Eine Inspirationsquelle für Kirchenarchitektur von morgen?
Wie würde ein Künstler einen Kirchenraum gestalten, der in seiner künstlerischen Arbeit die architektonischen und sozialen Dimensionen von Ausstellungsorten untersucht? Wie könnte eine Kirchenarchitektur aussehen, die von einem Künstler gebaut werden würde, der in seinen raumgreifenden Installationen und Objekten architektonische Grundformen zitiert?
Es ist das künstlerische Werk von Michael Beutler, das zu diesen und weiteren Fragen über Wahrnehmung von Räumen und Materialien evoziert.
Zunächst einmal zur Person: Michael Beutler, 1976 in Oldenburg geboren, studierte bildende Kunst an der Frankfurter Städelschule und an der Glasgow School of Art. Dem Künstler wurden bereits zahlreiche Einzelausstellungen gewidmet, von denen hier zwei näher vorgestellt werden sollen: Die Ausstellungen Haus Beutler im Bielefelder Kunstverein und Moby Dick im Hamburger Bahnhof in Berlin.
Beutler verwandelte den Bielefelder Kunstverein 2014 in ein verwinkeltes, labyrinthisches und zugleich einladendes Haus. Im Erdgeschoss hatte der Künstler Wände aus alten Arbeiten aufgebaut. Das waren Materialien wie vergilbte Papierlagen aus der Arbeit Mustertherme (Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, 2009), Wellpappegeflechte aus Elefant und Schwein (Galerie Bärbel Grässlin, 2010) und gestauchte Papierblöcke in Fruchtnetzen aus der Arbeit Wursthäuser (Museum für Gegenwartskunst Basel, 2014). Wer Beutlers Arbeitsweise kennt, weiß, dass die Verarbeitung älterer Arbeiten in neuen Ausstellungen ein wesentlicher Bestandteil Beutlers künstlerischen Arbeitsprozesses ist – eine Art Bricolage, bei der der Künstler, ganz im Sinne von Claude Lévi-Strauss, aus bestehenden Ressourcen etwas Neues schafft. Die auf diese Weise entstandenen Kabinette gaben erstmals einen Einblick in die Entstehungsprozesses seiner Projekte: Schautische zeigten Modelle realisierter und nicht realisierter Arbeiten sowie das Formenrepertoir Beutlers, aus dem er seine Skulpturen entwickelt. Im Obergeschoss verwiesen Skizzenblätter, Materialkalkulationen und Arbeitsvorrichtungen sowie Foto- und Videomaterial von unterschiedlichsten Installationsaufbauten auf den Entstehungsprozess seiner Arbeiten. Im Innenhof des Kunstvereins stand zudem eine Keilhütte aus weißem Pecafil, einem Material, das zur Verschalung von Betonwänden eingesetzt wird. Der begehbare Pavillon stand in Beziehung zur Arbeit Keilhütten für Enten, die parallel im Rahmen des Kunstprojekts Vor Ort im Bielefelder Ortsteil Sennestadt gezeigt wurde. Die in Anzahl und Form mit der Keilhütte identischen Elemente waren als zeltartige Objekte im öffentlichen Raum aufgestellt.
Beutler setzt sich vor den Ausstellungseröffnungen meist einen zeitlichen Rahmen von zwei Wochen, in dem er mit einem Team – situativ mit Studierenden, KünstlerInnen, HandwerkerInnen, Auszubildenden oder StadtteilbewohnerInnen zusammenarbeitet. Angeleitet vom “Dirigenten” Beutler verwenden sie für die Produktion der Objekte vom Künstler selbst entworfene und gebaute, archaisch anmutende Maschinen, “Proto-Maschinen”, wie der Historiker Gregory Williams sie nennt, die ebenfalls Teil der Ausstellungen werden. Seine Ausstellungen wirken auf den ersten Blick wie unaufgeräumte Werkstätten oder Materiallager. Doch beim genaueren Hinschauen wird die Sinnhaftigkeit der Raumstruktur und die Anordnung der Module und Objekte zueinander deutlich. Wie in einem begehbaren Stillleben kommunizieren die Objekte miteinander.
So muss es auch in der Ausstellung Moby Dick im Hamburger Bahnhof in Berlin 2015 gewesen sein. Aus der Ferne wirkte die Ausstellung wie ein großes Durcheinander. Doch dann wurde die Grundstruktur aus zwei Kurven und einem Drehtor aus weißem Pecafil deutlich. Das ist vermutlich der weiße Wal aus Herman Melvilles Buch Moby Dick – auf das sich Beutler bezieht – der seinen vermeintlichen Bezwinger Kapitän Ahab das Scheitern lehrt. Weitere Details und kleinere Arbeiten hat Beutler in der großes Halle ebenfalls mit einem Team zu den großen Installationen in Bezug gesetzt. Die kleineren Arbeiten sind Skulpturen, Architekturen oder einfach nur Haufen, sagt der Künstler, die nach der Ausstellung wieder abgebaut werden, um dann in anderen Ausstellungen wieder andere Volumen anzunehmen – wieder das Prinzip der Bricolage. Ältere Arbeiten werden aktiviert, aber was umgeschichtet, umgestellt oder umgebaut wird, war im Vorfeld unklar. Es gibt Papiergewebe, die sich wie ornamentale Fassadenelemente stapeln und zur Skulptur werden. Große Quader aus Wellpappe türmen sich ein paar Meter weiter zu einem rohen Verschlag auf. Die Metallfolie neben dem Walzwerk würde ein Muster eingeprägt bekommen, wenn sie durch die Holzwalzen gezwängt werden würde. Hier ist nichts unfertig, sondern im Prozess. Das Publikum war eingeladen, die Ausstellung mehrmals zu besuchen, um die sich stetig verändernde Ausstellung wahrzunehmen. Denn nach der Vernissage ging der Prozess des Umschichtens, Umbauens und Umstellens weiter.
