Rasender Stillstand als Publikumsmagnet
Über 20.000 Plastikschnipsel formten in der Kunst-Station Sankt Peter in Köln die Skulptur „ACT OF GOD“, die wie ein Komet mit einem Lichtschweif von der Decke herab in den spätgotischen Kirchenraum zu stürzen schien. Die irisch-britische Künstlerin Claire Morgan zerteilt handelsübliche Plastiktüten in bis zu 1.000 Polyethylen-Schnipsel und fügt diese auf Nylonfäden zu räumlichen Installationen zusammen. Mehrere zehntausend Einzelteile verbinden sich in ihren Kompositionen zu geometrischen Formen oder erinnern an reale Dinge wie Vögel. In „Act of God“ verschmolzen im besonderen Maße die schwebende Leichtigkeit der Konstruktion und die visuelle Dynamik des scheinbar fallenden Kometen zu einem rasenden Stillstand, der die Blicke der Betrachter magisch anzog.
Aus immer neuen Blickwickeln versuchten die zahlreichen Besucher die Komposition zu ergründen: Wie entsteht aus federleichten Plastikschnipseln eine poetische Skulptur, die einen schwergewichtigen Kometen mit hoher Geschwindigkeit simuliert? Der Blick von unten in das Zentrum des kugelförmigen Kometen offenbart, dass die zufällig anmutende Ansammlung von Schnipseln auf einem konstruktiven Raster beruht. Nach ersten Skizzen konstruierte die Künstlerin die Skulptur in ihrer Werkstatt in Newcastle in 25 Schnittebenen. Mit Hilfe ihrer Assistentinnen zerteilte Claire Morgan aus ihrer Sammlung circa 25 Plastiktüten in Schnipsel, die nach Farben sortiert für die Montage vorbereitet wurden. Die Plastikschnipsel wurden gemäß einem präzisen Farbverhältnis in einem großen Gefäß vermischt und dann auf 600 Nylonfäden auffädelt. Die unteren drei Meter der Skulptur mit der Kugel fertigte die Künstlerin in ihrem Atelier in Newcastle und klebte die 25 Ebenen für den Transport nach Köln auf Cellophanbahnen auf. Die restlichen Meter des Kometenschweifs erstellte die Künstlerin vor Ort in Sankt Peter und knüpfte schließlich die vorgefertigten Elemente daran an. Für die Kunst-Station entstand so eine einmalige Skulptur, deren kontinuierliches Farbspiel eine enge Wechselbeziehung mit den bedeutenden Renaissancefenstern einging.
Bisher hatte die Künstlerin für die niedrige Deckenhöhe von Galerien vorwiegend flache und langgestreckte Skulpturen erstellt. „ACT OF GOD“ bot zum ersten Mal die Möglichkeit, die Höhe und das schwebende Fallen als Gestaltungsmittel zu erkunden. Drei Meter über dem Boden schwebte die Komet-Kugel in einem dynamischen Bewegungsgleichgewicht und verkörperte charakteristische Gestaltungsmerkmale, mit denen die Künstlerin in ihren internationalen Ausstellungen seit Jahren experimentiert. Hierzu zählen die Verschmelzung organischer und geometrischer Gestaltungsprinzipien, wie sie bereits in Werken wie „Gone to Seed“ (2011) oder in „Heart of Darkness“ (2011) zu sehen waren. Auch die Konstruktion der Komet-Kugel aus Koordinaten und Faden-Vektoren greift auf frühere Werke wie „The Colossus“ (2012) zurück.
Den komplexen, hauchzart-durchscheinenden Skulpturen steht eine Faszination für natürliche, unberührte Phänomene gegenüber. Am Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn zog Claire Morgan in ausgedehnten Wanderungen aus, um charakteristische Elemente der heimischen Landschaft für ihre Kunst zu entdecken. Doch wohin ihr Auge fiel, fand sie Plastikmüll, der von da ins Zentrum ihrer künstlerischen Auseinandersetzung rückte.
Farbe, Höhe und Raumproportion ― Claire Morgan saugt all diese Faktoren mit ihren Skulpturen auf und hält den Ausstellungsräumen so mit ihren Arbeiten einen imaginären, vieldeutigen Spiegel vor. Verkörpert die frühlingshafte Leichtigkeit von „ACT OF GOD“ eine religiöse Dimension? Besonders bei schönem Wetter strahlte dieser Hauch einer Skulptur mit großer räumlicher Präsenz in das lichtdurchflutete Mittelschiff hinein.
(Text und Bilder: Bettina Schürkamp, Köln)