Die Künstler:innen Hyeseon Jeong und Seongmin Yuk suchen Wege des Geschichtenerzählens zwischen Mythen, naturwissenschaftlicher Forschung und aktueller Technologie über das Leben im desaströsen Klimawandel. Im Rahmen von DRIVING THE HUMAN vom Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe (ZKM) sind die Künstler:innen mit dem Kunstsoziologen Philipp Franz Hennch über ihre Mehrkanal-Videoinstallation THE BACKPACK OF WINGS: MODERN MYTHOLOGY (2021) ins Gespräch gekommen. Ihre animierte Videoarbeit wurde dort als eine der „Seven Prototypes for Eco-social Renewal“ im Berliner Kulturquartier silent green vorgestellt.
Ihre künstlerische Forschung an Naturkatastrophen im Anthropozän bezieht sich auf alte ostasiatische Frühwarnsysteme für Erdbeben und Fernerkundung auf Basis von Beobachtungen und Mythen um das Verhalten von Wildtieren. Um diese herum erzählen sie futuristische Geschichten zukünftiger Messinstrumente des GPS-Trackings von Vögeln. In seinem Gastbeitrag führt Philipp Hennch Aspekte eines Interviews zusammen und adressiert, wie das experimentelle mythenbasierte Storytelling zu neuen künstlerischen Mensch-Umwelt-Relationen beitragen kann.
Videostill, The Backpack of Wings: Modern Mythology (2021), Sci-fi film, 22:41 min, HD/DCP, Stereo Sound / 5.1 Sound, Quelle und Mitarbeiter:innen: //jjjyyy.xyz/The-Backpack-of-Wings-Modern-Mythology © Hyeseon Jeong, Seongmin Yuk
1) ZWISCHEN MYTHEN UND DATEN – IM GESPRÄCH ÜBER KÜNSTLERISCHE ERZÄHLWEISEN DES MEHR-ALS-MENSCHLICHEN ZUSAMMENLEBENS IM ANTHROPOZÄN
Die Tiere wissen es als erstes, so erinnern sich die Künster:innen an alte Geschichten von mythischen Frühwarn- und Telemetriesystemen für Naturkatastrophen in Süd- und Ostasien: Wildvögel fliegen los, suchen sich bestimmte Routen, vermeiden manche Plätze. Sie spüren vielleicht, was Messinstrumente noch nicht erfassten. In diesen Mythologien sind Menschen und Tiere Companions, sie wissen einander zu Lesen und zu Interagieren – stecken bewusst in einem abhängigen System. Mythen kontextualisieren diese genauen Tierbeobachtungen in Erzählketten und integrieren Handlungsanweisungen für Notfälle. Ein solches mythologisch erzähltes Wissen sei eine Quelle für zukunftsfähige Mensch-Umwelt-Verhältnisse in Krisenzeiten: Es sind kreative und schützende Stories, die wirksam werden könnten. In Zeiten stetig verheerender werdenden Resultaten des Klimawandels im Anthropozän suchen die Künstler:innen nach neuen Wegen Geschichten um die Beziehung von Menschen, Tieren und Umwelt zu erzählen: Wie würde eine aktuelle Forschung aussehen, die solche Faktoren sowie altes und neues Wissen, Mythen und Erzählweisen einbezieht?
In ihrer künstlerisch-forschenden Fiktion THE BACKPACK OF WINGS tragen nun Tauben und Zugvögel Tracker und übertragen GPS-Daten ihrer Migrationsrouten zur Auswertung. In medientechnologischen Zeiten bedarf es nicht nur neuer Messmethoden sondern mit ihnen auch neuer Stories. So kann auf der Website THE BACKPACK OF WINGS: SENSORY NETWORKS nun beispielsweise der Zugvogel Jonas (geb. 2013) in seiner Flugroute gefolgt werden und fiktive Erlebnisse werden selbst verfasst – zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels ist Jonas gerade zwischen Köckte und Röwitz unterwegs.
