Die Künstlerin und Choreographin Marie Werthschulte entwickelt neue Narrative für Relationen und Resonanzen von Ökologie und Körpern und hinterfragt anthropozentrische Denkweisen und Dichotomien. In ihren Performances im Kirchenraum treten Themen wie das Bienensterben und der weibliche Zyklus in Resonanz mit Sinnfragen. Wie sie das Wissen des Körpers als Herangehensweise ihrer künstlerischen Praxis versteht, ist Thema des Künstlerinnengesprächs zwischen Christina Bickel (Redaktion KuRe) und Marie Werthschulte.
Christina Bickel: Liebe Marie Werthschulte, magst Du Dich und Deine künstlerische Arbeit zunächst einmal vorstellen?
Marie Werthschulte: Nach meinem Studium Performance Studies in Hamburg lag der Schwerpunkt meiner künstlerischen Arbeit auf Tanz/Performance, Bewegungsforschung und Choreographie. Inzwischen arbeite ich darüber hinaus mit unterschiedlichen Medien und Ausdrucksformen, darunter Installation, Skulptur, Video, Zeichnung und Text.
Da ich derzeit in Kassel Bildende Kunst studiere, habe ich viele Möglichkeiten, verschiedene Disziplinen kennenzulernen und diese in meine Arbeitsweise einzubringen. Künstlerische und theoretische Recherche begleiten oft meine Arbeitsprozesse, wobei mein Abschluss in Medien- und Kulturwissenschaften zum Tragen kommt.
Der Körper bleibt für mich zentral im Arbeitsprozess, da ich mit dem Körper die Welt wahrnehme und körperlich auf sie reagiere. Ich finde den Körper faszinierend, denn für mich ist er ein Universum, in dem es unendlich viel zu entdecken gibt und der mir viel darüber verrät, was im „Außen“ passiert. Beeinflusst ist mein Verständnis für den Körper durch verschiedene Bewegungsstudien und -methoden (u. a. Laban/Bartenieff, Body-Mind Centering®, Yoga) sowie durch die Embodiment-These in der Kognitionswissenschaft, welche von einer Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche ausgeht.
CB: Und kannst Du noch genauer erzählen, wie du den Körper als zentralen Zugang in Deiner Kunst einsetzt?
MW: Im Sommer 2023 habe ich z.B. die Skulptur „Wellenflüsterin“ hergestellt, welche eine etwa 80 cm breite Darstellung des Innenohrs ist. Das Innenohr besteht aus der Hörschnecke und dem dreiarmigen Gleichgewichtsorgan. Im Kontext der Ausstellung „UNDER PRESSURE – How Deep Is Your Love?“, welche den Ozean zum Thema hatte, habe ich durch das körperliche Organ für Gleichgewicht einen Bezug zum ökologischen Gleichgewicht herstellen können. Gleichzeitig steht das Hörorgan für das Zuhören und die Bewusstwerdung des aktuellen Zustands der Meere. Die Form des menschlichen Innenohrs wurde zudem von vielen Betrachter:innen mit einem Meerestier assoziiert oder sogar dafür gehalten.
Der menschliche Körper zeigt, dass er teilweise gleiche physikalische Gesetze und physische Formen in sich trägt, wie wir sie bei anderen Lebewesen und Dingen finden, z.B. die Spirale und die Wellenübertragung. Während die im Anthropozentrismus angenommene Trennung Mensch/Tier bzw. Kultur/Natur mit einem überheblichen und ausbeutendem Umgang mit natürlichen Ressourcen zusammenhängt, weist die Skulptur auf den Aspekt der Ähnlichkeit, Verwandtschaft und auch Abhängigkeit hin.
In meiner künstlerischen Arbeit gehe ich also von einem Körper-Wissen aus, über das ich versuche, die Welt um mich herum besser zu verstehen und Fragen wie auch Antworten im Körperlichen – in Formen und Bewegungen – zu finden. Dabei trenne ich nicht zwischen scheinbar Materiellem und Immateriellen, denn auch Gedanken und Emotionen sind chemische oder elektrische Prozesse.
CB: Du hast intensiv auf der Schnittstelle von Performance und Ritual gearbeitet. Wie bist Du dazu gekommen?
MW: Die Idee, Ritual und Performance zusammen zu bringen, entspringt der Annahme, das beide Formen obgleich ihrer offensichtlichen Unterschiede aus den selben menschlichen Interessen entstanden sind: das Erleben von Gemeinschaft und von Transformationsprozessen.
