Das Paradies ist eine Polonaise

Geschätzte Lesedauer 6 Minuten

Die Hölle, das Purgatorium und das Paradies. Ja, und das Martyrium der 10 000, ein Heer bekehrter Ritter, das für seinen Glauben stirbt. Das müsste doch reichen. Das müsste reichen als Anknüpfungspunkte für einen jungen Theologiestudenten, dachte ich mir als ich im D-Zug von Tübingen nach Kassel fuhr, in den 1970er Jahren eine strukturschwache Stadt an der Zonengrenze. Es müsste reichen um ein wenig Eindruck zu machen mit einer erhellenden religiöse Deutung der Werke Adolf Buchleiters (1929-2000), krasser Kunstaußenseiter, der ich war. Es war ja auch nicht wirklich die Kunst, die mich nach Kassel trieb. Es war die Liebe zu einer Kunststudentin, die im 4. Stock der Kunsthochschule an der Aue an ihrer Abschlussarbeit saß unter Buchleiters kritischen Augen.  Dort arbeitete ein kleiner Kreis. Zugang hatte zwar im Prinzip jeder Kunststudent. Doch es war als stünde unsichtbar über der Tür eine Regel, die nicht jedermanns Sache war: Kunst ist kein Halbtagsjob. Du musst das Kostbarste geben, was Du hast, Deine Zeit, und davon alles. Keine Ablenkung, unbedingte Hingabe, so arbeitete der Meister. Das erwartetet er von seinen Studenten. Auch der Kunstmarkt war für Adolf Buchleiter nichts als eine Ablenkung von der Kunst. Ein Grund, warum eines der bedeutendsten zeichnerischen Oeuvres des 20. Jahrhunderts weitgehend unbekannt geblieben ist.

Und hat es gereicht? Ein Achtungserfolg? Wenn schon keine Begeisterung, so doch ein wohlwollendes Nicken für meine theologischen Ausführungen? Abwegig ist eine theologische Deutung des Paradies-Triptychons ja nicht, obwohl Buchleiters Titel „Das Paradies ist eine Polonaise“ nicht gerade theologischer Mainstream ist. Auch die Form, das Triptychon, ist eine traditionsreiche religiöse Pathosform, um die Anbetung Gottes am Altar zu zentrieren, obwohl sie in der Moderne zum zweiten Mal Karriere gemacht, nun als die „höchste Autoritätsbehauptung,“[1] die die Kunst für sich selbst in Anspruch nimmt, so der Kunsthistoriker Wolfgang Ulrich.

Nein, es hat nicht gereicht. Schweigen, ein spöttisches Grinsen – mehr nicht. Was hatte ich denn falsch gemacht? Offenbar stand ein zweite Regel unsichtbar über der Eingangstür zu Adolf Buchleiters Reich, die ich so umschreiben würde:  Denk nicht, schau! Wozu macht sich ein Künstler die Mühe eine monumentale Zeichnung zum Paradies anzufertigen, wenn es mit zwei Sätzen aus einem theologischen Lehrbuch zur Eschatologie getan wäre? Deshalb: „Sag nicht: Es muss das Paradies im Triptychon von Adolf Buchleiter und das Paradies in der Bibel oder einem Lehrbuch der Eschatologie etwas gemeinsam sein, sonst hießen beide ja nicht Paradies, sondern schau, ob ihnen etwas gemeinsam ist. Wenn du beides anschaust, die sprachlichen Bilder in der Bibel und die Bilder des Künstlers wirst du vielleicht Ähnlichkeiten, Verwandtschaften sehen. Wie gesagt: denk nicht, schau“[2] Und? Was sehe ich, wenn ich nicht denke, sondern schaue?

Rhythmus

Ich sehe eine feines Gespinst aus unzähligen Strichen. Und ich sehe in diesem feinen Gespinst eine Bewegung, den lockeren Tanz des Handgelenks. Diese Bewegung hat einen Rhythmus. Sie ist gleichmäßig, flexibel, aber nicht gleichförmig wie das mechanische Sausen eines Plotters. Der lebendige Rhythmus der kritzelnden Hand baut sich auf aus der Wahrnehmung und Reaktion des Künstlers auf den jeweils erreichten Stand der Vollendung. Jedes visuelle Ereignis, jeder Strich und Punkt treibt die Form weiter. Das Auge des Künstlers nimmt diesen Fortschrift wahr und reagiert darauf mit seiner Hand, um das nächste visuelle Ereignis zu setzen – so weiter. In dieser lebendigen rhythmischen Bewegung entsteht die Gestalt, die einzelne Form wie der Gesamteindruck. Und ich sehe in dieser Bewegung die Zeit, die Stunden, die in die Geburt der Form, vor allem in den großen Formate geflossen ist. Ich sehe diese Stunden in den vielen einzelnen Strichen und Punkten als eine Zeit, die steht, die nicht mehr vergeht, die wie geronnen ist, all at once. Die gesamte Zeit, die Adolf Buchleiter aufwandte auf einmal, in einem Augen-Blick. Und ich sehe, dass die rechte Tafel des Triptychons zum Paradies „Rhythmus“ heißt und die lebendige Bewegung, die in der Zeit zu stehen scheint, zum Thema einer der drei Tafeln macht.

Sehe ich auch Ähnlichkeiten zum Paradies? Versuchen wir es. Zeit, die nicht mehr vergeht, in einem Vorher, Jetzt und Nachher. Zeit, die in der chronologischen Zeit zu stehen scheint, so als sei alle Zeit wie auf einmal da, in einem Augenblick zu selbst gekommen, dem Kairos, der „Fülle der Zeit“ (Gal 4,4), das ist ein Kennzeichen des Himmels. In dem Zeitverhältnis, das sich im „Rhythmus“ zeigt, ist die rechte Tafel des Triptychons paradiesisch.