Videostill, The Backpack of Wings: Modern Mythology (2021), Sci-fi film, 22:41 min, HD/DCP, Stereo Sound / 5.1 Sound, Quelle: //jjjyyy.xyz/The-Backpack-of-Wings-Modern-Mythology © Hyeseon Jeong, Seongmin Yuk
Im Rahmen der Driving the Human Residency der Mentor:innenplattform Forecast haben Hyeseon Jeong und Seongmin Yuk mit dem THE BACKPACK OF WINGS eine spekulative Zukunft entworfen, in der sie Mythologie und Technologie verflechten. Ihre Mythologien bewegen sich zwischen alter Divination, genauer Naturbeobachtung und neusten Messinstrumenten des Trackings von Wildtieren. Sie verschieben ihre Ideen zwischen Science und Fiktion kaum bestimmbar künstlerisch hin und her. Dabei nutzen sie die Freiheit, die ihnen das Genre der Science Fiction bietet, um Themen aktueller sozio-ökologischer Herausforderungen zu adressieren: Sie erzählen, wie die Ergebnisse ihrer halb-fiktiven Forschung in einigen Jahren aussehen würden, welche Daten sie durch das Tracking erhoben hätten, welche Ergebnisse daraus zu schlussfolgern wären, wie die Gesellschaft sich in enger Interaktion mit diesem tierbasierten Wissen ändern würde. Gerade im Raum zwischen solchen Verschiebungen der Wissens- und Erzählweisen ereignen sich die spekulativen Proben der Künstler:innen und regen nicht nur fiktionsbegeisterte Betrachter:innen an, sondern auch kooperierende Wissenschaftler:innen aktueller Bio-Gotracking-Technologie.
Videostill, The Backpack of Wings: Modern Mythology (2021), Sci-fi film, 22:41 min, HD/DCP, Stereo Sound / 5.1 Sound, Quelle: //jjjyyy.xyz/The-Backpack-of-Wings-Modern-Mythology © Hyeseon Jeong, Seongmin Yuk
Vor ihrer gemeinsamen Arbeit beschäftigten sich die Künstler:innen mit unterschiedlichen Themen, die sich doch als Aspekte in der gemeinsamen Videoarbeit wiederfinden. Hyeseon Joeng behandelt politische Machtstrukturen im post-digitalen Zeitalter, Dezentralisierung und adressiert diese in experimentellen Videoarbeiten und Hörspielen. Seongmin Yuk beleuchtet in bisherigen Werken More-Than-Human Beziehungen und Wahrnehmungstheorie. Ihre gemeinsame Arbeit THE BACKPACK OF WINGS: MODERN MYTHOLOGIES entstand 2021 und wurde bisher während zahlreicher internationaler Filmfestivals gezeigt, darunter das Athens Digital Arts Festival (2022), Bejing International Short Film Festival (2022) und das Images Festival Toronto (2023). In der Ausstellung ‚Speculative Ecosystems and Interspecies Collaborations‘ wurde die Videoinstallation im ZKM Karlsruhe gezeigt (2023). Das Projekt wurde gefördert vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz.
Wie dieses gemeinsame Werk nun Methoden des Storytellings entwirft und wie es zwischen Mythos und Technologie agiert, thematisiert unser Gespräch in ihrem Studio in Köln.
2) GESPRÄCH ÜBER THE BACKPACK OF WINGS: MODERN MYTHOLOGIES
PHILIPP F. HENNCH: Nachdem wir bei DRIVING THE HUMAN in Berlin begonnen haben über The Backpack of Wings zu sprechen, freue ich mich euch im Kölner Studio besuchen zu dürfen. Mit welchen Themen beschäftigt ihr euch gerade in eurer künstlerischen Arbeit?
SEONGMIN YUK: Unser gemeinsames Interesse ist die Arbeit an und mit Mythologien und der Beschäftigung mit Methoden des Storytellings. Gerade sind wir jedoch in einer konstituierenden Phase, da wir tatsächlich mit dem BACKPACK OF WINGS das erste Mal wirklich konzeptuell und praktisch als Team zusammengearbeitet haben.
