Künstlerin des Monats: Jördis Hirsch

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Ich freue mich sehr, dass Jördis Hirsch, Religionswissenschaftlerin, Ethnologin und freischaffende Künstlerin aus Berlin sich bereit erklärt hat, mit mir ein Interview zu führen. Als Künstlerin des Monats Februar 2023 ist sie unserer Redaktion aufgefallen, da sich viele ihrer Arbeiten im Bereich von Religion und Spiritualität bewegen und über unsere gesellschaftliche Wirklichkeit, inspiriert von der Formkraft der Natur, hinausweisen. Gleichsam ist ihre Arbeit von erfrischendem Humor geprägt: Denn erst im Spiel nimmt sie die Dinge so richtig ernst, sagt die Künstlerin.

Studiert hat Jördis Grafik und Illustration in Marburg und Paris. Sie hat Workshops geleitet, Ausstellungen und Projekte im Künstler:innenkollektiv STATTLAB e. V. durchgeführt. Jördis ist Mitgründerin des feministischen anarchoPunk Kollektiv NACKT. Recidencies führten sie nach Frankreich, Italien und Tansania. Dieses Jahr nimmt sie an einem Residency-Programm in Mexiko teil. Im folgenden Gespräch gibt Jördis Einblicke in verschiedene Arbeiten und Projekte, in feministische Bilder von Göttinnen, Druckworkshops im Sozialraum und ihre ethnologisch beeinflussten Grafiken und in das, was sie in ihrem Kunstschaffen prägt und bewegt.

Christina Bickel

CB: Liebe Jördis, magst Du Dich zunächst kurz vorstellen und einen Einblick in Deine Arbeiten, Arbeitsweise und in die der beiden Kollektive, von denen Du ein Teil bist, dem Stattlab und Nackt-Kollektiv, geben?   

JH: Hej Cristina, gerne! Ich bin studierte Grafikerin und Illustratorin mit dem Schwerpunkt Siebdruck. Zurzeit lebe ich in Berlin und bin in dem Künstlerverein STATTLAB e.V. tätig, einer Siebdruckwerkstatt im Wedding, wo ich regelmäßig Workshops anbiete und Veranstaltungen leite. Das STATTLAB ist nicht nur Werkstatt, sondern auch ein Künstlerkollektiv mit über 100 Mitgliedern, da entstehen häufig gemeinschaftliche Projekte. Das NACKT-Kollektiv funktioniert ohne räumlichen Bezugspunkt, hier haben wir uns als eine Gruppe Künstlerinnen lose zusammengeschlossen, das Konzept ist fließend. Allerdings gibt es bei jeder Aktion, die wir starten, immer Initiatorinnen, die dann jeweils leitende Aufgaben übernehmen. Der Name ist Programm, der Begriff NACKT steht für Ehrlichkeit, Verletzlichkeit, Provokation, Nähe, Unerschrockenheit, Direktheit und Transparenz – für die nackte Wahrheit. Neulich habe ich die Interpretation Oberflächlichkeit gehört. Das gefiel mir, da ich den Eindruck habe, dass sich in unserer Gesellschaft viel an der Oberfläche abspielt.

Jördis mit Titelgraphik “Frauenkampftag”, Foto: Jördis Hirsch

CB: Und wie nähert ihr euch der ungeschminkten Wahrheit, auf die euer Kollektivname programmatisch verweist, an? Mit welchen künstlerischen Mitteln setzt ihr euer Anliegen um? Was sind Deine Projekte im Rahmen des Kollektivs? 

JH: Jede von uns hat einen eigenen intuitiven Zugang zu diesem Programm gefunden. In das Werk, das ich für unsere letzte Ausstellung im November 2022 malte, habe ich den Mut des Spontanen einfließen lassen um dem Begriff „Weiblichkeit“ eine neue Dimension zu geben. So entstand ein fast drei Meter hohes Mural, dass eine Gottesfigur in ihrer Überkörperlichkeit, die Pachamama als Lebensspenderin und Urmutter darstellt. Für dieses Jahr sind weitere Ausstellungen sowie ein Nackt-Festival geplant. Ich freue mich über die Flexibilität der Gruppe, die immer wieder neue Künstler*innen einlädt mit uns zu kooperieren und eine Plattform für musische, performative aber auch photographische, malerische, plastische und graphische Ansätze bietet.

