Vortrag beim Sprengeltag in Marburg 2008
von Thomas Erne
I. Einstimmung
a) Geiles Dorf: Sido und McJeremy
„Meine Kühe, Meine Schafe, meine Hühner, meine Schweine, meine Scheune, mein Traktor: mein Dorf. Meine Felder, meine Äcker, meine Wiesen, meine Weiden. Dafür finde ich spontan nur ein Wort (geil)“, rapt der 16jährige Nils Gaudlitz aus dem 3000 Seelen zählenden Lütjensee vor den Toren von Hamburg. Mit seinem Indepent-Label „www.agrar-music.de“ landet der Schüler unter dem Künstlername McJeremy einen Sensationserfolg. „Mein Dorf“, der Song, der als Spaß für seine Freunde gedacht war, trifft den Nerv jugendlicher Zuhörer.
Gekonnt ironisiert der Nobody eine Vorlage des Rap Star Sido. Dessen Erfolgstitel, „Mein Block“, zeichnet ein hartes, düsteres Porträt eines Berliner Wohnblocks. Die Faszination der urbanen Hölle. Dort gibt es alles und das meiste ist verboten: Drogen, Kriminalität, Gewalt, Sex und Ruhm. Frech, witzig und sauber dagegen das neue Selbstbewusstsein vom Lande: „Was will ich in der Stadt, da sind doch schon genügend andere?“ Am Ende greift der Jungrapper vom Lande die provozierende Frage des Altmeisters aus der Stadt auf. Sido: „Yeah, jetzt könnt ihr entscheiden. Wer hat den geileren Block in Deutschland, Alter?“ Und Nils Gaudlitz als McJeremy fragt zurück: „Yeah. Mein Dorf, mein Dorf, meinDorf. Wer hat die geilere Heimat – Sido oder ich?“
b) Heiles Dorf –wo die Götter noch bei den Menschen leben
Stadt und Dorf: In der variantenreichen Geschichte dieses Gegensatzpaares spiegeln sich die Modernisierungsschübe in der Neuzeit und ihre kulturellen Konsequenzen wieder. Für Robert Musil ist in seinem Romantorso „Der Mann ohne Eigenschaften“ das Dorf der Ort einer quasi mythischen Ganzheit, die aber in der Stadt scheitern muss. Das zeigt sich auf dem Heimweg Ulrichs, der Hauptfigur des Romans, von einer festlichen Abendeinladung bei einem Großindustriellen. Es wird ein Heimweg im doppelten Sinn. Denn Ulrich geht auf dem Weg nach Hause in der Erinnerung zurück, in seine Kindheit auf dem Lande, an den heimatliche Ort, an dem noch die „Götter bei den Menschen wohnen.“ Mit dieser Erinnerung kommt die Einsicht in das Konstruktionsprinzip des Lebens auf dem Lande. Es ist eine Art „perspektivischer Verkürzung des Verstandes“. Das Kleine erscheint groß und das Große klein, die private Welt rückt in den Vordergrund und alles andere in den Hintergrund.Diese Ordnungsleistung, die das Dorf erbringt, ist die Ulrich in der Stadt abhanden gekommen. „In der Stadt“, sagt er, “wo es tausendmal so viele Erlebnisse gibt, ist man nicht mehr imstande, sie in Beziehung zu sich zu bringen“ (Robert Musil, 1976, 649). Moderne Menschen sind nicht mehr das sich selbst bewusste, reflektierte, aus der Distanz zur Welt entscheidende und mit sich in seinem Tun identischen Selbst. Es sind nicht In-dividuen, sondern Dividuen, die einen Prozeß der existentiellen Teilbarkeit druchlaufen. Jeder muß dauernd Entscheidungen treffen. Man ist schlicht nicht mehr in der Lage, lineare narrative Biographien zu konstruieren. Moderne Dividuen balancieren zwischen Scheidung, Jobverlust und permanenter Selbstanpreisung. Sie sind nicht Künstler, sondern Bastler, Flickschuster ihrer selbst. „[Auch] diese … Dividuen haben noch den Wunsch zu reflektieren, aber sie haben keine Zeit mehr dafür. Sie sind Improvisateure, Kombinierer, sie knüpfen Netzwerke, konstruieren Allianzen, treffen Vereinbarungen, um das Nötigste zu bewältigen, beispielsweise das Kind in den Kindergarten zu bringen … Alles steht immer kurz vor dem Zusammenbruch. Und alles muß sofort, distanzlos, hautnah, umgehend, prompt, erledigt, abgewehrt, eingedämmt, angeschoben werden. Der Ausnahmezustand ist normal geworden. Es handelt sich um ein ganz normales Chaos“ (U. Beck). Dafür steht der urbane Mensch ohne Eigenschaften: Für einen behänden Wechsel der Blickrichtungen, eine leichtgängige Beweglichkeit, für ungeahnte Freiheit um den Preis kein prägnanten Charakter, keine unverwechselbare Lebensgeschichte zu haben.