HYESEON JEONG: Zusätzlich interessiere ich mich für Cybernetic-Theory und Theories of Decentralisations. Das Thema Natur hätte mich früher kaum interessiert, also ist der BACKPACK, der diese Themen miteinander verbindet, meine erste Annäherung daran.
PHILIPP F. HENNCH: Ihr habt bereits eine ganze Reihe Projekte verwirklicht, gibt es ein Projekt welches besonders prägend für euch war?
SEONGMIN YUK: Ein für mich wichtiges Projekt, das ich vor dem BACKPACK OF WINGS realisiert habe, ist beispielsweise ein experimenteller Animationsfilm. In diesem geht es um eine persönliche Beziehung eines Soldaten mit einer Motte. Das war einer der ersten Versuche, über die menschliche Dimension hinauszudenken. Davor habe ich mich immer überwiegend für die Themen der Wahrnehmungstheorie interessiert, in denen es jedoch thematisch um Menschen ging. Durch die Beschäftigung mit Multi-Species-Theorien im Rahmen meines Studiums, habe ich daraufhin diese Fragen über das Menschliche hinaus erweitert.
HYESEON JEONG: Mein Hauptthema war bis dahin die Auseinandersetzung mit politischen Machtstrukturen. Darüber hinaus habe ich mich sehr mit der post-digitalen Welt befasst und hatte Interesse daran, diese beiden Themen zu mischen. Ich habe überwiegend Videoarbeiten gemacht, einmal auch ein Hörspiel. Wenn ich ein Beispiel nennen soll, dann das Videoprojekt THERE IS A DENSE FOREST. Darin geht es um einen fiktionalen Wald in Seoul, der nur auf der koreanischen Google Maps Version existiert aber nicht in Google Maps selbst. Dieser Wald schützt, im Kontext der nationalen Sicherheit, verschiedene Gebäude, unter anderem das Haus des Präsidenten. Die Geschichte darin beginnt mit dem fiktionalen Wald zu dem sich vier fiktionale Protagonisten – wie beispielsweise ein Taxi-Fahrer – verhalten.
Ein weiteres Beispiel wäre das Projekt meines Vordiploms, DAS NEUTRALE FEUERZEUG. Darin geht es um die Geschichte eines Schweizer Soldaten, der nach Korea kam, um als Militärbeobachter den Waffenstillstand zwischen Nord- und Südkorea zu beobachten. Die Arbeit basiert auf dessen echtem Tagebuch. Dieses Tagebuch habe ich verwendet um eine halbdokumentarische, halbfiktionale Geschichte zu schreiben, welches ich in einem experimentellen Soundformat realisiert habe.
PHILIPP F. HENNCH: In diesen Arbeiten erzählt ihr sehr vieldeutige Geschichten, die auf Erzählungen und Funden basieren und diese weiterdenken, wie auch im Backpack of Wings. Eure Videoinstallation war in das Projekt THE BACKPACK OF WINGS eingebettet, für das ihr dann als eines der sieben Projekte für ein „eco-social renewal“ ausgewählt und im ZKM ausgestellt wurdet. Was hat euch dazu motiviert eure künstlerische Arbeit in diesem Kontext einzubringen?
SEONGMIN YUK: Wir sind online auf DRIVING THE HUMAN aufmerksam geworden und nach einer Recherche und der Auseinandersetzung mit der Eröffnungsveranstaltung am zkm Karlsruhe und der Ausstellung CRITICAL ZONES haben wir erkannt, dass das Thema einfach super gut zu unserem damals gerade anlaufenden Projekt THE BACKPACK OF WINGS gepasst hat. Wir hatten schon diese Idee für den Projektvorschlag, der dann dort in Kooperation weiter realisiert wurde.
HYESEON JEONG: Ich glaube ich hatte damals schon sechs Monate für das Projekt recherchiert. Die erste Idee kam schon am Anfang des Lockdowns, im Frühjahr 2020.
