch wie betäubt, aber nie unberührt?
Meine These, die ich im Blick auf Christan Petzolds Film Wolfsburg plausibilisieren will, lautet: Kino und Kirche sind beides Orte der Realitätsüberschreitung. Im Film wie im Gottesdienst geht es um die Erfahrung von Transzendenz, um irritierende und um beglückende Weitungen unseres Daseins. Darin sind sich Kino und Kirche ähnlich. An beiden Orten überschreitend Menschen ihre Gegenwart. Aber sie tun es in unterschiedlichen Stilen der Transzendenz[2], einem eher stark religiösen Stil, der mit einem Unsichtbaren im Sichtbaren rechnet und einem eher schwach-ästhetischern Stil, der mit seiner Überschreitung des Alltags im sinnlich Anschaulichen bleibt, so wie es in den Filmen von Christian Petzold der Fall ist.

3. Weltzweifel

Was kann Überschreiten der Realität heißen? Ich möchte drei Weisen vorschlagen wie wir unseren Alltag transzendieren. Sie lassen sich in Christian Petzolds Filmen wiederfinden lassen, ohne dass ich damit behaupte den Formenreichtum des Transzendierens erschöpft zu haben.
Zum einen überschreite ich die Realität, wenn mir das Vertraute unvertraut wird.

Eine Schlüsselszene ist für mich die Szene in Smoke mit Harvey Keitel. Das Drehbuch ist von Paul Auster. Der Zigarrenhändler zeigt dem Schriftsteller seine Photoalben, Dutzende von Ordnern voller Photos von demselben Ort zu selben Tageszeit, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Der Schriftsteller blättert, schaut irritieret auf Harvey Keitel und sagt: „Das ist doch immer dasselbe“. Und der sagt: „Schau länger hin“. Den zweiten, gedehnten Blick nennt das Walter Genazino. Selbigkeit ist  nicht Identität. Und ganz allmähliche öffnen sich die Augen des Schriftstellers für das Unbekannte im Bekannten. Er sieht die feinen Unterschiede: Wolken, Licht. Am Ende sieht er das Bild seiner verstorbenen Frau, die er an dieser Straßenecke zum letzten Mal gesehen hat – und bricht in Tränen aus.

4. Weltvertrauen

Überschreitung der Realität kann aber auch heißen: das Unvertraute wird mir vertraut gemacht[3]. Auch so überschreite ich die Realität in Richtung auf  mir unbekannte Dinge. Ich denke da an eine religiöse Schlüsselszene für das Vertraut-Werden des Unvertrauten, die Namensgebung im Paradies (Gen 3). Gott lädt den Menschen ein allem in der Welt einen Namen zu geben. Namen schafft Weltvertrauen. Eine benannte Welt ist eine vertraute Welt.
Solche Realitätsüberschreitung, man könnte sie Weltzweifel und Weltvertrauen nennen,  findet sich im Kino und in der Kirche, aber in unterschiedlichen Stilen. In der Kirche in einer umfassenden und komplexen Weise, die zwar „on the long run“ das ganze Leben, sogar die ganze Welt verwandelt, aber von dieser Verwandlung nicht alles zeigen kann, jedenfalls jetzt noch nicht. Im Kino dagegen ist der Besuch auf eine angenehme Weise anschaulicher – und auch folgenloser. Natürlich muss ich auch im Kino man Risiken und Nebenwirkungen rechnen. Ein Film kann mein Leben nachhaltig verändern. Aber der Kontrakt, den ich beim Lösen einer Kinokarte unterschreibe, sieht nur vor, dass ich schaue und im Schauen alles habe. Und nicht, dass ich das Gesehene auch noch durch Konsequenzen in  meiner Lebenspraxis ratifiziere.

5. Transzendenz ohne Religion: Wolfsburg

Welchen Charakter hat nun die Realitätsüberschreitung in den Filmen Christian Petzolds?

