Wozu wir heute noch Kirchen brauchen: Thomas Erne, Hybride Räume der Transzendenz

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THOMAS ERNE, HYBRIDE RÄUME DER TRANSZENDENZ – Wozu wir heute noch Kirchen brauchen, Leipzig 2017

Nach wie vor sind Kirchen der Ort, an dem sich sonntags eine christliche Gemeinde zum Gottesdienst versammelt. Aber jedes Jahr besucht ein Millionenpublikum die Kirchen, um dort die besondere Atmosphäre der Räume zu erleben, nicht die Gottesdienste, für die sie gebaut wurden. Die religiöse Erfahrung der Transzendenz, die ein Gemeindemitglied in der Liturgie des Gottesdienstes erlebt, wird so überlagert von den ästhetischen Erfahrungen, die ein Besucher im Kirchenraum macht. Kirchen sind hybride Räume der Transzendenz. Es kann dort ein charmanter Übergang von ästhetischer zur religiösen Transzendenz stattfinden. Es kann aber auch ein Grenzkonflikt entstehen, wenn sich die Religion und Kunst voneinander abgrenzen. Beides, Kontinuität und Diskontinuität, gleitenden Übergange und harte Brüche eröffnet eine Kirche, sofern es in ihr Transzendenz im Plural gibt als Ereignis der Kunst und als Ereignis der Liturgie. Dazu brauchen wir heute noch Kirchen. Das ist die Leitthese dieses Buches.

2017, Ev. Verlagsanstalt Leipzig, 254 Seiten,  78 farb. Abb., Klappenbroschur, 34,00 EUR
ISBN 978-3-374-04832-8

English Abstract

Hybrid Spaces of Transcendence

In the book „Spaces of Transcendence”, Thomas Erne points out the possibility of a double meaning in works of art, architecture and spaces. The effect these hybrid spaces can have on the observer depends on whether the significance is religious or profane.

Spaces can be, for the observer, interesting in various ways. Churches are visited frequently for their architectural impact and not only out of explicitly religious interest. Likewise, non-religious buildings of architectural interest can also support a form of spiritual contemplation, evoking or reinventing a religious effect. Both forms of reception convey a mutual need for self-transcendence, this transformation being achieved by religious and/or aesthetic means.

Another main focus is on the presence of churches in an urban context. It is pointed out to what extent the element of event culture in the community and for the individual, together with the core element of Protestantism, come together in a church and are able to manifest themselves architecturally.

Bringing these different ways in which spaces are perceived together, various (church) interiors and art events are referred to: Art – in its individuality, as an enhancement to a room or as a complete installation provides, by means of its exceptional appeal, the possibility to extend perception, thereby an aesthetic experience of transcendence of oneself.

Churches can be hybrid spaces; they can combine urban event culture (aesthetic transcendence) and a religious experience.

Thomas Erne  is director of the Institute for Church Architecture and Contemporary Ecclesiastical Art at Philipps-University in Marburg.

EKD-Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart der Philipps-Universität Marburg, Lahntor 3, D – 35032 Marburg, kirchbau@staff.uni-marburg.de