PHILIPP F. HENNCH: Was war diese erste Idee für THE BACKPACK OF WINGS: A MODERN MYTHOLOGY?
SEONGMIN YUK: So, the Backpack of Wings, where to begin? Das Projekt umfasst eine große Recherche und ist schwierig zusammenzufassen. Um es dennoch zu versuchen: Es geht darin um ein future scenario. Ok, I’ll switch to english. It’s about a future scenario, where the animals and humans are tracked and networked together. We speculate this future and simultaneously we are trying to combine it with visions of mythological storytelling. So that’s a very very rough summary of the whole project.
PHILIPP F. HENNCH: You mentioned mythologies as an important part of your storytelling practice, what do you mean by that?
HYESEON JEONG: We researched different East Asian mythologies about nature. In this mythologies, the main protagonist are non-humans. They have way more power and are controlling natural events. This story is like switching the power hierarchies we see in our current society. So, the main idea stems from the different and often superior senses of animals. Animals are more sensible to natural phenomena than humans are. Using their senses, animals have more ways to react to natural events and disasters than us humans. This is their power. That’s the very basic idea through which I began the whole story, especially the sci-fi-film.
SEONGMIN YUK: To see this kind of approach towards animals and to compare it to the scientific research nowadays, that’s the most interesting point for us. To also learn from the mythological storytelling back in the days, from these animistic mythologies especially.
PHILIPP F. HENNCH: Are there concrete myths, you are addressing?
HYESEON JEONG: Yes, I was thinking of the Japanese mythology on Namazu. In this mythology is a strong connection between catfishes and earthquakes. So, the Japanese people believe that when the catfish jumps from the stream or when a human guard – that is supposed to care for the catfish – fails, an earthquake can occur. Earthquakes are imbedded into the Japanese culture as a chance to reshape, not only houses, but also social structures. From this change especially lower class people can also benefit, since they are the ones that rebuild everything.
SEONGMIN YUK: Yes, there is a new chance to start from zero and to deconstruct the power structures.
PHILIPP F. HENNCH: With the change of the material condition, everything could change and becomes something new?
HYESEON JEONG: There is also another mythology I used in the film, it’s Yonaoshi. It’s a repeated script in the sci-fi-film. So Yonaoshi means everything goes to zero. It’s connected to the Namazu.
SEONGMIN YUK: There are a lot of east and south Asian mythologies combined in our work concerning animals and transformation.
Videostill, The Backpack of Wings: Modern Mythology (2021), Sci-fi film, 22:41 min, HD/DCP, Stereo Sound / 5.1 Sound, Quelle: //jjjyyy.xyz/The-Backpack-of-Wings-Modern-Mythology © Hyeseon Jeong, Seongmin Yuk
HYESEON JEONG: Yeah, there is also a Korean myth of a dragon mentioned and general South-Asian dragon-myths. In those, the dragon was once a snake. This snake lives a hundred years. Then it becomes a bigger water snake and lives for another hundred years, to finally transform into a dragon. Those Dragons are mostly related to weather conditions, like rain and clouds.
PHILIPP F. HENNCH: In eurem Video wird auch eine animierte Skulptur gezeigt, an der Drachenköpfe in verschiedene Richtungen schauen und je eine Kugel im Maul halten. Bei einem Erdbeben fallen die Kugeln aus dem Maul, aus dessen Richtung das Erdbeben kommt. Bezieht sich die Skulptur auf diese Mythen?
SEONGMIN YUK: Das ist eine chinesische Mythologie.
HYESEON JEONG: Das ist keine Mythologie das ist Science.
SEONGMIN YUK: Das ist auch eine Mythologie. Wobei, es gibt auch keinen Beweis, dass diese Erfindung wirklich ein Erdbeben vorhergesagt hatte. Also, es ist ein Tool, womit man damals in China Erdbeben vorhersehen wollte.
HYESEON JEONG: Es wurde schriftlich dokumentiert, aber dieses Ding existiert nicht. Ich finde aber dieser Seismograph ist ein perfektes Beispiel für die Verknüpfung von wissenschaftlichen und mythologischen Ideen in der menschlichen Vorstellung.
