Architekturflash Immanuelkirche Kassel

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Wie eine Kirche wird was sie ist

Gehen Sie mit mir auf eine Reise, ich lade Sie ein!

Kommen Sie mit nach Kassel, am Hauptbahnhof (Nordausgang!) steigen wir in den Bus und fahren mit der Linie 37 in die Mitte der Ehemaligen AEG-Siedlung.

Dort sticht ein Kirchturm wie eine Stricknadel in die Luft. Man sieht ihn schon von Weitem.

Die 1961-63 gebaute, quadratische Kirche sieht vom Boden aus wie ein Zelt und aus der Vogelperspektive wie ein Kreuz. Man wollte, dass die Kirche selbst aus dem Flugzeug als sakral zu erkennen ist.

Eine Seite aus der Festschrift zur Einweihung der Kirche mit einem Bild vom Bau und dem Grundriss der Kirche

Ein Bild, vermutlich aus der Zeit der Einweihung

Treten wir in die Kirche ein!

Es herrscht ein schummriges Licht in der Kirche, durch das Buntglasfenster hinter dem Altar malt die helle Junisonne warme Farbverläufe an die Wand und -flecken auf den Boden.

Ruhig ist es hier. Und angenehm kühl.

 

Olaf Gulbransson konzipierte den Altarraum so, dass Kanzel, Altar und Taufstein auf einer Linie stehen. Daran schließt sich die Gemeinde an.

Der Pfarrer sagte mir, dass er persönlich lieber vom neuen Lesepult, einer Dauerleihgabe der Martinskirche, predigt, weil die Kanzel so weit von der Gemeinde entfernt ist. Auch der Kerzenständer der Osterkerze gehört der Martinskirche.

Diese beiden Prinzipalstücke sind anders als die anderen: Ihre Linien sind nicht gerade; ihr Holz ist natürlicher, hat eine kräftige Maserung; sie stehen nicht auf der zentralen Linie. Ich glaube, das ist ein weiterer Grund dafür, dass es schöner ist, von dort zu predigen. Sie sind freundlicher. Die Kanzel ist hart und hoch und fern und kalt. Sie ist unnachgiebig. Mit ihrer Imperfektion tragen sie etwas wichtiges zum Raum bei. Für mich war es schön, dass sie Menschlichkeit gespendet haben.

Vor drei Jahren wurden das Gemeindehaus der Kirche verkauft. Doch Gemeinderäume brauchte man doch noch. Der Gemeindekirchenrat fragte sich, ob es möglich wäre, ein kleineres Gemeindehaus zu bauen. Stattdessen wurde eine andere Lösung angestrebt. Eine Lösung, die mittlerweile preisgekrönt ist. In die Kirche selbst zwei neue Kabinette mit Innenwänden aus Glas und Holz eingebaut. Ist mit hohen Besucherzahlen zu rechnen, kann man die Wände öffnen, die Räume bestuhlen und die ursprüngliche Größe des Gottesdienstraumes wiederherstellen. An gewöhnlichen Sonntagen mit 30-40 Besuchern finden hier, in der Kirche und sichtbar, aber separat und ruhig Kindergottesdienst und Kirchkaffee statt.

Die Wände tragen auch zur Stimmung des Raumes bei: Sie schließen einen Teil des Lichts, das durch die Seitenfenster einfällt aus dem Kirchraum aus. Wie in einem großen Zelt fühlt man sich tatsächlich, wenn man die Elektrik löscht und selbst mittags im Hochsommer erinnern die Lichtverhältnisse eher an Stätnachmittage im Oktober. Der Sonnenschein und die Hitze ziehen sich langsam zurück und machen Platz für Erholung. Der Trubel und der Wirbel lassen nach. Eine feierliche Ruhe setzt ein. Erntezeit ist schon gewesen. Die Arbeit ist geschafft. Das waren zumindest meine Assoziationen des Raumes.

Und nochetwas macht diesen Kirchraum zu dem, der er ist. An der Wand unter dem Orgelboden hängt eine Bilderreihe, die die Schöpfung in sieben Tagen darstellt. Eine Künstlerin hatte sie der Gemeinde geschenkt.

Man sieht sie erst wenn man schon gehen will. Sie halten einen fest und laden ein, noch ein wenig im kühlen, ruhigen Kirchraum mit den warmen Farben zu bleiben und zu genießen.

Ich lade Sie nun ein, den Kirchraum wieder mit mir zu verlassen.

Halten wir zum Schluss noch einmal fest, was wir gesehen haben und was diesen Raum ausmacht.

Olaf Gulbransson hatte eine klare Vision eines Versammlungsortes mit klaren Linien und Zentrierung der Sakramente Taufe und Abendmahl, und der Predigt. Mit der Gemeinde geborgen unter dem Zelt Gottes.

Durch die Integration von Gemeinderäumen in den Gottesdienstraum (nicht nur in das Kirchgebäude! Man kann als Eltern seine Kinder im Kindergottesdienst beobachten, während man die Predigt aufmerksam hört, und die Kinder können ohne großes Aufsehen in das Abendmahl einbezogen werden) hat die Gemeinde dem Raum mehr Gemeinschaft, mehr Leben geschenkt.

Die geliehenen Prinzipalstücke verleihen der Kirche Menschlichkeit und Nähe und die Kunst, die den Raum schmückt, heißt jeden willkommen, zu verweilen und zu betrachten.

Johannes Böckmann