CB:  Das klingt sehr inspirierend und vielfältig. Welche Reaktionen erntet ihr mit eurer punkigen Arbeit im Rahmen des Nackt-Kollektivs? Hast Du Erfahrungen gemacht, dass eure Arbeit etwas in Gang gesetzt hat?

JH: Häufig bekomme ich positive Rückmeldungen von männlichen Besuchern, die sich zuerst durch unsere anarcho-feministischen Etikettierung abgeschreckt fühlen und dann in unseren Ausstellungen ihre Annahmen nicht bestätigt finden. Uns geht es um den Dialog und das Hinterfragen, nicht um die Manifestierung von Klischeevorstellungen.

CB: In Deinen Druckgrafiken und Bildern greifst Du die Wahrheitsfrage in Verbindung mit der Frage des Mensch-Seins auf. Dabei scheinen die Einflüsse Deines Studiums der Ethnologie durch. Worauf kommt es Dir in Deiner Arbeit an? Wann ist diese für Dich gelungen?

Pachamama, Foto: Jördis Hirsch

JH: Gelungen ist eine Arbeit für mich wenn ich darin etwas entdecke, dass mich überrascht. Am besten, wenn sie mich zum Lachen bringt. Ich denke Humor in der Kunst ist in der Lage selbst größte Widersprüche in einen versöhnlichen Kontext zu setzen. Mich begeistern Reibung und Extreme, als Künstler muss es mir gelingen einen Umgang mit ihnen zu finden, der nicht zu Erstarrung und Schweigsamkeit führt sondern eine Reaktion beim Betrachtenden auslöst. Das gibt mir das Gefühl, ein Zeichen gefunden zu haben, dass beiden Seiten etwas bedeutet, wenn auch nicht zwingendermaßen dasselbe. Symbole waren auch Kernthema meines Ethnologie Studiums.

CB: Dir geht es also in Deiner Arbeit auch immer um eine Suchbewegung, in der plötzlich etwas Humorvolles und Überraschendes aufblitzen kann. Bedeutet diese Suche für Dich etwas Religiöses oder Spirituelles? Warum ist Dir und den anderen Mitgliedern des Kollektivs die Wahrheitssuche so wichtig?

JH: Vorhin hab ich es ja schon erwähnt, eine gewisse Oberflächlichkeit in der Gesellschaft erzeugt in uns den Wunsch zu untersuchen, was sich dahinter verbirgt. Wahrheit ist ein sehr flexibler Begriff, eine Vielzahl an Perspektiven. Ich denke, wir kommen ihr am Nächsten indem wir eine Pluralität an Positionen zeigen. Unser Fokus liegt auf Positionen, die unserer Meinung nach mehr Sichtbarkeit brauchen. Wahrheit bedeutet ehrlich nicht nur gegenüber anderen, sondern auch gegenüber sich selbst zu sein und das ist manchmal schwer. Ich denke spirituelle Techniken und Religion können helfen, sich selbst anzunehmen. Ich versuche über das Zeichnen mehr über mich heraus zu finden. Der eigene künstlerische Ausdruck zeigt uns unsere Grenzen und ist zugleich unverstellter Ausdruck unserer Persönlichkeit. Nimm einen Stift zur Hand und zeichne aus dem Kopf eine Blume, eine Hand oder ein Auto. Diese Skizze wird dir mehr über dich erzählen, als wenn du ein bereits existierendes Bild sorgfältig kopierst. Es geht um das Sehen lernen, aber auch um das Erkennen, wozu man fähig ist, welche neuen Welten sich eröffnen und zu akzeptieren was man (noch) nicht beherrscht.

Die Distel, Risodruck, Kalenderblatt, Foto: Jördis Hirsch

CB: Der Einfluss Deines Ethnologie Studiums ist für mich auch darin spürbar, dass in Deinem Werk die Muttergöttin als Archetyp Dein Werk durchzieht — mal sehr prägnant, wie in Form des Pachamama-Murals, mal schimmert sie in den Grafiken Deiner Kalenderblätter durch. Könntest Du darauf noch einmal genauer eingehen?                        