PHILIPP F. HENNCH: Ihr adressiert diese mythologischen Ansätze als eine Alternative zu aktuellen hegemonialen Wissenschaftskonzepten und als eine eigene Form der science based fiction. Ihr arbeitet in eurem Projekt nun dem Titel nach an einer ‘modernen Mythologie’? Was macht eine solche moderne Mythologie aus?
HYESEON JEONG: Ich wollte mit der Tracking-Technologie die Mythologien aus der Vergangenheit wieder aktualisieren. Das Projekt „ICARUS (International Cooperation for Animal Research Using Space)-Erdbeobachtung mit Tieren“ des Max-Planck Instituts für Verhaltensbiologie hat auch Mythologien aufgegriffen. Obwohl bereits Animal-Senses untersucht wurden, glauben die Naturwissenschaftler:innen daran, dass die Tiere weitere Sinne haben.
PHILIPP F. HENNCH: Sie erforschen ebenfalls Daten der Wege von Wildtieren als eine Art Internet der Tiere.
SEONGMIN YUK: Genau, so wie die im Max-Planck Institut das ICARUS-Projekt beschreiben, steckt ganz viel von animistischen Mythologien in deren Motivation. Das hat jeder Mal gehört, dass Tiere etwas vorhersehen können. Es wurde jedoch nie überprüft warum, wie und ob Tiere das können. Wir fanden es interessant, dass naturwissenschaftliche Forschungen von solchen Mythologien inspiriert beginnen können. Diese Mythologien stellen einen Anfangspunkt dar, aus dem ein Forschungsvorhaben entwickelt wird. Aus Mythologien gibt es sehr viel zu lernen, vor allem auch in dieser Zeit in der sich sehr viel verändert. Sie haben eine ganz andere Herangehensweise an eine belebt gesehene Natur. Der Unterschied zu unserer Arbeit ist, dass wir hingegen die Mythologie nicht nur als Inspiration sehen. Sondern wir nutzen sie als eine Erzählweise. Wir betrachten, wie sich die Beziehung von Menschen mit der Natur in mit diesen mythischen Ansatz der Weltbetrachtung ändert und welche Auswirkungen das hätte.
Videostill, The Backpack of Wings: Modern Mythology (2021), Sci-fi film, 22:41 min, HD/DCP, Stereo Sound / 5.1 Sound, Quelle: //jjjyyy.xyz/The-Backpack-of-Wings-Modern-Mythology © Hyeseon Jeong, Seongmin Yuk
HYESEON JEONG: Wie wäre die Gesellschaft und ihr Wissen, ihre Technologie und ihr Handel, wenn Tiere an ein solches Tracking-System angeschlossen wären? Wir wollen mit unserer Zukunftsfiktion die Aufmerksamkeit auch auf die Konsequenzen einer solchen Technologie lenken, bevor diese Technologie dahingehend erweitert wird. Dabei zeigen wir auch eine Superkommerzialisierung der Animal-Tracking-Technologie aber auch wie sich die Mensch-Tier-Verhältnisse ändern.
Mit dieser Animal-Tracking-Technologie erweitert sich das Interesse an Natur oder anderen Spezies. Ich habe diese Waldtiere immer als sehr entfernt von uns wahrgenommen, mit dieser Technologie nähert man sich ihnen. Wir können nicht nur ihre Bewegungen nachvollziehen, sogar eine bestimmte Beziehung aufbauen. Das führt zu einem neuen Mensch-Natur-Verhältnis.
PHILIPP F. HENNCH: In eurer Arbeit und Website backbackofwings.earth können wir den Storch Jonas bei seiner Flugroute verfolgen und fiktive Geschichten zu seinen möglichen Erfahrungen schreiben. Wie würdet ihr diese neue Beziehung zwischen Menschen und Wildtieren in eurer Fiktion beschreiben?
HYESEON JEONG: Das kehrt wieder zum Kern der Mythologien zurück. Man stellt eine starke Verbindung mit den einzelnen Lebewesen her.