Neben vielen filmischen Vorzügen hat Wolfsburg von Christian Petzold für mich als  Theologen den großen Vorzug, dass der Film auf Religion verzichtet. Jedenfalls explizit, bis auf eine kleine, und wie ich meine, marginale Ausnahme: das Kreuz am Straßenrand, an der Stelle, wo Philipp das Kind angefahren hat und wohin Philipp nach der Tat noch zweimal zurückkehrt. Beim zweiten Mal richtet er das Kreuz wieder auf und verharrt einen Moment in einer Haltung, die an ein Gebet erinnert – aber er betet nicht. Dieser Verzicht auf explizite Religion in Wolfsburg ist ein Vorzug, weil so, anders als in anderen Filmen wie etwa in Vaya con Dios keine Verwechslungsgefahr besteht. Der Blick wird frei für die spezifisch filmische Überschreitung der Realität, also das, was ich den ästhetischen Stil der Transzendenz im Unterscheid zum religiösen Stil nennen möchte.
Was sind nun in Wolfsburg Momente einer Realitätsüberschreitung? Der erste Aspekt ist die narrative Form des Films selber. Dass der Film Wolfsburg erzählt, streng und schnörkellos, aber eben erzählt, sehr präzise und formvollendet, das ist bereits eine Überschreitung der Realität. Denn die Realität erzählt keine Geschichten. Realität ist ein unbestimmter Strom des Bewusstseins aus Gedankenfragmenten, Erinnerungsfetzen, Momentaufnahmen, flüchtigen Gefühlseindrücken. Eine Geschichte erzählen bedeutet, diesen fragmentierten Strom des Bewusstseins in einen Zusammenhang bringen und die Einzelheiten in Richtung auf ein Ganzes zu überschreiten.
Robert Musil hat mit abwertendem Unterton, die narrative Form eine „perspektivische Verkürzung des Verstandes“ genannt. In seinem Roman, „Der Mann ohne Eigenschaften“ lässt er seinen Helden Ulrich sagen „Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler.“[4] Sie ordnen ihr Leben, sie machen sich mit dem Unvertrauten vertraut, indem sie die Bruchstücke mit einem erzählerischen roten Faden durchschießen. Der Kunstgriff liegt dabei in den unscheinbaren temporalen Verknüpfungen – und dann, und dann, und dann. Aus dem Strom des Bewusstseins wird so ein Lebenslauf. Geschichten stiften Weltvertrauen. Das Kleine wird groß und das unbegreifliche Große, wie die Schuld am Unfall eines Kindes wird klein, weil es in weite Ferne gerückt wird. Musil hat diese Vertrauen schaffende Form der Realitätsüberschreitung mit Unbehagen erfüllt. Seine Alternative ist der Zweifel an der Rundung. Das Zerbrechen der Form führt ins Offene, ein Mann ohne Eigenschaften, der frei wie ein Fisch im unbestimmten Strom des Bewusstseins schwimmt und auf Zusammenhänge, vollendete Form, Ganzheiten verzichtet. Aber auch diese Offenheit der Form muss erzählt werden. Das ist Musils eigenes Narrativ, der Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, der gegen die narrative Rundung erzählend ankämpft und Fragment geblieben ist.
Der Film Wolfsburg erzählt nun seine Geschichte so, dass er die beiden narrativen Formen der Realitätsüberschreitung, Transzendenz, die im Zerbrechen jeder Form liegt und Transzendenz, die in der Rundung der Form liegt, also Weltzweifel und Weltvertrauen, miteinander verschränkt. Eine Welt zerbricht für Philipp, den Täter und für die Laura, die Mutter des Opfers. Beide versuchen verzweifelt die zerbrochene Welt wieder zu runden. Und beide ahnen, dass ihnen dies nicht gelingen wird. Sie müssen ins Offene, aber sie ahnen auch, dass ihnen ohne neues Weltvertrauen nie mehr etwas gelingen wird.

6. Schema-diskrepantes Ereignis

Die Geschichte in Wolfsburg beginnt nicht im „canonic story format“. Exposition, Konfrontation, Auflösung, das nach David Bordwell[5] der Ablauf einer Geschichte strukturiert, wenn sie im Genre des  amerikanischen Unterhaltungsfilms erzählt wird. Vielmehr bricht zu Beginn des Films, „out of nowhere“[6], in die Welt Philipps ein unberechenbares Ereignis ein. Religiös würde man an dieser Stelle eine Offenbarung einsetzen, die Stimme Gottes, etwa im brennenden Dornbusch. In Wolfsburg, der Autostadt, ist es ein Stoß auf die Stoßstange. Während Philipp ins seinem RO 80 mit seiner Verlobten am Telefon streitet, spürt er, als ihm das Telefon auf den Boden fällt, an der Stossstange eine Schlag. Es ist dieser Schlag, der sein Leben verändert. Er hat durch den Blick in die Tiefe des Fußraumes ein Kind überfahren. Er sieht im Rückspiegel das Kind neben seinem Fahrrad liegen, zögert einen Augenblick, und dann begeht er Fahrerflucht. Dieser Schlag wird ihn am Ende aus seiner bisherigen Welt herausschleudern. Intakt ist diese Welt allenfalls im Sinn einer fraglosen Gewohnheit mit der Philipp Wagner sein Leben lebt mit einer egozentrischen Freundin und einem langweiligen Verkaufsjob im Autohaus, das ihrem Bruder gehört. Die Beziehung ist zwar desaströs, der Berufsalltag starr und kalt, die Geselligkeit bemüht. Aber würde man die Akteure in Philipps Welt fragen, sie wüssten nicht, wo da ein Problemsein sollte.

