Abb. 1-4: Johan Tahon
Abb. 5: Repliken von Ecclesia und Synagoga, Straßburger Münster, wikimedia commons
Abb. 6-8: Johan Tahon, Ecclesia und Synagoge, Fotos: Gunnar Schulz-Achelis
Johan Tahons “Twins”
Johan Tahons Figuren vergißt man nicht – bei der Skulpturenausstellung “Blickachsen” in Bad Homburg erschienen die großen, wie mitten aus dem Arbeitsprozess gerissenen Gipsgestalten unter den alten Bäumen des Gartens wie Wesen aus einer anderen Zeit – entweder aus einer Vergangenheit der Götter und mythischen Kreaturen oder aus einer Zukunft mutierter Wesen. Schön und schrecklich, sehr präsent und doch wie im Verschwinden, verkörpern sie etwas Zwiefaches, vielleicht auch Zwiespältiges in ihrer heterogenen Zusammensetzung. Ihre Erscheinung ist in sich nicht unharmonisch, aber seltsam verschoben, Körperteile sind additiv gefügt, mancher schwer definierbare Gegenstand wird Teil des Skulpturenkörpers und verschmilzt mit dem Ganzen durch Farbe, Glasur, Oberflächenbehandlung.
Man kann die aus Versatzstücken kombinierten Werke expressiv nennen, denn alles in Tahons Schaffen dient dem Ausdruck des Inneren. Trotzdem sind sie nicht extrovertiert, sondern ganz nach innen gekehrt. Die Figuren verkörpern seelische Zustände, sie materialisieren etwas, das sich der Vernunft entzieht. Das rationale Erkennen wird nur als Spitze des Eisbergs verstanden, das Eigentliche entzieht sich in Untiefen und wird allenfalls in Traum oder Albtraumvisionen erahnbar. Diesen Bereich zu fassen, gibt es viele Versuche und Methoden – am ehesten gelingt es der poetischen Literatur oder eben der bildenden Kunst. Manchmal erreicht uns etwas in der Kunst, in der Natur, in einem anderen Menschen, sodass dieses Eigentliche in eine Beziehung tritt zu uns und uns für einen Moment ganz sicher über sein tatsächliches Vorhandensein macht. In Begegnung mit den Werken von Johan Tahon kann einem dies widerfahren. Es sind sanfte, scheue Ungeheuer. Sie sind in sich versunken, verletzlich, von graziöser Unbeholfenheit.
Stilistisch ist Tahon ein ganz eigener Weg gelungen, auch wenn er sich in seinem Werk in einer großartigen Traditionslinie der figürlichen bildhauerischen Künste verankert. Vor allem zu Rodin und Lehmbruck lassen sich Linien ziehen in Ausdruck und bildhauerischen Methoden. Obwohl er seine großen Außenplastiken auch in Bronze oder Polyester gießen läßt, bleiben doch besonders die weißen Arbeiten im Gedächtnis, die durch eine keramische Glasur noch in ihrer immateriellen, irrlichternden Wirkung gesteigert werden.
Die Ev. Lutherische Landeskirche Hannovers hatte 2015 in einem Wettbewerb zeitgenössischen Bildhauern die Aufgabe gestellt für ein Denkmal. Anlass war, dass die Landeskirche sich in einer Verfassungsänderung unmissverständlich zu ihren Wurzeln bekannt und sich zur Auseinandersetzung mit dem Thema Kirche und Judentum sowie zur Förderung der Begegnung verpflichtet hatte. Aus diesem Anlass und zur Erinnerung an die 1938 zerstörte Synagoge Hannovers wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben. Eine Neuinterpretation der Thematik von Ecclesia und Synagoge für eine Freiplastik war die Aufgabe, die den sieben Künstlern gestellt wurde.
Zur Zeit der Kreuzzüge kam die Gegenüberstellung von Ecclesia und Synagoge in Form von weiblichen Personifikationen häufig zur Darstellung. Die Figur der Synagoge trägt als Zeichen ihrer Verblendung eine Augenbinde. Weitere Attribute können eine zerbrochene Standarte , und eine herabgerutschte Krone als Zeichen des Machtverlusts sein. Die Ecclesia dagegen ist eine aufrecht stolze Erscheinung mit Kreuzstandarte, Herrschermantel und Krone. Zwischen 1230-1250 entstanden Großskulpturen von Ecclesia und Synagoge am Straßburger Münster, am Fürstenportal des Bamberger Doms, am Magdeburger Dom, an der Liebfrauenkirche Trier, in Minden und Worms, Freiburg und Erfurt.
Bezaubernder erscheint in fast allen Fällen die Figur der Synagoge. Anmut und Grazie in der Körperhaltung verheißen besonders schöne Gesichtszüge, – gerade weil diese durch die Augenbinde verdeckt werden besonders verheißungsvoll. Ihre Haltung ist weder aggressiv noch verstockt, eher gedemütigt und verschüchtert. Den Künstlern scheint nichts zu liegen an einer unsympathischen Darstellung der Synagoge.
Wie geht der Gegenwartskünstler Johan Tahon mit diesem ikonografischen Topos aus dem Mittelalter um? Nun, er erschafft „Twins“ – Zwillinge. Eine Rangfolge und dezidierte Charakteristik ist nicht auszumachen. Sie sind ebenbürtig. Wer hier wer ist, bleibt der Spekulation überlassen. Weder in Haltung noch Gestus triumphiert eine über die andere. Sie sind aufeinander bezogen und haben als Attribut beide ein Gestell, ähnlich einer Leiter, bei sich – vielleicht als ein Verweis auf die mittelalterliche Platzierung dieser Figuren an Säulen oder in Portalnischen.
Bei der Realisierung in Bronze hat Tahon darauf geachtet, das Typische seiner Materialsprache zu erhalten, auch wenn hier nicht in Gips und Keramik gearbeitet wurde. Auch durch die Patinierung, partielle Polierung und Pigmentierung der Oberflächen ist alles Statuarisch-Auftrumpfende und Selbstgewiss-Behäbige traditioneller Bronzedenkmäler vermieden. Die Aussage ist ein Gestus der Demut und Zuwendung.