c) Luxus auf dem Lande – die Zukunft gehört der Stadt?
Eine Stufe weiter im Verhältnis von Dorf und Stadt – und ein halbes Jahrhundert mehr an Erfahrungen mit einer globalen Ökonomie des Überflusses und der Verschwendung. Und das Gefühl, das Dorf sei die Verkürzung des Verstandes und die Stadt die Fülle der Möglichkeiten, ist verflogen. Luxus verheißt nicht mehr ein Dasein als Wallstreet Banker, sondern ein Leben in einer halbwegs intakten Umwelt. Luxus ist es, Herr seiner Zeit zu sein, saubere Luft zu atmen, Ruhe zu haben und sich sicher fühlen: „Luxuriös muten die skandinavischen Verhältnisse an. In Norwegen zum Beispiel kommen auf einen Quadratkilometer nur 13,7 Personen“ (Hans Magnus Enzensberger, 2004, 212). Und das kulturkritische Argument des Provinziellen wird auch nicht mehr gegen das Bleiben an einem Ort, sondern gegen das Herumreisen in aller Welt gewendet. „Du sagt du hast die Welt gesehen/ warst schon auf Sylt und in den Staaten/ … und doch trotz Siena und dada/ steht auf dem Ticket nur Provinz/ … vielleicht grünt eine Zuversicht/ verborgen ganz in deiner Näh/ Ergötzen Lachen Leidenschaft/ im selben Haus du weißt es nicht“ (Okko Herlyn, 1995, 55). Schließlich die jüngste Tendenz, angesichts des steigenden Ölpreises und Abschaffung der Pendlerpauschale, wird im Wirtschaftsteil der SZ (Nr. 210 vom 9.9.2008, 19) das Ende der Landflucht ausgerufen. Die Zukunft gehört wieder der Stadt, weil der Individualverkehr an seine Grenzen gekommen ist. Nahe liegend ist da die Forderung nach Ausbau des U-Bahn, S-Bahn und Schienennetzes. Denn die Stadtflucht kann sich nicht jedermann leisten. Das Zukunftsproblem wird die Verelendung der Städte an ihren Rändern sein.
IIa. Dorf – kulturwissenschaftliche Perspektive
Das musikalische Geplänkel zwischen Dorfrapper Jeremy und Großstadtstar Sido, der doppelten Heimweg Ulrichs in Robert Musils Roman, Enzensberger bitter-ironische Neudefinition von Luxus, Herlyns Lob des Bleibens sind Varianten des affektgeladenen Gegensatzpaares Stadt und Land, City und Dorf. Der urbane Raum gilt dabei als innovativ und fortschrittlich, das Dorf dagegen als regressiver Rückzugsraum. Doch wird der Gegensatz, nach dem sich Menschen und Milieus sortieren lassen, in der Moderne zunehmend ambivalent.
1. Innere Wiedergeburt – aus dem Geist des Evangeliums? Dorfkirchenbewegung
Rehabilitationsversuche des Dorfes gab es immer wieder. So versuchte die Dorfkirchenbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts die „innere Wiedergeburt des Dorfes“ aus der „Tiefe des dörflichen Seelentums durch die Kräfte des Evangeliums“ (Gottfried Holtz, 1958, 248) zu erreichen. Die „beharrenden“ sollten gegen die „bewegenden Kräfte“ gestärkt und die spezifisch dörfliche Religiosität gewürdigt werden.