JH: Die Möglichkeit der Frau, Leben zu schenken hat für mich per se schon etwas Göttliches. Leben nehmen liegt in der Möglichkeit der gesamten Menschheit, Leben geben nur bei der Hälfte. Und trotzdem ist das Verhältnis ambivalent. Eine Geschichte von Roald Dahl faszinierte mich in meiner Kindheit, er beschrieb wie ein weibliches Kaninchen aufgrund einer Stressreaktion die frisch geborenen Jungen wieder verschlang. Die Mutterrolle ist eine ambivalente Übermächtige, Gebende und Nehmende. Stellvertretend sehe ich in der Frau als Muttergottheit auch das Symbol für unseren Planeten. Mit meinen Werken will ich ein Bewusstsein für seine Schönheit und Kraft, aber auch Kraft und Verletzlichkeit schaffen und unseren eigenen Einfluss darauf.

CB: Das ist in diesen Zeiten ein sehr bedeutendes künstlerisches Anliegen. Auf die Verletzlichkeit und vor allem auch auf die Stärke der Frau hat letztendlich einer Deiner Drucke besonders aufmerksam gemacht. Du hast darauf die Geste des Haareschneidens zur Darstellung gebracht – ein Werk, das im Zuge der politischen Lage im Iran noch einmal eine neue Bedeutung bekommen hat. Könntest Du mehr dazu erzählen, wie Du auf die Idee kamst und welche Reaktionen die Arbeit hervorgerufen hat?      

JH: Ich habe die universale Lesbarkeit dieser Geste untersucht. Im aktuellen Kontext bekommt sie eine große symbolische Bedeutung und eine Menge Aufmerksamkeit. Obwohl die Geste an sich vollkommen neutral ist, wird das Zeigen der Geste im Jahr 2022 zum politischen Akt. Ich habe mehrere Solidaritätsbekundungen erhalten und ein anregendes Gespräch mit einer jungen Syrerin geführt, welche Gesten Unabhängigkeit und Selbstbestimmung der Frau in der westlichen Welt symbolisieren.

CB: Doch wo wir schon beim Thema „Stärke und Verletzlichkeit“ sind, Wie steht es um die Verletzlichkeit deiner Kollekive und deren Individuen? Du hast mir erzählt, dass Vertrauen das Allerwichtigste für die Arbeit im Kollektiv ist. Was bedeutet Vertrauen konkret für Dich? Gab es auch Situationen, in denen Vertrauen enttäuscht wurde?

JH: Vertrauen definiere ich als Bereitschaft über das eigene Interesse hinaus für andere Chancen aufzuzeigen und Ressourcen zu teilen. Das gibt uns als Künstlergemeinschaft eine Menge Möglichkeiten und eröffnet ganz neue Handlungsspielräume. In einem Kollektiv zu arbeiten hat etwas von einem Orchester, der Gesamtklang übertrifft am Ende die einzelnen Töne. Ich habe festgestellt dass es mich begeistert, kollektive Kunstprojekte zu kuratieren. Dabei ist es wichtig, dass jedes Individuum genug Raum bekommt um gehört zu werden. Natürlich braucht man als Künstler auch eine gute Portion Egoismus, das führt in Kollektiven dann aber auch schon mal zu Spannungen.

CB:  Ja, die Arbeit mit anderen Menschen gestaltet sich nicht immer einfach, fordert aber zugleich auch heraus, wodurch neue kreative Prozesse freigesetzt werden. Erfährst Du Ähnliches auch durch Vernetzung in die Berliner Kunstszene?

JH: Ich habe durch berufliche Ausflüge in den Journalismus und ein Studium der Ethnologie Freude und Feingefühl im Umgang mit Menschen entwickelt und suche aktiv der Austausch mit mir neuen Positionen. Außerdem ermutige ich kreative Menschen darin ihre Neigungen zu explorieren. Beides hat mir Wege in die (off)Kulturszene ermöglicht.

CB:  Off-Kultur, das verbinde ich mit Freiheit, Anarchismus und Antikapitalismus. Du hast mir erzählt, dass Du das Potenzial der Kunst darin siehst, dass sie wie die Religion, Dingen wieder einen Wert zu verleihen vermag jenseits ihres Marktwertes. Wie genau zeigt sich dies in Deiner Kunst? Wie antikapitalistisch verstehst Du Deine Arbeit? Siehst Du in Deiner Arbeit Potential für ein besseres Zusammenleben? Verstehst Du Deine Arbeit politisch, denn schließlich zieren Deine Drucke auch Litfaßsäulen im öffentlichen Raum?                                 

