Minjae Lee studierte an der ChuGye University for the Arts in Seoul Malerei. Bald fühlte er sich in seinen Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt und beschloss, nach München zu gehen, um dort an der Akademie der bildenden Künste bei Gregor Schneider Bildhauerei zu studieren. Seitdem erschafft der Künstler raumgreifende Installationen, mit denen er auf vielfältige Weise Ängste untersucht. “Wovor ich Angst habe oder warum, kann ich nicht genau erklären”, sagt der Künstler. Um diese paradoxe Situation darzustellen, wiederholt er in seinen Arbeiten obsessive und scheinbar sinnlose Tätigkeiten.
Was ist dieses unbestimmte Gefühl der Angst, das Minjae Lee zum Gegenstand seiner Arbeit macht?
In der Bibel werden Ängste vielfältig thematisiert: Ängste vor Tieren, schwierigen Verhältnissen, vor Krieg, vor Feinden, vor Unheimlichem im Leben und vor dem Sterben und vor Gott. Im engen Zusammenhang mit der Gottesfurcht steht der Aufruf “Fürchte dich nicht” (z. B. 1Mo 15,1; Jes 43,1; Mk 5,36), der einen Ausweg aus der Angst vor Mächten und schwierigen Verhältnissen aufzeigen möchte. Auch Jesu Anhänger wiegen sich nicht in Sicherheit. Ganz im Gegenteil: Sie werden vor besondere Herausforderungen gestellt, in denen sie Enge und Bedrängnis erfahren. Im Glauben und umgeben von der Liebe (Gottes) finden sie zu ihrem Mut und zur Freude. Denn “Furcht ist nicht in der Liebe”; heißt es in 1Jo 4,18f. An dieser Stelle setzt auch Soren Kierkegaard an, wenn er im Glauben und in der Erlösung die Aufhebung der Angst und der Sünde sieht.
Eine klare Trennlinie zwischen Furcht und Angst gibt es nicht. Und doch hat die Existenzialphilosophie den Versuch unternommen, diese Begriffe voneinander zu trennen, um eben dem Unbestimmten der Angst auf die Spur zu kommen. Im Unterschied zur Furcht, die stets Furcht vor etwas Bestimmtem ist, ist Angst unbestimmt. Angst haben wir vor der Welt als solche, heißt es bei Heidegger. Das Gegenüber der Angst ist laut Heidegger das Nichts, das sowohl das Unbestimmte des Todes wie auch der Freiheit sein kann. Dieses Gefühl der existenziellen Bedrohung zieht uns den Boden unter den Füßen weg; es lässt uns ausgesetzt sein. Angst führt uns zur ursprünglichen Nacktheit und Geworfenheit des Lebens. Sie zwingt uns in die Unbehaustheit, aus der wir immer wieder die Flucht in die Kultur antreten wollen, die uns Geborgenheit verspricht. Angst hat zugleich die Kraft, uns zum Eigentlichen zu führen und ruft uns zum Leben in Freiheit und Selbstverantwortung.
Minjae Lee lädt mit Werktiteln wie “Herzlich willkommen in der Angsthalle”, “Angst vor Angst” oder “Engster Korridor” dazu ein, der Angst zu begegnen, sie zu durchschreiten und zu erfahren. Hierfür bedient er sich in seinen installativen Arbeiten eines weiten Spektrums an künstlerischen Mitteln wie Sound, Film, Licht und Performance. In “Angst vor Angst” hat der Künstler einen Gang konzipiert, in dem es donnert und bläulich blitzt, sobald Ausstellungsbesucher den Gang betreten. Erst das Licht macht einen handgeschriebenen, langen Text an den Wänden und auf dem Boden sichtbar. Diese multimediale und interaktive Rauminstallation erweckt Unruhe und lässt die Betrachter regelrecht erschaudern.
Nähern wir uns der Angst etymologisch, wird deutlich, dass das Wort im Deutschen mit der Eigenschaft “eng” zusammenhängt und das bezeichnen kann, was Enge verursacht und körperlich in der Beengung des Atems und des Herzens zu spüren ist. Diesen etymologischen Kern der Angst hat Minjae Lee aufgenommen, als er den “Engsten Korridor” baute.
Für diese Installation entwickelte Minjae Lee einen weißen Quader, durch den ein etwa 6 Meter langer und etwa 30 cm breiter Gang führt. Eine ungewöhnlich schmale Tür mit 14 untereinander angereihten Spionen macht die Ausstellungsbesucher neugierig, hinein zu schauen. Der “Engste Korridor” war bereits auf mehreren Ausstellungen zu sehen. Im Marburger Kunstverein stand die Konstruktion des Korridors freigelegt ohne Quader im Ausstellungsraum. Einem entblößten Körper gleich waren die Spanplatten, Holzleisten und Kabel den Blicken der Besucher schutzlos ausgesetzt. Ein schwarzes, zerrissenes und mit Kreidestaub bedecktes T-Shirt hing wie ein Relikt aus Lees Performance an einem der Holzbalken. Neben dem Korridor stand ein Bildschirm, der eine Aufnahme der Performance des Künstlers zeigte.
Eingeschlossen in diesem dunklen Korridor mit flackerndem Licht schrieb der Minjae Lee stundenlang wiederholt den Satz “Du brauchst keine Angst zu haben” wie ein Mantra an die drückenden Innenwände. Er schritt dabei langsam Richtung Tür und wieder von ihr weg und wischte dabei mit seinem Oberkörper das Geschriebene wieder ab. Der Kreidestaub haftete an seinem schwarzen T-Shirt, das mit der Zeit immer grauer wurde. Die Blicke der Beobachter durch die Spione erhöhten den psychischen Druck auf den Künstler.
Lee erzeugt mit dieser Arbeit eine konzentrierte Atmosphäre, in der er die Betrachter mit widersprüchlichen Zuständen wie Entschlossenheit, Beharrlichkeit und lähmender Aussichtslosigkeit konfrontiert.
Minjae Lees Arbeiten ermöglichen dem Betrachter, der menschlichen Grunderfahrung der Angst sinnlich-ästhetisch zu begegnen. Es ist keine leichte Begegnung, eher eine, die den Betrachter im Schutzraum der Kunst aus seiner Komfortzone lockt und ihn mit seiner Existenz konfrontiert. Lee liefert keine Antworten darauf, wie wir mit Ängsten umgehen sollten. Wohl aber können seine Arbeiten als eine Einladung zur Auseinandersetzung mit Ängsten und als Aufforderung zum “Mut zur Angst” im Sinne Heideggers verstanden werden. Wenn wir sie mit Entschlossenheit durchschreiten, verspricht Heidegger ein mögliches “Ganzsein des Daseins”.
Text: Dorothea von Kiedrowski
Fotos und Videos: Minjae Lee, Wilfried Petzi, Dorothea von Kiedrowski