2. Mythos und Rationalität– das ideale NS-Dorf
Gleichwohl muss sich jede Rehabilitierung des Dorfs an einer gegenläufigen Wirkungsgeschichte bewähren, die sich ebenfalls mit Dorf und ländlicher Lebensform verbindet. Das Dorf ist eben nicht nur Symbol für die Träume der Kindheit und die Schlupfwinkel der Erwachsenen. Es ist auch der Ort dumpfer Sitte, eines Terrors der Intimität, einer ideologischer Verklärung des Ursprünglichen verbunden mit einer maschinellen Produktion im Nationalsozialismus (vgl. Eckhard Fenner, 1982, 148) und des bornierten Widerstands gegen die moderne Pluralität von Lebensformen und Lebensstilen.
3. Heimat – Edgar Reitz
Anders, ohne restaurative Untertöne, dagegen Edgar Reitz. Er explorierte von 1984 bis 2004 das Dorf als eine bestimmte Modifikation des sozialen Raumes und des kulturellen Gedächtnisses in seiner gewaltigen Filmtrilogie „Heimat“. In „Schabbach“, einem fiktiven Dorf im Hunsrück geht Reitz, entlang der Lebensgeschichte von Dorfbewohnern, den Facetten im Bedeutungswandel des dörflichen Lebens im Laufe eines Jahrhunderts nach. Mit dem Dorf verbindet sich für Reitz dreierlei:
Sicherer Ort: Die Sehnsucht nach einem sicheren Ort, was „allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat“ (Ernst Bloch, 1978, 1628).
Wahlheimat: Dorf ist aber auch eine Chiffre für die Wahlheimat der Erwachsenen, das Dorf in mir, die Familie, die Freunde, die Kollegen- und Nachbarschaft, das selbstgeknüpfte und vorgefundene Netz familiärer und sozialer Beziehungen.
Widerlager der Globalisierung: Und Reitz löst das Dorf aus seiner sentimentalen Verklärung und entdeckt im Dorf eine aus den Quellen der Romantik gespeiste Widerstandskraft zur weltumspannenden Globalisierung.
4. Entschleunigtes Leben
Und schließlich der Entwurf eines entschleunigten Lebens, einer Verankerung in der Tiefe der Zeit, die der Globalisierung abgerungen ist, anrührend gezeigt im Film „Straight Story“ von David Lynch.
IIb.) Dorf in soziologische Lektüre – Milieuzugehörigkeit statt Dorf- oder Stadtbewohner
In der soziologischen Forschung werden durch die Mentalitäts- und Milieuforschung das traditionelle Klassen- und Schichtenmodell hinterfragt (vgl. F. Benthaus-Apel, 2000, 365ff.). Das betrifft auch den traditionellen Gegensatz von Dorf und Stadt. Die fortschreitende Auflösung einer ländlichen Lebens- und Produktionsweise im Zuge der Industrialisierung, die Auflösung einer zyklischen Zeitstruktur, die im Dorf von den Jahreszeiten bestimmt war, die Mobilität der Dorfbevölkerung, die Anbindung des Dorfes an globale Mediensysteme haben die Struktur des Dorfes so gravierend verändert, dass es kaum noch von Bedeutung für die Zuordnung zu einem sozialen Milieu hat. Wo jemand wohnt und woher er kommt, ob aus dem Dorf oder aus der Stadt, informiert kaum noch über seinem sozialen Status. Zum „Verblassen von Zeichen“ sozialer Zugehörigkeit gehören neben dem Wohnort der Beruf als Indiz für die Zugehörigkeit zu einer Schicht, die Statussymbole der Warenwelt so wie die Religion (vgl. Gerhard Schulze, 82000, 192ff.). Die Zugehörigkeit zu einem der Milieus und damit die soziale Wahrnehmung eines Menschen, etwa zum Selbstverwirklichungs- oder Unterhaltungsmilieus, hängt dagegen von bestimmten Vorlieben ab, von einem bestimmten Lebensstil, von milieugerechtem Auftreten, von Inszenierungstechniken, von Art und Häufigkeit der Mediennutzung, von Bildung und Sprache. Durch diese sozialen Zeichen signalisiert man die Beziehung zu bestimmten Milieu und grenzt sich von anderen ab.