Sozialpsychologen nennen den Unfall mit Fahrerflucht ein „schema-diskrepantes Ereignis“. Schema diskrepant sind Ereignisse, auf die die Muster der Konfliktbewältigung nicht mehr anwendbar sind, mit denen ein Mensch sein Leben bewältigt. Es sind Ereignisse, die „den Selbstwert der Individuen bedrohen […] und bei den Betroffenen den Wunsch wecken, die Ungewissheit zu reduzieren oder ganz zu beseitigen.“[7] Mit den Worten Musils: es sind Ereignisse die sich einer perspektivischen Verkürzung nicht fügen und einer Rundung des Daseins widersetzen. Und in der Tat kennt Philipp nur einen Gedanken: Wie kann er dieses Ereignis, dass er weder ungeschehen machen noch zu ihm stehen kann, durch die perspektivische Verkürzung in die Ferne schieben, so dass seine Welt wieder rund wird? Bis zum Äußersten ist er bereit für das erneuerte Bündnis mit der Welt, aus der er kommt. Sogar zur Heirat mit der Frau, die er nicht liebt.

7. Schuld und Sühne

Realitätsüberschreitung im Film muss nicht nett sein. In Wolfsburg ist Transzendenz schrecklich. Der Weltzweifel kommt über Philipp durch die Schuld am Tod eines Kindes. Der Geniestreich des Films ist die Idee, Laura, die Mutter des toten Kindes und Philipp, den Täter, zusammen zu bringen. Die beiden verlieben sich, ohne dass die Mutter weiß, wenn sie vor sich hat. Philipp weiß es, kann es ihr aber nicht sagen. Es gibt mindestens zehn Anläufe Philipps die Schuld auszusprechen. Am Ende des Films, bevor er mit Laura am Strand schläft, schließt sie ihm den Mund mit dem ersten Kuss.

Zwei Menschen, die aus ihrer Welt herausgefallen sind und durch den tragischen Unfall aneinander gekettet werden. Die Schuld des Mannes nährt die Rache der Frau. Rache wie Verdrängung sind Versuche das schema-diskrepante Ereignis, den Tod des Kindes, ungeschehen zu machen, wieder zurück zu finden in das verlorene Weltvertrauen, obwohl es keine Rückkehr gibt.

8. Distanz in Zeiten der Not

Es gibt ein mythisches Moment in diesem Film, die Kreisfigur der Wiederkehr des Gleichen, Schuld die verdrängt zu neuer Schuld führt – und so weiter. Das technische Äquivalent ist das Auto, mit dem Philipp das Kind überfährt. Ein RO 80 wird von einem rotierenden Motor, einem Wankelmotor, angetrieben wird. In Inneren dieses Wagens herrscht eine Kreisbewegung, keine Reihenbewegung wie beim Ottomotor. Schuld, die verdrängt zu neuer Schuld führt – und so weiter. Und als dann in der Liebe zwischen Philipp und Laura neues Weltvertrauen entsteht, entdeckt die Mutter, wenn sie vor sich hat. Sie muss selbst das Ungeheuerliche aussprechen: „Du warst es“, dann sticht sie zu. Das Auto kommt von der Fahrbahn ab und überschlägt sich, bleibt zertrümmert auf einem Acker liegen. Philipp liegt mit einem geradezu erlösten Gesichtsausdruck unter dem Auto, so als sei die Last des Wagens, der wie das materielle Substrat seiner moralischen Schuld auf ihm liegt, eine Geringes gegenüber der Erleichterung, dass seine Tat endlich ausgesprochen ist, wenn auch nicht von ihm, so doch von Laura.  Doch die Frau überlässt Philipp nicht seinem Schicksal, so wie er es mit ihrem Kind getan hat, sondern greift zum Telefon, alarmiert den Notarzt. Und dann erst geht sie und verlässt den Mann, den sie eben noch liebte. Und der Drehmotor im RO 80 ist zerstört, der Kreislauf ist unterbrochen. Das ist kein Happy Ende. Aber es ist ein Moment der Distanz, der Unterbrechung eines Schuld-Rache Kreislaufes.  Diese minimale Verschiebung, ein Zögern, das den Impuls zur Rache bei Laura unterbricht, ist eine Form der Realitätsüberschreitung. Keine Erlösung, aber ein Ausweg, eine minimale Überschreitung von üblichen Handlungsmustern.