Die Möglichkeit des Scheiterns ist immanenter Teil Michael Beutlers Vorgehens. Das heißt, die Großprojekte könnten auch misslingen. Und was bedeutet es überhaupt in der Kunst, wenn ein Werk unabgeschlossen ist, unfertig? Gibt es überhaupt ein fertiges Werk? Michael Beutler stellt den Schaffensprozess und das Resultat gleich, indem er sichtbare Hinterlassenschaften eines Prozesses ausstellt.
Ein weiteres Charakteristikum seiner Arbeiten ist die Verwendung armer Materialien. Das Papier, dünnes Aluminium, Plastikfolien, Kartons, Gips, Beton, Holz, Sperrholz, Wellpappen und Krepppapier sind nicht auf Dauer ausgelegt. Vielmehr verweisen sie auf eine vergängliche Ästhetik des Alltäglichen. In den groß angelegten Skulpturen Portikus Castle und im Pagodenturm kam jeweils farbiges Blumenpapier und leichtes Aluminium zum Einsatz. Die farbige Säulenskulptur im Frankfurter Ausstellungsraum Portikus leuchtete von innen einer gotischen Kathedrale gleich. Der mit dem mfi-Preis für Kunst am Bau gekrönte Pagodenturm im Lufthansa Aviation Center mit seinen neun aufeinander stehenden Gartenhütten aus verschiedenen Kulturen wirkte hingegen wie eine fragile Glasskulptur. Was bei Beutler auf den ersten Blick wie gebastelt aussieht, ist genauestens und mit viel handwerklichem Geschick gebaut.
Beutler lässt gelegentlich gern die Grenzen zwischen den Disziplinen verschwimmen. In der Ausstellung Michael Beutler, Architekt – Etienne Descloux, Künstler inszenierten der Künstler und der Architekt 2007 die Kunsthalle Dominikanerkirche in Osnabrück als einen Ort der Reflexion über (Kirchen-)Architektur, Ausstellungsräume und Sehgewohnheiten von AusstellungsbesucherInnen. Ausgestellt haben sie modular zusammengesteckte Sitzbänke aus alten Ausstellungswänden, die das Kirchenschiff entlang der Wände in einer Länge von 110 Metern umlaufen. Außerdem erhielt das Entree der ehemaligen Kirche einen neuen Empfangstisch und eine neue Garderobe – ebenfalls aus alten Ausstellungswänden. Im Innenhof entstand ein schwimmender Kreuzgang aus Spanplatten und Pecafil.
Anders als mittelalterliche Kathedralen wäre eine Beutler-Kirchenarchitektur vermutlich nicht auf Dauer angelegt. Wahrscheinlich würde er sie als eine Baustelle begreifen. Vielleicht wäre sie temporär und vergänglich, am Prozess und am Alltäglichen orientiert. Sie würde partizipativ mit der Gemeinde gebaut werden. Wenn Material einer Vorgängerkirche vorhanden wäre, würde Beutler es verarbeiten. Eine bestehende Kirche würde er zunächst nach ihren Defiziten und Unstimmigkeiten untersuchen bevor er sie umbauen oder erweitern würde. Er würde mit architektonischen Grundformen des Kirchenbaus spielen und die Wahrnehmung der Gemeinde in den Mittelpunkt stellen. Das wäre eine Kirche, die sich ständig verändert und mit der Gemeinde weiter wächst. Dass Beutler das Lichtkonzept, die Prinzipalstücke und das liturgische Gerät ebenfalls selbst entwerfen würde ist naheliegend, wenn man sich seine Laternen anschaut oder die von ihm gestalteten Espresso-Tassen für die Illy Artist Collection. Der subtile Einsatz von Licht und geometrischen Formen bei der Ausstattung würde ein rundes Gesamtkonzept ergeben.
Demzufolge wäre eine Kirchenarchitektur von Michael Beutler nicht mehr und nicht weniger als ein zeitgenössisches Gesamtkunstwerk voller Lebendigkeit und Humor.
Text: Dorothea von Kiedrowski
Nachtrag vom 27.03.2020: Michael Beutler gab mir als Feedback, dass er sich darüber freue, eine Struktur für eine Gemeinde schaffen zu können.
Fotos: Pecafil City, Michael Beutler; Haus Beutler, Philipp Ottendörfer; Moby Dick, Thomas Bruns, © Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie; Portikus Castle, Wolfgang Günzel, © Galerie Bärbel Grässlin; Pagodenturm, Galerie Nagel Draxler; La Cacahuète, Michael Beutler; Sandwich-Tisch, Wolfgang Günzel, © Galerie Bärbel Grässlin