Rituale interessieren mich, weil sie ein performativer Akt sind. Sie haben eine festgelegte Struktur – man könnte auch sagen Dramaturgie – geschehen live zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort, brechen aus dem Alltag aus und passieren üblicherweise in Gemeinschaft. Sie haben zudem etwas Direktes, Offenes und Unberechenbares. Diese Merkmale lassen sich auch bei künstlerischen Performances finden.
Darüber hinaus fasziniert mich die potentielle Wirkkraft von Ritualen. Sie sind oft in einem religiösen oder spirituellen Kontext eingebettet und markieren einen Übergang, eine Veränderung oder haben ein Thema wie z.B. Dankbarkeit oder Heilung. Mit anderen Worten: Rituale verfolgen eine klare Absicht und bei vielen steht Transformation im Vordergrund. In Ritualen sind außerdem künstlerische Elemente eingebunden, wie beispielsweise Gesang, Klänge, Bewegungsabläufe oder Tanz.
Daraus haben sich für mich viele Fragen für den Bereich der Performance-Kunst ergeben: Welche rituellen Eigenschaften hat eine künstlerische Performance? Welche Rollen spielen Transformation und Gemeinschaft im Feld der darstellenden Künste? Welchen Einfluss hat es auf eine Performance, wenn sie eine Absicht verfolgt und was macht es, wenn das Publikum davon weiß oder nicht? Ab wann wird ein Ritual zu einer künstlerischen Performance und umgekehrt? Kann es beides gleichzeitig sein?
CB: Und wohin, zu welchen Erfahrungen und Erkenntnissen haben Dich Deine Fragen geführt? Hat sich durch die rituelle Praxis etwas für Dich verändert?
MW: Was ich für mich aus dieser Recherche mitnehme sind keine abschließenden Antworten auf meine Forschungsfragen, sondern, dass ich mir diese Fragen bei allen weiteren künstlerischen Arbeiten stellen kann. Ich kann navigieren zwischen den Polen von Absicht und Absichtslosigkeit, d.h. ich kann mich fragen, ob ich mit dieser Arbeit etwas Konkretes bewirken oder sie offen lassen möchte. Die Rolle der Zuschauenden kann ich konzipieren zwischen mitwirkend und passiv, mitwissend und nicht-wissend, bezeugend und schauend, usw. Dabei ist ein „sowohl – als auch“ möglich, statt einem „entweder – oder“. Ich kann mich fragen, wie wichtig mir der gemeinschaftliche, verbindende Aspekt einer künstlerischen Arbeit ist. Auch wie ich eine Ausstellung oder Performance beginne oder beende ist mir seit der Auseinandersetzung mit Ritualen bewusster geworden. Insgesamt haben mich die Auseinandersetzung und die Erfahrungen mit Ritualen in meiner Arbeitsweise sehr geprägt.
Die rituelle Praxis habe ich zudem als ein eigenes Wissensfeld erfahren. Im Ritual eröffnet sich ein fluider liminaler Ort, wo viel passiert und Wissen generiert wird. Die Erfahrung dieses Wissens ist oft körperlich/leiblich. Kunst und Ritual funktionieren vielleicht auch deshalb so gut zusammen, weil beide Phänomene im Liminalen, also in Grenzbereichen, verortbar sind.
CB: In Deiner Arbeit „Die Struktur von Honig“ beschäftigst Du Dich mit dem Bienensterben. Wie hast Du dieses Thema performativ-rituell umgesetzt?
MW: Drei weitere Performer:innen und ich haben uns dem Thema aus zwei Richtungen genähert: zum einen über die Mittel der Choreographie und Bewegungsforschung, zum anderen über eigene Ritualerfahrungen. Die Quellen der Inspiration und Materialentwicklung lagen also nicht nur in ästhetisch-kompositorischen Mitteln der Form, sondern zugleich im Formlosen, im Bereich des Liminalen und der Imagination.
In der Gestaltung suchten wir nach der Schnittstelle von Ritual und Performance-Kunst. „Die Struktur von Honig“ orientiert sich dramaturgisch an den vier Phasen eines Rituals: Vorbereitung, Raumöffnung, Transformation und Integration. Die Performer:innen führen in diesen Phasen verschiedene Handlungen und Bewegungsabläufe durch.
