Die immateriell-materielle Doppel-bewegung, die im Licht möglich ist, findet einen architektonischen Ausdruck in der gotischen Kathedrale, folgt man der umstrittenen These von Erwin Panofsky. Die Fenster der gotischen Kathedralen sind Schwellen, an denen das immaterielle Licht sichtbar wird und im Sichtbaren ein immaterieller Grund aufscheint. In der modernen Kirchenarchitektur wird das Licht dagegen selber zu einem tragenden Element der Architektur. Das immaterielle Licht scheint das Materielle zu tragen.
Was folgt für diese metaphysischen Variationen, die im Licht das immaterielle Medium sehen, das alles sichtbar werden lässt, ohne selber sichtbar zu sein, wenn sich nicht nur der Kirchenbau, sondern auch die Kunst von der Bindung an das natürliche Licht löst? Die Architektur schafft mit Hilfe von Lichttechnik eigene Lichträume. Und die Kunst etabliert mit dem elektrischen Licht eine neue Kunstform. Glühbirnen, Neonröhren und LEDs machen aus Kunstlicht die Lichtkunst. Vor allem die Farbe, die in der klassischen Malerei das Licht nur reflektiert, scheint in der Lichtkunst zu einer raumschaffenden Größe aufzusteigen.
Das erste Heft von Kunst und Kirche im Jahr 2016 folgt diesen Spuren des Lichts im Kirchenbau und in der Kunst der Moderne. Die Essays von Thomas Erne, Daniela Mondini und Anna Minta kreisen um die Funktion und Bedeutung des Lichts, das im Kirchenbau seit Anbeginn für eine Atmosphäre der Transzendenz sorgte. Über das Licht in der Kunst, auch von Slow Light in der Beleuchtung von Kulturdenkmälern, unterhält sich Monika Leisch-Kiesl mit Siegrun Appelt, eine der führenden Lichtkünstlerinnen Österreichs. Der österreichische Künstler Kurt Straznicky ist zwar kein ausgewiesener Lichtexperte, aber wie intensiv er mit Licht arbeitet zeigt sich im Gespräch mit Alois Kölbl. Seine Auferstehungsskulptur in der Neulerchenfelder Kirche in Wien ist zugleich eine Auferstehung des Lichts. Der Düsseldorfer Künstler Mischa Kuball erläutert im Gespräch mit Hannes Langbein seine Erfahrungen mit Licht-Interventionen im öffentlichen Raum. Schließlich spricht Gor Chahal, ein russischer Medienkünstler mit Alois Kölbl über Licht und den Dialog eines zeitgenössischen Künstlers mit der russisch-orthodoxen Kirche. Ein Kunstpilgerpfad zum Thema Licht, den Alois Kölbl vorstellt, schließt den Essayteil des Heftes ab.
Thomas Erne