Rezension vom 12.8.2017 in der Schwäbischen Zeitung

Kunst rettet Kirche

Gotteshäuser zwischen Mitgliederschwund und Besucherstrom

von Reinhold Mann

RAVENSBURG – Die Frage, wozu wir heute noch Kirchenräume brauchen, beschäftigt die großen Kirchen gleichermaßen.Im Zeitraum von 25 Jahren nach der Wiedervereinigung kommt man auf 720 Kirchen, die in Deutschland aufgegeben wurden, katholische wie protestantische. 190 davon abgerissen, andere umgebaut zu Altenheimen, Schulen, Sozialzentrenoder Wohnanlagen. Einige haben sich in Restaurants und Cafés verwandelt.Der Trend legt sich nicht gleichmäßig übers Land. Die Diözese Rottenburg-Stuttgart muss sich damit nicht herumschlagen. Der Schwerpunkt ist das Ruhrgebiet, dessenStrukturwandel die Städte verändert. In den neuen Bundesländern hat  Tradition seit 1945, weil die DDR alte Bausubstanz, von Vorzeigeobjektenabgesehen, nicht erhalten wollte. Heute folgt die Kirchenschließung dem Managementprinzip des Rückzugs aus der Fläche. Auf eine Gegenbewegung, die mit Zahlen nur annähernd einzufangen ist, weist das Buch von Thomas Erne hin, Direktor des EKD-Instituts für Kirchenbau und Professor für Praktische Theologie in Marburg: auf den wachsenden Besucherstrom zu den zentralen Kirchen, den historischen Münstern und Domen, touristisch ausgewiesenen Gotteshäusern wie die Dresdner Frauenkirche oder zu den neuen „Kulturkirchen“ wie die vom Londoner Architekten John Pawson minimalistisch durchgestaltete Moritzkirche in Augsburg. Der Untertitel des Buches greift die Frage auf, wozu wir Kirchen brauchen. Der Haupttitel versucht die Antwort. Erne versteht sie als „Hybride Räume der Transzendenz“.Das klingt etwas kompliziert. Aber der Begriff des Hybriden ist ja inzwischen allgegenwärtig, wenn es darum geht, zwei Eisen im Feuer zu haben. Hybride Kirchenräume meint, dass sie von ihren Betrachtern in einer Doppelfunktion wahrgenommenwerden können, als Sakralraum und Kunstraum. „Kirchen sind Orte, an denen sich eine christlicheGemeinde zum Gottesdienst versammelt .Gleichzeitig besucht jedes Jahr ein Millionenpublikum Kirchen, um unabhängig von den Gottesdiensten die besondere Atmosphäre der Räume zu erleben.“ Ernes Kronzeuge ist der Dichter Wolf Wondratschek, der in seiner Festrede beim Rheingau-Festival 2015 der Frage nachging: Was bedeutet es, in einer Kirche zu sein, wenn man nicht betet? Was Wondratschek interessiert, ist die räumliche Erfahrungvon Entgrenzung. Dieses Thema, die besondere Atmosphäre und Raumerlebnisse in Gebäuden, verfolgt Erne weiter: So in einem Gespräch mit dem Schweizer Architekten Peter Zumthor, der Kapellen gebaut hat, die Wallfahrtsorte für Architekturinteressierte geworden sind. Aber nicht nur Zumthors Kapellen, auch seine Profanbauten haben eine große Anziehungskraft auf Besucher: das Kunstmuseum in Bregenz oder die Therme in Vals. Erne selbst berichtet im Buch von einer Stichprobe. Er beobachtet die Besucher des (evangelischen) Ulmer Münsters am (katholischen) Feiertag Allerheiligen, wo es erwartungsgemäß ruhig und menschenleer sein müsste. Das Münster öffnet um neun. Um zehn sind bereits hundert Besucher da: eine Gruppe tschechischer Steinmetze, eine französische Familie, eine Reisegruppe aus Asien, einzelne Personen in den Bankreihen. Die Kirche ist besucht ,obwohl hier nichts stattfindet, was man, wie Erne schreibt, „in einer Kirche erwarten darf, und was sie nach evangelischer Lesart überhaupt erst zur Kirche macht: die versammelte Gemeinde und die Verkündigung des Evangeliums”. Für solche Doppelausprägungen von Kirchen als Gotteshaus und Erlebnisraum liefert das Buch zahlreiche Beispiele, was Architekturkonzepte beim Kirchenbau, was die künstlerische Ausgestaltung der Räume und auch, was die Liturgie betrifft. Das spektakulärste Beispiel ist Stefan Strumbels Umgestaltung der katholischen Kirche im südbadischen Goldscheuer 2011, die sogar die Aufmerksamkeit der „New YorkTimes“ gefunden hat. Mehr Bedeutungsgewinn ist ja hienieden nicht möglich. Der aus Offenburg stammende Künstler Stefan Strumbel ist mit Arbeiten bekannt geworden, die sich mit Heimat und Folklore auseinandersetzten ,er zeigte Kuckucksuhrenund Schwarzwaldmädel im Bollenhut mit Sturmgewehren. Die Kirche in Goldscheuer bei Kehl, ein schlichter Bau von 1960, wurde 2010 angesichts schwindender Mitgliederzahlen der Gemeinde und steigender Kosten für die Gebäudeunterhaltung von der Diözese Freiburg zur Disposition gestellt. Die Kirche war schon leer geräumt, da lud Gemeindepfarrer Thomas Braunstein Stefan Strumbel ein und gewann ihn für eine Neugestaltung .Pfarrgemeinderat und Diözese zoge nmit, Strumbel verzichtete aufs Honorar. Die Neugestaltung arbeite tmit schlichten, aber im sakralen Umfeld ungewöhnlichen Mitteln wie Graffiti und LED-Beleuchtung. Die Kirche hat mit ihrer Umgestaltung regionales wie internationales Besucherinteresse gefunden. Aber auch, wie Pfarrer Braunstein sagt, eine solide Akzeptanz in der Gemeinde.

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