Bei der Entwicklung dieser Handlungen und Bewegungen folgten wir u.a. der Frage nach Absicht bzw. Absichtslosigkeit. Während des Probenprozesses verknüpften wir eine Handlung mit einer Bedeutung, die wir gedanklich bei der Ausführung wiederholten. Durch die häufige Wiederholung ist die gedankliche Absicht immer mehr in den Körper bzw. die Bewegung übergegangen. Es entstand eine Art Körper-Wissen, da Aktion und Bedeutung eins wurden. Parallel versuchten wir bereits kulturell konnotierte Bewegungen in Absichtslosigkeit zu begreifen: Hände, die sich aufeinanderlegen, der Rumpf, der sich über vorne abwärts beugt, der Kontakt der Körpervorderseite mit dem Boden.
CB: Besitzt die Arbeit „Die Struktur von Honig“ für Dich eine religiöse bzw. spirituelle Komponente?
MW: Ob die Arbeit für mich eine spirituelle Komponente hat, kommt darauf an, was „spirituell“ bedeutet. Wenn ich mir das Wort „Spirit“ anschaue und dies als „Seele“ oder „Wesen“ übersetze, dann kann ich sagen, dass mein Bewusstsein für die Wesensart der Biene im intensiven Proben- und Rechercheprozess, sowie schließlich während der Performances, sehr stark war. Ich habe mich wirklich verbunden gefühlt und ich glaube, da kann ich für die ganze Gruppe sprechen.
„Die Struktur von Honig“ war für mich ein „sowohl – als auch“, sowohl Ritual als auch Kunst und vielleicht auch: sowohl spirituell als auch materiell. Interessanterweise zog nämlich anfänglich die Materialität des Honigs meine Aufmerksamkeit auf sich: sein zähflüssiger Zustand, die kristallartige Form, das gold-gelbe Farbspektrum, der süße Geschmack. Die Untersuchung führte weiter über die sechseckigen Wachsstrukturen der Wabe zum komplexen Arbeits- und Lebenssystem der Bienen, die im unermüdlichen Dienst zur Erhaltung ihres Bienenvolkes den Staub der Blüten sammeln und aus Nektar Honig gewinnen. Und damit kommen noch weitere Zusammenhänge ins Spiel: Der Fortbestand der Pflanzen durch die Befruchtung durch die Biene. Der Großteil des Ökosystems und somit auch die Lebensgrundlage der Menschen lässt sich zurückführen auf das Bestehen der Bienenart. Diese Informationen liegen in der Struktur von Honig, von der Mikro- bis zur Makroebene. Hinzu kamen Empfindungen der Verbundenheit über die rituellen Erfahrungen, so dass sich auch eine immaterielle/spirituelle Ebene öffnete. Über diese vielschichtigen Annäherungen gewann ich bzw. gewannen wir als Gruppe ein Gespür für das Wesen der Biene. Mit Worten kann ich dieses Gespür gar nicht näher beschreiben, doch es war präsent und drückte sich performativ aus.
CB: Einige Deiner Arbeiten sind im Kirchenraum verortet. Kannst Du näheres über die Arbeiten erzählen? Was bedeutet der Sakralraum für Dich? Welche Raumerfahrungen hast Du darin auch mit anderen Mitperformer:innen, Mittänzer:innen gemacht?
MW: An Kirchenräumen finde ich besonders, dass sie wie Ruhepole im Alltagsgeschehen sein können. Die Aspekte der Ruhe und der Entschleunigung haben wir für das Festival DANCE IN RESPONSE aufgegriffen, das wir im „Kleinen Michel“, einer Kirche in Hamburg, veranstaltet hatten. Vor und nach den Performances gab es Phasen der Stille, während für Gespräche und Austausch ein anderer Raum vorgesehen war. Damit hatten die Performances, trotz ihrer Flüchtigkeit, mehr Möglichkeit, sich auszudehnen. Nach der Aufführung Zeit zu haben, sitzen zu bleiben oder durch den Raum zu wandern, das Erlebte nachwirken zu lassen, darüber zu reflektieren, war durch dieses Format möglich.
Außerdem beeinflusst der Sakralraum die Wirkweise und die Interpretationsmöglichkeiten einer Performance, er intensiviert den Bezug zu Spiritualität, Religion und ritueller Praxis. Die Performance „Into Gentle Yellow“ ist für den Kirchenraum konzipiert und greift das Thema Interreligiösität und Ekstase auf. Die Resonanz, Spannung oder auch Reibung, die beim Aufeinandertreffen von Kirche und zeitgenössischer Kunst entsteht, finde ich reizvoll, weil zwei verschiedene „Welten“ aufeinander treffen und in den Dialog treten. Es kann Auseinandersetzung und Kritik stattfinden. Ich denke, dafür sind Kirchenräume auch da: für Gemeinschaft und Austausch. An diesen gemeinschaftlichen, zwischenmenschlichen Aspekt möchte ich anknüpfen, wenn ich Kunst in einer Kirche mache.