Das Zögern, die Distanznahme zu seinen eigenen Wünschen, Ideologien, Fixierungen ist schließlich der dritte Aspekt einer Realitätsüberschreitung in Wolfsburg. Weltzweifel, Weltvertrauen und Weltdistanz. So würde ich diese drei Aspekte ästhetischer Transzendenz nennen. Der Film, seine Geschichte, vor allem aber seine Bilder, sind eine Art von „Abstandspraxis“. In Zeiten großer Not gibt es zwar keine Rettung, aber es gibt die Möglichkeit zur Distanz. Eine innere Distanz gegenüber dem unmittelbaren Handlungsimpuls bei Laura sich zu rächen, eine ästhetische Distanz durch die Bilder, die nicht nur etwas zeigen, sondern zugleich zeigen wie sie etwas zeigen. „Medium awareness“ gehört zu den „ästhetischen Abstandspraktiken, die es ermöglichen oder erleichtern, sich aus der Fixierung nur auf sich selber zu befreien.“[8]Indem der Film jede vorschnelle Identifikation mit der Wirklichkeit verhindert, jede vorschnelle Identifikation mit einer der handelnden Figuren,  auch jede vorschnelle Beurteilung oder Belehrung, lädt er ein zur Distanz und überschreitet so die egomane Fixierung, dass die Welt für mich sein muss, was ich wünsche, intakt und rund oder auch zerbrochen und formlos.

9. Realitätsüberschreitung in der Kirche

Was wäre nun eine religiöse Überschreitung der Realität?
Auch das wird in Wolfsburg deutlich. Es ist das, was im Film nicht vorkommt, vermutlich, weil die Protagonisten es überhaupt nicht mehr kennen, oder nicht daran glauben, dass es so etwas geben kann, oder auch nicht wollen, dass es so etwas geben sollte, weil sonst das Leben, so wie ist es mit seiner Schuld, seinem Leid und seinen minimalen Lösungen verharmlost wird.
Ich meine das Verlangen nach Erlösung. Erlösung, die radikal von Schuld befreit, ist eine religiöse Kategorie, denn sie setzt eine Macht voraus, die umfassend ist und von Schuld befreit, die wir uns und anderen nicht vergeben können. Es ist eine interessante Überlegung, wie der Film ausgegangen wäre, hätte er mit Erlösung gerechnet. Erlösung wäre eine Chance gewesen, die Philipp zur Umkehr bewegt haben könnte, in diesen kurzen Moment, in denen er inne hält, den Wendepunkten, die er nicht nutzt, beim Blick in den Rückspiegel, bevor er am Telefon auflegt als er die Polizei anruft, auf dem Gang des Krankenhauses. Umkehr hätte bedeutet: Aussprechen der Schuld. Bitten um Vergebung – aber wer hört noch zu? Dazu bedarf es offenbar nicht nur eines starken Gegenübers und eines starken Glaubens, sondern eines Zuhörers. Die Verlobte in der Badewanne wehrt ab – „ich bin doch nicht dein Müllplatz“ – als  Philipp ihr gestehen will, was geschehen ist.
Wer um Vergebung bittet, wird ein anderer, wer anderen vergibt auch. Mit diesem Aussprechen von Schuld beginnt die religiöse Realitätsüberschreitung. Ego te absolvo a peccatis tuis in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti, so heißt die Formulierung in der christlichen Beichte. Vergebung ist gebunden an einen transzendenten Referenten, bezogen auf eine umfassendere Wirklichkeit, auf Gott, der von Schuld befreit. Das ist eine starke Annahme, die ein starkes Weltvertrauen zu Folge haben kann, aber auch starke Weltzweifel, weil Gott ja alles andere als unstrittig ist, auch nicht für die, die an ihn glauben.