JH: Das Projekt „Litfaß goes Urban Art“ wurde von Michael Wismar im Jahr 2019 gestartet. Er begann Künstler einzuladen, denkmalgeschützte Litfaßsäulen in Berlin künstlerisch umzugestalten und zu überkleben. Zweimal habe ich die Gestaltung einer dieser Litfaßsäulen übernommen. Die Frage der Aneignung öffentlichen Raumes durch das bespielen einer klassische Werbefläche beeinflusst unser Konsumverhalten und unterstützt den partizipativen Gedanken, dass öffentlicher Raum allen gehört und wir unsere Umwelt selbst gestalten können. Durch die Einladung des Überklebens erobern wir Künstler den öffentlichen Raum wieder ein Stück weit zurück. Was mir daran so gut gefällt ist der uneingeschränkte Zugang, Kunst für alle, ganz ohne Eintritt.

Litfaß goes Urban Art, Foto: Michael Wismar

CB: Und diesbezüglich engagierst Du Dich ja auch sozial. Auf Deiner Homepage habe ich gelesen, dass Du Siebdruckprojekte in Obdachlosenunterkünften und Seniorenheimen anbietest. Was steckt hinter dieser Idee und welche Erfahrungen hast Du diesbezüglich schon sammeln können? Verwandelt sich etwas, wenn Du mit Deinem Siebdruckmobil in die Einrichtungen kommst?

JH: Meistens besuchen uns Willkommensklassen, Menschen mit Fluchterfahrung oder aus anderen Kontexten direkt in den Werkstätten, aber ich fahre auch mit einem kleinen mobilen Siebdruckset an unterschiedliche Orte um die Technik zu vermitteln. Mit Menschen zu arbeiten, die bislang keinen Zugang zum Siebdruck oder überhaupt die Möglichkeit hatten, sich künstlerisch auszudrücken, ist eine unglaublich energetische Erfahrung. Man hat das Gefühl eine Tür zu öffnen, nur bleibt es für Viele ein einmaliges Erlebnis. Mein Traum wäre es, eine Förderung zu erhalten, um diese offenen Workshops regelmäßig anzubieten.

CB: Ich drücke Dir die Daumen, dass der Traum von der Projektförderung wahr wird!  Im letzten Jahr fand am “EKD-Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart” eine Tagung zum Thema „Das Christusbild – Eine Lehrstelle“ statt. Du hast auch eine Arbeit zum Thema „Christusbild“ geschaffen, und zwar ein feministisches Christusbild. Wie kamst Du dazu, wie waren die Reaktionen darauf und wie denkst Du heute darüber?

JH: Die Idee war ein Gleichgewicht zu erstellen, dem männlichen, sterbenden, weißen Körper einen weiblich, erblühenden, schwarzen entgegen zu setzen. Das Werk entstand während einer Künstlerresidenz in Klausen (Südtirol), wo sich auch die Loretokapelle mit einer schwarzen Madonna befindet. Sie hat mich zu dieser Idee inspiriert. Mein Atelier war ein ehemaliges Lampengeschäft im Stadtzentrum mit großen Schaufenstern, so dass mir jeder der vorbei ging, bei der Arbeit zuschauen konnte. Da ich niemanden brüskieren wollte, wartete ich bis zum Einbruch der Nacht, bepinselte meinen Körper mit Acrylfarbe und warf ich mich auf ein Stück Leinwand. Dabei musste ich unwillkürlich an das Turiner Grabtuch denken. Aus dem Ergebnis meines Experiments gestaltete ich ein Banner und installierte es unterhalb des Kruzifixes in der Apostelkirche, die ich als Ausstellungsort ausgewählt hatte. Die Reaktionen waren sehr positiv und wertschätzend, die Gemeinde in Klausen ist sehr kunstaffin und offen, das war eine schöne Erfahrung. Heute bin ich froh, verstanden zu haben, dass tolerant gelebter Glaube Inklusion statt Provokation bedeutet.

CB: Ein schönes Schlusswort. Eine letzte Frage hätte ich noch: Was wünschst Du Dir für die Zukunft als Künstlerin, was sind Deine Zukunftsträume – ob im Kollektiv oder solo?

JH: Ich wünsche mir immer den Mut und die Energie zu haben meinen eigenen Weg zu gehen und andere darin zu bestärken ihrem Weg zu folgen.

CB: Vielen herzlichen Dank für das Interview und Deine erfrischende Offenheit!

Natura animata, Foto: Jördis Hirsch

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joerdishirsch.com