Monumente des Vergessenen

Biennale 2024

von Barbara Miller

„Foreigners everywhere“ –  hat der brasilianische Kurator Adriano Pedrosa als Motto der 60. Biennale in Venedig ausgegeben. Die 300 Künstlerinnen und Künstler, die er eingeladen hat, entfalten ein breites Spektrum. Fremdsein kann so viel bedeuten – fremd in einem anderen Land, fremd im eigenen Land,  fremd im eigenen Körper.  Es ist ein sozialpolitisches Thema, das Pedrosa gesetzt hat. Und so verwundert es nicht, bei vielen Künstlerbiografien den Zusatz „Aktivist“ /„Aktivistin“ zu finden.

Herausgegriffen seien aus der Fülle der Konzepte und Darstellungsformen vier Arbeiten: Der Ägypter Wael Shawky erzählt in einer Video-Oper vom  Urabi-Aufstand 1882 gegen die Briten. Archie Moore hat aus dem australischen Pavillon einen Gedenkort für die verfolgten Aborigines gemacht. Die saudische Künstlerin Manal Al-Dowayan spürt in „Shifting Sands: A Battle Song“ der sozialen Rolle und dem Selbstverständnis arabischer Frauen nach. Und der Regisseur Ersan Mondtag hat seinem Großvater, der als „Gastarbeiter“ nach Deutschland kam, ein Denkmal gesetzt. Diese Arbeiten erschließen sich nicht von selbst. Wer sie auf der Biennale besucht, benötigt, um nicht seinerseits mit ihnen zu fremdeln – mal mehr, mal weniger – eine Anleitung zum Verstehen: Kunst mit Beipackzettel.

Wael Shawky, 1971 in Alexandria geboren, arbeitet überwiegend mit Videos. Aufsehen erregte er Anfang der 2010er-Jahre mit seiner Trilogie „Cabaret Crusades“, in der er die Kreuzzüge aus arabischer Sicht als „Heiligen Krieg der Barbaren“ darstellte. Bediente er sich damals für sein „re-staging“  fantasievoller Glasfiguren, so arbeitet er nun bei „Drama 1882“ mit Sängern, um vom Kampf der Ägypter gegen die Briten zu erzählen, die 1879 nicht nur die Kontrolle über den Suez-Kanal, sondern bald über das ganz Land gewonnen hatten. Ägyptische Offiziere unter Führung von Ahmad Urabi riefen zum Aufstand auf, gegen die britischen Kolonisatoren wie gegen das osmanische Reich. Sie erhoben sich gegen die eigene Regierung, der sie vorwarfen, das Land an die Fremden zu verkaufen. Die Revolte wurde niedergeschlagen und Ägypten bis 1956 dem britischen Empire einverleibt.

Wael Shawky, Cabaret Crusades Biennale 2024 Foto Thomas Erne

Mit einem realistischen Dokudrama hat Shawkys 40-minütige Video nichts zu tun. Die stereotyp gekleideten Figuren bewegen sich in einer formalisierten Choreografie zu monotoner Musik. „Drama“, sagt Shawky, „bedeutet für mich Unterhaltung, Katastrophe und Zweifel an der Geschichte“.

Verzweifeln an der Geschichte – zumindest wie sie ihm erzählt wurde – ist das Thema des australischen Künstlers Archie Moore. In der Schule hat der 1970 geborene Sohn einer indigenen Mutter und eines britischen Vaters gelernt, dass die Geschichte Australiens 1770 mit der britischen Kolonisation begonnen habe. Eine Lüge. Ebenso wie die vom menschenleeren Kontinent, den die Siedler vorgefunden hätten. Das naturrechtliche Konzept der „terra nullius“, vom unbewohnten und unbewirtschafteten Land, das nur darauf wartet, beackert zu werden, ist eine ideologische Grundlage des Kolonialismus.

Archie Moore, Kith and Kin Biennale 2024 Foto Thomas Erne

„Kith and Kin“ hat Archie Moore den australischen Beitrag genannt, der mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet worden ist. „Kith and Kin“ bedeutet  Freunde, Familie und angestammtes Land. Für die Aborigines gibt es die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht. Die Ahnen sind im Gedächtnis aller präsent. Moore hat an die Wände im australischen Pavillon den Stammbaum von 2400 Generationen seiner Verwandtschaft gezeichnet, 65 000 Jahre Geschichte.

Archie Moore, Kith and Kin, Biennale 2024, Foto Thomas Erne

In der Mitte ein großes Bassin, er nennt es „Erinnerungsspeicher“. Darauf schwimmen weiße Bücher, es sind die offiziellen Untersuchungsberichte über von Siedlern getötete Aborigenes in den Jahren 1987 bis 1991. Wer die Titelblätter lesen möchte, muss sich hinabbeugen – und blickt im „schwarzen Wasser des Todes“ (Moore) in sein eigenes Spiegelbild. Und wird so zu einem Teil der Installation.

Manal Al-Dowayan ließ sich für „Shifting Sands: A Battle Song“  von Traditionen ihres Heimatlandes Saudi-Arabien inspirieren, um sie zu brechen und neu zu interpretieren. Battle Songs, Kampfgesänge sind vor allem von Männern überliefert. Aber die 1973 geborene  Künstlerin will den Frauen ihres Landes eine Stimme geben, und so hat sie in drei Workshops 1000 Frauen zusammengebracht. Wer bin ich? Wie ist meine Rolle in der Familie, in der Gesellschaft?

Herausgekommen ist ein vielstimmiger Chor über weibliche Identität in Saudi-Arabien. Die Stimmen der Frauen erklingen, wenn man durch die wie eine Wüstenrose ineinander verschachtelten Holzwände geht. Die wiederum sind mit Zitaten aus internationalen Medien über Frauen in Saudi-Arabien übersät: Für Manal Al-Dowayan eine „Kakophonie von Vorurteilen“.

Manal Al-Dowayan, Shifting Sands: A Battle Song, Biennale 2024, Foto Thomas Erne

Ersan Mondtag, 37, ist an deutschen Bühnen längst ein gefragter Regisseur. Dass er eingeladen wurde, den deutschen Pavillon auf der Biennale mitzugestalten, kam aber doch überraschend. Der in West-Berlin geborene und aufgewachsene Künstler hat ein begehbares Bühnenbild entworfen.

Er hat den Haupteingang des Pavillons mit Erde zugeschüttet, mit Erde aus Anatolien, woher Ersans Großvater Hassan voller Hoffnung auf ein Leben in Wohlstand nach Deutschland aufgebrochen ist. Inmitten des Gebäudes erhebt sich ein Turm. Auf drei Stockwerken entfaltet Mondtag das Leben seines Großvaters  – mit kleinen Notizzetteln, dem Rentnerausweis, einem Fernseher, einem Sessel. Alles ist mit einer dicken Staubschicht überzogen. Gleich am  Eingang, über Blumenkästen aus Eternit, hängt eine Ehrenurkunde der Firma: „Für Hassan Aygün“. 30 Jahre hat er im Eternit-Werk gearbeitet. Das hat ihm ein Leben ohne Armut ermöglicht, aber der Asbeststaub hat ihn auch das Leben gekostet. Ersan Mondtag nennt dieses Denkmal für seinen toten Großvater, den „Gastarbeiter“ aus Anatolien, „Monument of an Unknown Man“.