Der Mensch als Individuum und in der Gemeinschaft wurde in architektonischen Entwürfen und liturgischen Reformprozessen zum Ideal derNachkriegszeit, nachdem in den Jahren bis 1945 in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen Maßstäblichkeit und Menschlichkeit zerstört worden waren. Im Sakralbau entstanden strenge, nüchterne Räume, die seither häufig Umbauten unterworfen sind. Fachleute plädieren dabei in der Regel für den Erhalt des ästhetischräumlichen Ursprungsentwurfs und stehen damit oft im Widerspruch zu dem Wunsch von Gemeindemitgliedern nach persönlicher Einrichtung und dekorativer Ausschmückung bis hin zur „Verwohnzimmerung“. Zeigt sich im Aufeinanderprallen von idealen Raumkonzepten und einer individualisierten Nutzungspraxis eine Geschichte des Scheiterns?
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist in den Diskussionen um eine zeitgemäße Liturgie sowohl auf theologischer als auch auf architektonischer Seite über neue Raumauffassungen nachgedacht worden. Der Mensch, das menschliche Maß, prägten nach 1945 als architektonische Richtwerte und als soziokulturelle, moralische Kategorien Debatten in Politik, Gesellschaft und Kirche.
Kirchbautage diskutierten Wiederaufbaufragen und rangen um liturgische Reformen, die dem Individuum und der Gemeinschaft Raum und Partizipationsmöglichkeiten lassen sollten. Vertreter aus Politik, Wissenschaft, Geistesleben und Baupraxis trafen sich zu Darmstädter Gesprächen und führten unter programmatischen Titeln wie „Das Menschenbild unserer Zeit“ (1950), „Mensch und Raum“ (1951) und „Ist der Mensch messbar?“ (1958) Grundsatzdebatten über die demokratische und humanistische Erneuerung der Gesellschaft. Hier wurde der gebauten Umwelt eine besondere Verantwortung im gesellschaftlichen Erneuerungsprozess zugeschrieben. Sie könne, so die verbreitete Haltung, zur humanistischen Neupositionierung beitragen.
In diesem Heft werden ideale Raum- und Liturgiekonzepte an prominenten Sakralbauten der Nachkriegszeit wie St. Laurentius in München (W. Zahner) und der St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin (S. Schulte) sowie einflussreichen Baumeistern wie Otto Bartning (S. Wagner-Conzelmann) vorgestellt. Die Diskussionen um die Umbauplanung von St. Hedwig zeigen, wie das historische Liturgie- und Raumkonzept(A. Gerhards) durch neue Visionen einer Kathedrale des 21. Jahrhunderts (L. Zogmayer) herausgefordert wird. Dass die idealen Raumkonzepte unter Druck des nachträglichen Sich-Einrichtens durch die Gemeinden stehen (R. Liptau), machen Debatten um soziologische Identifikationsprozesse (I. Nierhaus) und ästhetische Standards (P. Steiner) deutlich. Muss eine Kirche als besonderer, außeralltäglicher Ort außen (K. Berkemann) wie innen erkennbar sein? Das Heft möchte mit architekturhistorischen, theologischen und soziologischen Perspektiven einen Beitrag zu aktuellen Diskussionen zu Umbauten von Kirchen leisten.
Ralf Liptau und Anna Minta