Künstler des Monats – Tizian Baldinger

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Jeder und jede von uns kennt sie: Lebenssituationen, die uns ausweglos erscheinen oder aus denen wir Auswege suchen. Bedürfnisse und Gelüste, die gestillt werden wollen. Wünsche, in die wir uns hineinträumen und uns in Gedanken ausmalen, wie es sein wird, wenn wir sie in Zukunft umsetzen werden.

Für Tizian Baldinger sind sie der Ausgangspunkt seiner künstlerischen Arbeit. Mit einer Vielzahl künstlerischer Ausdrucksformen wie Installationen, Performances, Assemblagen und Videos entwickelt er künstlerische Werke, die voller Vitalität und Humor sind und doch einen ernsten Kern enthalten.

Beispielhaft hierfür sind zwei Arbeiten mit dem Titel “Homeless Artist”, die 2015 entstanden sind. Baldinger befand sich in diesem Jahr in einer prekären Situation. Er war wohnungslos. Zugleich erhielt er weiterhin Einladungen zu Ausstellungsbeteiligungen, die er annahm, um die Ausstellungsräume temporär zu bewohnen. So entstanden improvisierte Behausungen in Form eines strandmuschelförmigen Zeltes und eines kleinen Hauses mit Schrägdach, die seine Handschrift trugen. Sie waren aus Pappe bzw. Holzbalken und Folie konstruiert und wurden mit Alltagsgegenständen wie Paletten, Schlafsäcken, Obstkisten, Plastikbechern und Lichtern ausgestattet. Hinweisschilder und Hauswände trugen die Aufschriften “HOMELESS ARTIST”, “I DON’T CARE ABOUT THE FUTURE” und “PLEASE WATCH THE DOG”, “ART IS VERY MUCH OVERRATED”. Baldinger war selbst in den Behausungen anwesend und wurde selbst zum Kunstwerk oder hinterließ Kleidung und Schlafsack als Spuren seines Körpers. Die liebevoll eingerichteten Behausungen haben somit etwas Einladendes und Bedrückendes zugleich erhalten.

Mit welchem Künstlerbild werden die Ausstellungsbesucher*innen hier konfrontiert? Der Künstler wird zum Überlebenskünstler - eine Situation, die etwa 300.000 am Existenzminimum lebende Künster*innen in Deutschland betrifft.

Und dennoch: Ein Jahr später glaubt Baldinger wieder an Einhörner und eine strahlende Zukunft. “I BELIEVE IN UNICORNS” und “THE FUTURE IS BRIGHT” erstrahlt es poppig in Regenbogenfarben und leuchtendem Blau in der Assemblage und der Skulptur mit denselben Titeln. Baldingers Oeuvre umfasst eine ganze Reihe an Lichtbildern und Lichtobjekten, die freche Botschaften vermitteln. Die Schrift ist spontan mit Acryl auf Plexiglas aufgetragen, das mit einer farbigen, meist diagonal angebrachten Leuchtstoffröhre, hinterleuchtet ist und von Holzleisten getragen wird.

Das Licht als Material, das sowohl an triviale, bunt beleuchtete Spielcasinos wie an erhabene mit göttlichem Licht durchdrungene Kathedralen erinnert, wird von Baldinger so eingesetzt, dass es in seinen Bildern Farbfelder und in den Objekten (blinkende) Konturen erzeugt. Ist die Diagonale in den Bildobjekten möglicherweise eine indirekte Hommage an den Minimal-Künstler Dan Flavin, der sich in seinem Schaffen primär mit dem industriell erzeugtem Licht als Phänomen und seiner Ausstrahlung in den Raum beschäftigte?

Der gebürtige Schweizer Tizian Baldinger greift in seinen Arbeiten wiederholt christliche Symbole auf, die ihm aus seiner Kindheit sehr vertraut sind. Bei einer Google-Recherche fand Baldinger heraus, dass Jesus etwa 3 Stunden am Kreuz gehangen haben soll. Das war der Ausgangspunkt für ein 180 min langes Video, in dem der Künstler, mit einem Lendenschurz bekleidet, an einem Kreuz aus Holzbalken hing. Das Motiv des Paradieses taucht bei Baldinger wiederholt auf. Zuletzt entstand im Foyer der Hochschule für bildende Künste (HfbK) in Hamburg, an der Tizian Baldinger 2012-2018 bei Anselm Reyle studierte, eine 7,5 m hohe Installation mit dem Schriftzug PARADISE. Betonstahl, Leuchtstoffröhren und Stromkabel bilden einen blinkenden Tempel, in dem eine hell erleuchtete Figur im Schneidersitz mit erhobenen Armen sitzt. “Follow me, my children, into paradise. Leave your earthly sorrows behind. Find the truth in art”, hallt es durch den Raum. Statt Palmen und Pfauen ragen überdimensionale Cocktailschirmchen aus dem Dach des Tempels und Flamingos zieren ihn auf filigranen Stahlsockeln.

Die Kunstwelt als Paradies der Freiheit; der Künstler als Heilsbringer, der seine Rezipienten von Sorgen und Pessimismus befreit und ins ewige Kunstparadies führt, in dem sie sich dem wahren Genuss zuwenden können. Ist das Werk PARADISE ein Resumée Baldingers bisheriger Eindrücke als junger Künstler, das ironisch die “freien” bildenden Künste thematisiert?

Auf seine Reise durch die Kunstwelt nimmt Tizian Baldinger gelegentlich zwei Begleiter mit: einen Fuchs und einen Falken. Einem Schamanen gleich bedeckt er in Performances und Videoaufnahmen sein Haupt mit einem Fuchsfell, als ob er sich die ihm zugeschriebenen Eigenschaften aneignen wollte. In Fabeln ist der Fuchs schlau und listig, im Hohen Lied (2,15) verwüstet er den blühenden Weinberg, der für den Glauben steht. Der Falke, der ausgestopft mit aufgespannten Flügeln in Installationen oder Videos auftaucht, steht symbolisch für den Himmel und galt im alten Ägypten als Beschützer des Sonnengottes Re.

Ob Tempel, Haus, Schriftbild oder Performance - Baldinger nutzt Materialien wie Betonstahl, Holzbalken, Plexiglas, Leuchtstoffröhren, Pappe, Stromkabel oder Draht. Mit diesen alltäglichen Materialien aus der Bauindustrie stellt Baldinger einerseits eine Brücke zwischen Kunst und Leben her und kratzt andererseits an den Toleranzgrenzen der Betrachter*innen. Denn alltägliche Materialien im Kunstkontext erregen weiterhin die Gemüter, auch wenn Ready Mades, Müll und Stahl seit dem frühen 20. Jahrhundert und Marcel Duchamps Urinal renommierte Ausstellungsräume eroberten. Sie “berühren die Aura der würdigeren Nachbarn” aus Leinwand und Marmor, rufen niedere Konnotationen hervor, verschieben Grenzverläufe zwischen High und Low und stören damit den Kunstgenuss, fasst die Kunsthistorikerin Monika Wagner zusammen.

Der Balanceakt zwischen POP, Erhabenheit, Industrie und Natur gelingt Tizian Baldinger mit Leichtigkeit. Wir dürfen gespannt sein, wie die Reise durch die Kunstwelt weitergeht.

www.tizianbaldinger.com

Text: Dorothea von Kiedrowski

Abbildungen: Tizian Baldinger, Alexine Rodenhuis, Kerem Güman