IIc.) Phänomenologischer Blick
Nicht alle „Bedeutungsreste des Zeichens >Umgebung<“ (Gerhard Schulze, 2000, 196) können vollständig in kulturell vermittelte Präferenzen überführen werden. „Das Lebensumfeld mit all seinen räumlichen und sozialen Beziehungsfeldern hat [nach wie vor] entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmungen und Verhaltensdispositionen der darin lebenden Menschen“ (Fremde Heimat Kirche, 1997, 318). Dieser Einfluss des Ortsbezugs auf soziale Milieus wird von der Milieuforschung auch nicht bestritten. Bestritten wird lediglich, dass der Ort durchgängig ein dominantes Merkmal sozialer Identität sei. Für bestimmte Milieus ist der Ortsbezug nach wie vor eine entscheidende Milieugrenze, für andere dagegen spielt der Wohnort kaum eine Rolle mehr.
1. Hochhausschachtel und das Heldentum der Treppen
Gaston Bachelard bringt einen „Bedeutungsrest“ des Dorfes als spezifische Modifikation des Ortsbezug sozialer Milieus lapidar auf den Punkt: „In Paris gibt es keine Häuser. Die Bewohner der Großstadt wohnen in übereinandergestellten Schachteln“ (Gaston Bachelard, 1957/1960, 51). Bachelard vermisst in der Großstadt die Keller. Häuser haben in der Stadt keine Wurzeln. Und die Fahrstühle zerstören „das Heldentum der Treppen“, auf denen das Kind dem Wagnis begegnet in die dunkle Unterwelt hinunter, wie in die lichte Oberwelt hinaufzusteigen.
2. Dorf: Der soziale Raum ist zeitlich „unterkellert“
Im Dorf dagegen gibt es nicht nur Häuser mit Keller, sondern der soziale Raum des Dorfes selbst ist unterkellert, und zwar in Form eines funktionierenden kollektiven Gedächtnisses. In dieser Perspektive einer „Phänomenologie des gelebten Raumes“ (Peter Kiwitz 1986, 136) verbindet sich mit dem Dorf eine bestimmte Modulation der Horizonte in der Lebenswelt. Das Dorf als sozialer Raum stellt ein intaktes Vertikalbewusstsein dar, das Vergangenes mit Zukünftigen verbindet – siehe Bildunterschrift Dorfkirche – und das auf dieser Linie am Erinnerten das Vergessene und am Geklärten das Undurchschaute präsent hält. Dieses Vertikalbewusstsein gleicht einer Verankerung des Menschen in der Tiefe der Zeit, so der Hinweis von J. Assmann (Religion und kulturelles Gedächtnis, 2000) auf Thomas Manns Programm den Mythos zu humanisieren: „Thomas Mann stellt den Mythos in den Funktionsrahmen einer >vertikalen Verankerung< des Menschen in der Tiefe der Zeit“ (ebd. 200) und „Dabei stellt Thomas Mann aber nicht Vergangenheit und Zukunft einander gegenüber, sondern die vertikale, in Tiefe und Höhe, Vergangenheit und Zukunft ausgreifende diachrone Zeit der synchronen, gewissemaßen „horizontalen“ Gegenwart. Die vertikale Zeit sichert dem Leben Sinn, Orientierung und Zusammenhang.“ Und weiter: „Von unten kommen die mythischen Urprägungen, die „bindenden Muster der Tiefe“, von oben die richtunggebenden Verheißungen und die Freiheit der Individualität.“…. „Thomas Manns Vision einer vertikalen Zeitachse quer zur Synchronie der Gegenwart als Quelle von Sinn, Orientierung und >Segen< lässt sich als eine großartige Analyse des kulturellen Gedächtnisses lesen.“ (203). Und schließlich ein Hinweis auf Botho Strauß´ Bemühung um Verwurzelung. „Wie wenig könnte es befriedigen, nur und ausschließlich der Typ von heute zu sein. Die Leidenschaft, das Leben selbst braucht Rückgriffe und sammelt Kräfte aus Reichen, die vergangen sind, aus geschichtlichem Gedächtnis. Doch woher nehmen? Dazugehörigsein in der Fläche der Vernetzung ist an Stelle der zerschnittenen Wurzeln getreten: das Diachrone, der Vertikalaufbau hängt in der Luft.“ (203).