SEONGMIN YUK: Es wird eine persönliche Bindung aufgebaut. Die Tiere werden nicht nur als ein Teil ihrer Spezies gesehen sondern als individuelle Wesen. Sie werden nicht nur als Ressource gesehen sondern eine Persönlichkeit und Geschichte in sie hineingespiegelt.
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PHILIPP F. HENNCH: Mit dem Tracking von Wandervögeln werden ihre Migrationsrouten erfasst. Daten entstehen die auch Raum und Bewegung umfassen. Sie sind wie ein neuer Blick, sozusagen eine Perspektive des Vogels auf Landschaften, Orten und Länder, die attraktiv zum Landen sind und Orte die vermieden werden. Welche Rolle spielt diese Bewegung?
SEONGMIN YUK: Das ist eines der Ergebnisse aus unserem Arbeitsprozess. Je mehr wir auf die Migrationsroute eingehen, desto mehr merkten wir: Ihre Erzählung ist stark mit dem Alltag verbunden. Dies wird auch in den räumlichen Daten sichtbar. Anhand der Orte die Jonas anfliegt, können so viele Geschichten erzählt werden. Interessante und auch schmerzhafte Geschichten aus unterschiedlichsten Bereichen, all dies wird in fiktiven Erzählungen an unserer Gesellschaft rückgespiegelt. Stellst du eine bestimmte Beziehung zu einem Tier her, kannst du nicht nur eine Geschichte über das Tier schreiben, sondern auch über dich, deine Familie, dein Land oder deine Gesellschaft.
HYESEON JEONG: Im Endeffekt kannte ich aus unseren Ergebnissen nicht nur die ganze Migrationsroute von Jonas. Vielmehr kartographierten wir damit auch die Transportwege eines bekannten osteuropäischen Müllentsorgungsunternehmens, die auch Müll aus dem Vereinigten Königreich und Deutschland dorthin transportiert. Anhand dieser Perspektive werden auch andere politische Aspekte beleuchtet, wie beispielsweise der Bau eines Staudamms in Syrien, der im unteren Teil des Flusses zu Trockenheit und Krisen führen wird. Man kann sich also da mehrere Aspekte der Migrationsroute von Jonas heranziehen und unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten.
SEONGMIN YUK: Und, für Jonas ist das alles egal. Zumindest was die menschlichen Grenzen angeht. Deren Konsequenzen sind jedoch nicht egal.
Fotos und Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung von Hyeseon Jeong und Seongmin Yuk.
Interview von Philipp Franz Hennch mit Hyeseon Jeong und Seongmin Yuk (2) mit einer Einleitung von Celica Fitz (1).
LINKS
Projekt: backpackofwings.earth/
//jjjyyy.xyz/The-Backpack-of-Wings-Modern-Mythology
Künstler:innen: //jjjyyy.xyz/
GASTAUTOR: PHILIPP F. HENNCH
Philipp Franz Hennch (er/sein) ist Gastautor bei kunst-religion. Der Kunstsoziologe erforscht Schnittstellen von öko-sozialen Transformationsprozessen im Anthropozän und deren Thematisierung in aktueller Kunst und Kultur. Anschließend an seine Forschung und Thesis zu „Gesellschaft in der kritischen Zone. Neuvermessungen von Mensch-Welt-Verhältnissen in politischen Fiktionen des Zentrums für Kunst und Medien Karlsruhe“ (2022) hat er in der Veranstaltung DRIVING THE HUMAN. SEVEN PROTOTYPES FOR ECO-SOCIAL RENEWAL Interviews mit Künstler*innen über die Rolle von Gegenwartskunst in Entwürfen zukunftsfähigen Zusammenlebens in Zeiten sozialer und klimatischer Krisen geführt. Er arbeitet als Assistenz Kurator in der kommunalen Galerie Wedding und ist Teil des künstlerischen Leitungsteams der kommunalen Galerie Bärenzwinger im Köllnischen Park in Berlin.