Reigen

In der Mitte sehe ich einen Tanz, eine kreisförmige Bewegung von menschlichen Körpern. In diesem Reigen wird aus dem Hier, wo ich bin, das Dort, wo du bist. Und umgekehrt: aus dem Dort, wo Du bist wird das Hier, wo ich bin, sobald sich der Kreis zu drehen beginnt.

Und sehe ich eine Ähnlichkeit zum Paradies? Versuchen wir es. Der Reigen im Mittelteil des Triptychons hebt jeden isolierten Standpunkt im Raum auf. Aus meinem bestimmtes Hier, wo ich stehe und kein anderer und aus einem bestimmten Dort, wo Du stehst und kein anderer, wird ein „Hier ist tendenziell schon Dort“ und „Dort ist tendenziell schon Hier“. Indem sich der Kreis dreht, ist jeder isolierte Standpunkt aufgehoben in einem permanenten Übergang, in einem  Überall, einer Ubiquität, einer Allgegenwart im Raum.[3] Beides, die bewegte dynamische Allgegenwart im Raum in Form eines Reigens auf der mittleren Tafel und die dynamische Allgengegenwart, die erfüllte Zeit auf der rechten Tafel in Form eines Rhythmus, sind Kennzeichen des Paradieses.

Mahlstrom

Schließlich sehe ich auf der linke Tafel, eine Strudel, in dem die gegenständlichen Formen in ihrer endlichen Konkretheit sich auflösen in ein feines Gespinst aus Strichen, je weiter sie an den Rand des Strudels geraten.Und sehe ich in diesem Mahlstrom eine Ähnlichkeit zum Paradies? Versuchen wir es. Auch das Paradies hat etwas Zerstörerisches. Es muss etwas verschwinden, damit das Paradies Raum greifen kann. Der Anschein einer konkreten Gegenständlichkeit im endlichen Raum muss aufgelöst werden zugunsten einer Dynamisierung, einer permanenten Übergänglichkeit von Oben und Unten, Rechts und Links, Hier und Dort, Vorher und Nachher.

Coda

Und hätte es dieses Mal gereicht? Ein Achtungserfolg? Wenn schon keine Begeisterung, so doch ein wohlwollendes Nicken des Meisters für meine theologischen Ausführungen? Abwegig ist auch diese theologische Deutung des Paradies-Triptychons nicht, auch wenn sie nicht Mainstream ist.

Nein, vermutlich hätte es auch dieses Mal nicht gereicht. Denn es gibt keine Auflösung für das Rätsel, das die Kunst uns aufgibt, obwohl wir nicht davon lassen können, es immer wieder zu versuchen. So wie das Rätsel seines Alterswerk. Warum fühlte sich Adolf Buchleiter verpflichtet seinen Lebensabend damit zu verbringen jeden Einzelnen der 10 000 Märtyrer in seinen  monumentalen Formaten zu zeichnen? Die Aufgabe brachte ihn an die Grenzen seiner körperlichen Leistungsfähigkeit und verursachte am Ende sogar seinen tragischen Tod. War es das wert? Verlangte der Blick in den Abgrund eines kollektiven Todestriebes, dass der Künstler die Würde jeden Einzelnen gegen die nivellierende Kraft der Masse retten muss? Oder ging es ihm tatsächliche nur um ein formales Problem, dass „es die  Sehweise ändert, wenn Du eine Figur herausnimmst … dann ist das ein Figürchen, aber wenn das in der Häufigkeit passiert…“[4] dann bekommt die Quantität der Märtyrerfigürchen eine erschreckende Qualität.

Gute Kunst provoziert fortlaufend unsere Deutungen und verhindert zugleich, dass wir mit ihnen jemals an ein Ziel kommen. Ich vermute deshalb, weil Adolf Buchleiter das wusste, und weil seine Zeichnungen gute Kunst sind, hätte er bei meiner theologischen Deutung seiner Kunst geschwiegen und allenfalls spöttisch gegrinst – auch dieses Mal.

Adolf Buchleiter, Das Paradies ist eine Polonaise, 1990-1991 (c) Pedro Warnke

Die Ausstellung “Mahlstrom” mit Werken von Adolf Buchleiter (1929-2000) im Sepulkralmuseum in Kassel ist vom 18. November 2023 bis 3. März 2024 zu sehen. Öffenungszeiten sind Di-So 10-17 Uhr. Montag ist geschlossen.

[1] Vgl. W. Ulrich, Autoritäre Bilder. Die zweite Karriere des Triptychons, in M. Ackermann (Hg.), Drei. Das Triptychon in der Moderne, Stuttgart, 2009, 16-23,22.

[2] Leicht abgewandeltes Zitat von L. Wittgenstein, Logische Untersuchungen, Oxford/GB 1953, 32. Im Original nimmt Wittgenstein als Beispiel für Familienähnlichkeiten Spiele, Brettspiele, Ballspiele, nicht verschiedene Symbolwelten wie Kunst und Religion.

[3] Vgl. J. Ringleben, Jesus. Ein Versuch ihn zu begreifen, Tübingen 2008, 135

[4] Vgl. Heiner Georgsdorf, Zu den Dante-Zeichnungen, in: Adolf Buchleiter, Zwischen göttlicher und menschlicher Komödie, Kassel 2000, 34-36, 35