3. Affektive und räumliche Mitte
Und das Dorf steht auch für ein ausgeprägtes Zentralbewusstsein. Eine Art Markierung des eigenen Standortes und einer affektive Mitte, aus dem das Gefühl der Zugehörigkeit erwächst. Im Dorf können sich in seiner Überschaubarkeit die Lebenslinien, auch unterschiedlicher Milieus, an einem Punkt schneiden und deshalb bietet das Dorf seinen Bewohner wie seinen Besuchern das Gefühl, dass es dort einen Anhalt gibt, ein Konzentrationsfeld für die zentrifugalen Bewegungen ihres Lebens. Beides, Vertikal- wie Zentralbewegung, gehören zu den Horizonten und Horizontverschiebungen, in denen wir alltäglich leben – auch zu den Horizonten, in denen wir in der Stadt leben. Allerdings akzentuiert das Dorf beide Bewegungen auf eine prägnante Weise, die deutlich sichtbar werden lässt, worin ihre biografische Bedeutung liegt.
IV. Gegenwärtige Praxisfelder
Verknüpfung von Alltag und Religion – Tübinger Tische, eine Kunstaktion von Gabi Erne, Tübingen 2005
Im Februar 2005 sitzt Familie Fischer vier Wochen an ihrem Esstisch vor einen weißen Karton, 70 auf 100 cm. Auf dem Karton steht handschriftlich eine von ca. 250 Bibelstellen zum Stichwort Brot: „Wer ein gütiges Auge hat, wird gesegnet; denn er gibt von seinem Brot den Armen“ (Spr. 22,9). 99 weitere Tische sind neben dem der Familie Schuster an der Aktion Tübinger Tische der Künstlerin Gabi Erne beteiligen. Dort sitzen kinderreiche Familien, alleinerziehende Eltern, Singles, Studenten-WGs an ihrem Esstisch, bedeckt mit einem Karton als Tischdecke und einem Bibelzitat. Jeder dieser Esstische steht in einem Haushalt, der zur Tübinger Stiftskirchengemeinde gehört – zwar kein Dorf der Größe nach, aber der Mentalität. Der weiße Karton auf 100 Tischen dokumentieren in den vier Wochen seines Gebrauchs die Spuren des alltäglichen Essens, die Fettflecken, Rotweinspritzer, Marmeladenkleckse, die Kritzeleien, Kurznotizen, Telefonnummern. „Lassen sie mit dem Bogen Papier geschehen, was auf ihrem Esstisch im Alltag eben geschieht“, so die Bitte der Künstlerin. 90 Blätter kamen nach vier Wochen zurück zu der Künstlerin, zusammen mit Photos der Tischrunden und kurzen Kommentaren. Die Blätter werden von der Künstlerin nicht selber bearbeitet, sondern nurgefasst. Sie verhüllt die Bogen mit halbtransparenten Papier, eine Art Schutzschicht für die Intimität der familiären Tischsituation, und gewähren ausgesuchte Einblicke an goldumrandeten Öffnungen, die ins Pergament eingeschnitten sind, Gold, das die Wertlosigkeit der Essensspuren ins Gegenteil kehrt. Man stelle sich nun vor man würde seinen Gästen bei Tisch stolz die Spuren des alltäglichen Essens zeigen anhand einer goldumfassten Tischdecke, die seit vier Wochen nicht mehr gewechselt wurde. Auch das wäre eine „beispielhafte Enthierarchisierung“ (J.-C. Ammann) des Alltäglichen: Die nebensächlichen Dinge von scheinbar geringem Wert, die Teil unseres Alltags sind, mit denen wir täglich arbeiten und in die wir viel Zeit investieren werden mit derselben Aufmerksamkeit behandelt wie die Dinge von großem Wert. Das alltägliche Leben, das sich oft in banalen Formen abspielt und an Gegenständen von geringem Wert seine Spuren hinterlässt, wird so ins Bewusstsein gehoben. Die Eröffnung der Ausstellung der 90 Blätter in der Stiftskirche mit einem Gottesdienst am Gründonnerstag führt die teilnehmenden Familien, Paare, Wohngemeinschaften in die Kirche vor ihr eigenes Bild. Beim Gottesdienst herrscht rege Beteiligung. Alle wollen sehen was aus den Spuren ihres alltäglichen Essens geworden ist und entdecken die Beziehung zwischen ihrem Tisch und dem Altar, zwischen dem Teilen und Brechen des Brotes zuhause und dem Brechen und Teilen des Brotes beim Abendmahl.