Für diese starke Transzendenz, eine religiöse Realitätsüberschreitung, die mit einer Vergebung von Schuld rechnet, ist in Wolfsburg vielleicht auch deshalb kein Platz, weil die Protagonisten wie die meisten Zuschauer die schwächere Transzendenz für die stärkere halten [9]. Es ist doch zutiefst anrührend wie die beiden Figuren ihr Leben ohne einen Bezug auf eine transzendente Instanz leben. Am Ende wirken Philipp und Laura nicht erlöst, aber auf eine eigenartige Weise gelöst, so als hätten sie sich mit dem, was sie einander an Leid und Schmerz angetan haben, auch gegenseitig von einer Schuld befreit.
Menschen können in der Welt nur dann frei werden und frei bleiben, wenn sie einander immer wieder befreien.  Es ist genau diese minimalistische Transzendenz einer ambivalenten und fragilen Befreiung zwischen Menschen die unserem Lebensgefühl entgegenkommt. Die starke Transzendenz der Religion tut sich dagegen schwerer. Sie es mit verschiedenen Zumutungen verbunden, die ihr nicht auszutreiben sind.  So wäre der religiöse Stil in Wolfsburg  etwa konfrontiert mit der Frage der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt. Wie kann ein Gott Philipp seine Schuld vergeben, wenn er an am Tod des Kindes beteiligt ist? Und doch wäre es ein Verlust, wenn der religiöse Stil, das Verlangen nach Erlösung und starker Transzendenz, in einer säkularen Kultur verschwände, weil die heute „kulturell verfügbaren religiösen Symbole“ kaum noch  als gültige Ausdruck der eigenen Lebenserfahrung“[10] wahrgenommen werden.
Hinter die Attraktivität cineastischer Realitätsüberschreitung wie sie Christian Petzold eindringlich und präzise vor Augen stellt, kann die Kirche daher nicht zurück. Kino wie Wolfsburg ist ein exemplarischer Lernort, wenn die Kirche mit den großen Fragen nach Schuld und Sühne, die  auch die ihren sind, wieder Anschluss finden will an das Lebensgefühl in der Moderne. Denn in einem Kino, wie es Christian Petzold vertritt, wird die Art und Weise beschrieben wie heute die großen Fragen im Alltag vorkommen können. Nun gilt aber auch umgekehrt, dass auch der religiöse Transzendenzstil ein Gewinn sein könnte für dieses Kino. Die abendländische Kultur- und Mediengeschichte wurde vorangetrieben durch ein Ringen um Ausdruck für das komplexe Ineinander einer umfassenden Realität der Realität. Ein Film kann folglich gewinnen, wenn er sich an die Grenzen des Sichtbaren wagt und die starke Transzendenz der Religion in die Exploration mit einbezieht wie im heutigen Lebensalltag Realität überschritten wird.


[1] Vgl. Robert Spaemann, Am Anfang. Warum es nichts als vernünftig ist, an Gott zu glauben, DIE WELT, 31. Dezember 2004; www.welt.de/print-welt/article361349/Am_Anfang.html   

[2] Vgl. M. Seel, Ist eine rein säkulare Gesellschaft denkbar?, in: K. P. Liessmann [Hg.], Die Gretchenfrage, Wien 2008, 61-81.

[3]  D, Baecker, Wozu Soziologie? Berlin 2004, 199

[4] Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, hg.v. A. Frisé, Hamburg, 1978, 650.

[5] D. Bordwell, zit bei J. Hermann, Sinnmaschine Kino, Gütersloh 2001, 90.

[6] Quentin Tarantino, Regisseur von Pulp Fiction, zit. bei H.-H. Schneider, Pulp Fiction oder: Was Filme im Innersten zusammenhält, in: M. Laube (Hg.), Himmel”>

[7] C. Dalbert, Über den Umgang mit Ungerechtigkeit, 1995, 189.

[8] M. Seel, Ist eine rein säkulare Gesellschaft denkbar? 2008, 77

[9] Vgl.  M. Seel, Ist eine säkulare Gesellschaft denkbar? 2008, 76

[10] M. Jung, Erfahrung und Religion, Freiburg 1999, 393.