CB: Das ist ein gutes Stichwort: Du hast noch weitere Arbeiten im „Kleinen Michel“ umgesetzt, z.B. den „Ritual Circle“. Es war eine “Empowerment Arbeit” über den weiblichen Zyklus als Kraft, die Frauen innewohnt. Wie hat sich diese Performance gestaltet?
MW: Für den „Ritual Circle“ haben wir uns über zwei Monate mit einer Gruppe von zwölf Frauen (Personen, die sich als Frauen definierten) getroffen und in Workshops gemeinsam zum Thema „Frau-Sein“ gearbeitet. Hierbei kamen viele Perspektiven zusammen, denn die Personen waren zwischen 25 und 70 Jahre alt und stammten aus Bolivien, Mexiko, Italien, Syrien, Somalia, der Türkei und Deutschland. Ein Themenschwerpunkt im Prozess war der Menstruationszyklus, der dann auch Form und Inhalt der abschließenden Performance prägte.
Die Menstruation ist oft negativ behaftet. In patriarchalen Strukturen dient sie als Begründung, den Frauen weniger Wert und weniger Rechte zuzusprechen als den Männern. Wir hingegen haben dem Zyklus und unseren Körpern gegenüber eine wertschätzende Haltung etabliert und darin eine Quelle der Kreativität gesehen. Die verschiedenen Zyklusphasen und die darin liegenden vielseitigen Qualitäten erweitern auch das beschränkte Bild von „Weiblichkeit“: über Sanftheit, Lieblichkeit oder Schwäche hinaus zeigten die Performerinnen Kraft, Wut, Sensibilität, Lust, Unlust, Willensstärke, Klarheit, Weisheit, Humor und viele mehr.
Die katholische Kirche hat viel dazu beigetragen, den weiblichen Körper mit Scham zu belegen und ist bis heute patriarchal strukturiert. Die Menstruation und „unbequeme“ Seiten von Weiblichkeit und Frau-Sein im Kirchenraum zu thematisieren (auch vor dem Hintergrund der als „Hexenverfolgung“ getarnten Femnizide), wirkte für mich wie ein Einschreiben eines längst überfälligen „neuen“ Narratives in diesen Raum. Wie der Titel der Arbeit „Ritual Circle“ verrät, folgte diese Performance einer rituellen Struktur, wodurch die Arbeit ebenfalls ein transformatives Moment bekam. Wir haben es sehr genossen, zum Schluss der Performance in den roten, saftigen Apfel zu beißen!
CB: Da wäre ich gerne dabei gewesen. Es fasziniert mich, wie der Apfel durch das Ritual mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen wird und dem Essen des Apfels auch etwas Humorvolles und Befreiendes innewohnt. Was wünschst Du Dir für die Zukunft? Welche weiteren Projekte sind geplant?
MW: Gesellschaftlich gesehen wünsche ich mir weniger Verdrängung und mehr Zusammenhalt, weniger Panik und mehr Demokratie. Ich wünsche mir weniger Schubladen und mehr Beweglichkeit in den Köpfen.
Für meine künstlerische Arbeit wünsche ich mir, offen zu bleiben für Methoden und Perspektiven, die ich noch nicht kenne und gleichzeitig aus dem zu schöpfen, was ich bereits erfahren und realisiert habe. Manche meiner jüngeren Arbeiten haben eine humorvolle Seite – z.B. das Video „Contagious“, das gähnende Zoom-Teilnehmer:innen während der Corona-Pandemie zeigt oder das Zine „Der Nilöwe singt Sopran“, das die Charaktere erfundener Tierarten vorstellt. Ich habe Lust, auch in den kommenden Projekten dem Humor Platz zu geben!
CB: Dann freue ich mich schon sehr darauf, Dein Zine in den Händen zu halten und den sopransingenden Nilöwen und weitere Eigenarten kennenzulernen! Ich bedanke mich für das spannende Interview und die Fotos, die Du uns zur Verfügung gestellt hast!
MW: Sehr gerne. Ich bedanke mich ebenfalls für das Interview und Deine Zeit!
Weitere Infos unter: mariewerthschulte.com
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