Bemerkenswert an der Kunstaktion von Gabi Erne sind vier Punkte:
1. Zum einen stiftet sie soziale Kommunikation, im Alltag des Hauses am Tisch jeder Familie, zwischen den 100 beteiligten Haushalten und zwischen den ehrenamtlichen Mitabeitern der Gemeinde, die als Verteiler der Tischunterlagen in den Häusern fungierten.
2. Soziale und religiöse Kommunikation, Haus und Kirche, werden in der Kunstaktion miteinander verknüpft. Sozial-phänomenologisch würde man vermutlich bei den Bibelzitaten auf den häuslichen Tischen von „religiösen Sinnprovinzen“ (E. Hauschildt 1996, 277) im Alltag sprechen, der „Verkörperung einer anderen Wirklichkeit in der alltäglichen“ (A. Schütz/Th. Luckmann, 1994, 178). Und umgekehrt handelt es sich bei den ästhetisch gefassten Spuren des alltäglichen Essens in der Kirche um Enklaven des Alltags im liturgischen Vollzug des Gottesdienstes.
3. Dieser Zusammenhang sozialer und religiöser Kommunikation ist räumlich konfiguriert. Es ist eine Kommunikation unter leiblich co-präsenten Personen. Der Esstisch, sein Ort innerhalb des Hauses, die Sitzordnung der Familienmitglieder etc. konfiguriert eine Szene elementaren häuslichen Austausches. Und diese Szene ist eine Variation der Szene auf der religiösen Bühne. Beide Szenen sind zudem durch den Weg vom Haus zur Kirche und zurück räumlich vernetzt. Die Hängung in der Kirche, ein Bilder-Reigen um den Altar, positioniert analog zur Sitzordnung der Familienmitglieder die häuslichen Tische um den Tisch des Herrn. So wird der Raum der Kirche zum Lebensraum. Ein Raum, in dem sich das alltägliche Leben am Esstisch einer Familie um den Altar, den „Esstisch“ der Gemeinde konzentriert, und dort im Horizont, der durch die Bibelzitate auf den Kartons bereist angedeutet ist, alltägliches Leben und Essen religiös verstanden und gedeutet wird.
4. Und schließlich bedarf es der ästhetischen Darstellung. Der Zusammenhang zwischen sozialer und religiöser Kommunikation muss artikuliert werden, und zwar im Unterschied zum Museum nicht in einer Sphäre der Absonderung, der Ausstellung des Nicht-Gebrauchs, sondern in der spielerischen Form (Vgl. G. Agamben, 2005, 72) religionsästhetischer Darstellung, die den sozialen Sinn im darstellenden Handeln des liturgischen Vollzugs bewahrt und bewusst macht.
V. Zukunftschancen
1. Die Kirche verändert sich mit dem Dorf. Sie kann in den Wechselfällen des dörflichen Lebens einen unbedingten Sinn plausibel machen. Dann ist Kirche mitten im Dorf und hat Zukunft.
2. Unterschiedliche Milieus habenihre religiösen Wurzeln in der Kirche im Dorf. Der Kirchenraum ist eine Chance sie zu erreichen und miteinander zu verbinden.
3. Kirchen im Dorf müssen geöffnete Kirchen sein.
4. Nutzungserweiterungen, die dem Auftrag der Kirche nicht widersprechen, können den Horizont der Kirche im Dorf erweitern.