Künstler des Monats – Jakob Kudsk Steensen

Jakob Kudsk Steensen, Primal Tourism, 2016, Foto Norbert Miguletz, © Frankfurter Kunstverein

Wenn Jakob Kudsk Steensen ein neues Projekt beginnt, begibt er sich für mehrere Monate auf Feldforschung in die Natur. Anders als die Plein-Air-Maler des 19. Jahrhunderts, führt er nicht Staffelei, Pinsel und Farbe mit sich, sondern Smartphone und Laptop, mit denen er Oberflächenstrukturen von Pflanzen und Tieren fotografiert und Naturgeräusche aufnimmt. Sein Interesse für Ökosysteme und den ökologischen Wandel vertieft Steensen schließlich in Gesprächen mit Biolog*innen, die ihr Wissen über einzelne Arten und ökologische Zusammenhänge an ihn weitergeben. Er befragt sie auch zu ihrer Passion für ihre Arbeit und dazu, wie ihr Engagement ihr Leben emotional beeinflusst. Aus dem gesammelten Material entsteht eine Art Remix, das in seine künstlerische Arbeit einfließt. 

Jakob Kudsk Steensen, The Deep Listener (Trailer), 2019, Courtesy: the artist

Für das Londoner Projekt The Deep Listener (2019) arbeitete Jakob Kudsk Steensen mit dem Natural History Museum zusammen, um die Gestalt der dort lebenden Arten besser verstehen und digital nachbauen zu können. Besucher*innen der Serpentine Galleries in den Kensington Gardens, die das Projekt zeigen, können sich eine App auf ihre Smartphones herunterladen. Mithilfe von Augmented Reality wird der Kunstspaziergang durch den Park zu einem ungewöhnlichen Erlebnis. Durch Audioableger hört das Publikum Fledermäuse, Sittiche, Libellen aber auch wachsende Bäume und Wasser- geräusche im Schilfgebiet. Bewusst verlangsamt der Künstler die Vogelstimmen, was dem Publikum ermöglicht, Komplexitäten des Vogelgesangs zu hören, die das menschliche Ohr normalerweise nicht hört. Auf seinen Smartphone-Bildschirmen sieht das Publikum schwebende, fließende Formen und abstrakte 3D-Wellen, die nur zeitweilig konkrete Ausprägungen einer Blauflügellibelle oder einer Platane annehmen und sich dann wieder auflösen. 

Steensens Formensprache ist von Videospielen beeinflusst, die er bereits als Kind spielte. Schon damals baute er lieber Natur- und Architekturlandschaften, als Kampfspiele zu spielen. Als er sein Kunststudiums in Dänemark begann, beschäftigte er sich mit Malerei. Seine Leidenschaft für virtuell gebaute Landschaften holte ihn jedoch bald wieder ein. So schloss sich der Kreis und er begann mit digitalen Medien in der Kunst zu arbeiten. Heute dienen ihm digitale Technologien als Werkzeuge, um Ökosysteme sinnlich begreifbar zu machen. Eine weitere Inspirationsquelle des Künstlers ist die Ecofiction-Literatur, die sich kritisch mit dem Verhältnis von Literatur und Umwelt und dem Platz der Menschheit darin auseinandersetzt. Er schätzt Autoren wie Jeff VanderMeer, die die Vorstellungskraft seiner Leser*innen erweitert, wie ökologischer Wandel und ein anderes Naturverständnis aussehen könnten.

Jakob Kudsk Steensen, Re-Wildling (Trailer), 2018, Courtesy: the artist

In der Arbeit Re-Wildling (2018), das vom Aussterben und Erhalten seltener Arten handelt, sensibilisiert der Künstler sein Publikum für neue ökologische Realitäten. Er thematisiert die Wiederansiedlung einer (fast) ausgestorbenen Krähenart auf Hawaii. Zunächst zeigt das Vier-Kanal-Video einen feuchten Waldboden, der aus fotografiertem, organischen Material besteht. Das Publikum wird auf eine Reise in eine andere Realität mitgenommen, in der Federn auf Bäumen wachsen, Wurzeln zu organischen Adern werden und die Krähe selbst als ein fluoreszierendes, empfindsames Wesen existiert. Auf der Grundlage einer ökologisch intakten Vergangenheit entwickelt sich Re-Wildling in eine komplexe Realität, in der verschiedene Spezies, Technologien und Naturmythen ineinander fließen. 

Steensens dystopische Welten entstehen in seinem Atelier. Dieses Vorgehen ist nicht neu: Auch Maler wie Caspar David Friedrich komponierten ihre romantischen Landschaften nach Skizzen aus der Natur im Atelier. Jakob Kudsk Steensen nutzt lediglich andere – digitale – Medien, mit denen er das gefundene und aufgezeichnete Material zu virtuellen Landschaften und Skulpturen am Computer mit spezieller Computerspiel-Entwicklungs-Software, modifizert. In einem Zeitraum von etwa anderthalb Jahren entwickelt er seine Arbeiten in Zusammenarbeit mit NGO’s, Wissenschaftler*innen und Komponist*innen zu vielseitig einsetzbaren Videos, die in internationalen Kunstausstellungen, aber auch auf Film- und Videospielfestivals gezeigt werden. Die unterschiedlichen Plattformen nutzt der Künstler, um eine möglichst große Öffentlichkeit einzuladen, neue Perspektiven auf die Umwelt einzunehmen.

Jakob Kudsk Steensen, Primal Tourism (Trailer), 2016, Courtesy: the artist

In Deutschalnd hat Steensen zuletzt im Frankfurter Kunstverein im Rahmen der Ausstellung How to Make a Paradise – Sehnsucht und Abhängigkeit in generierten Welten das Publikum auf die Insel Bora Bora mitgenommen. Die Video- und Rauminstallation Primal Tourism (2016) mit VR-Anwendung besteht aus einer mit Bambusstäben und Moskitonetzen angedeuteten Hütte, in der sich die Ausstellungsbesucher*innen mit der aufgesetzten VR-Brille auf der Insel bewegen. Sie können zwischen den Perspektiven verschiedener Lebewesen wechesln: vom Menschen zur Schlange, über den Wildhund zum Insekt oder Fisch bis hin zur Drohne. Satellitenaufnahmen, Urlaubsfotos aus dem Internet sowie Zeichnungen und Notizen des niederländischen Forschungsreisenden Jacob Roggeveen, der 1722 auf die Insel stieß, dienten als Material für die Entwicklung der virtuellen Replik. Auch wissenschaftlich fundierte Zukunftsszenarien für die ökologische Entwicklung auf der Insel flossen in die Arbeit ein. Entstanden ist eine düstere, virtuelle Vision möglicher Folgen von Kolonialismus, Tourismus und vernachlässigter Ökologie, die den anthropozentrischen Blick auf die Welt hinterfragt. Der Künstler arbeitet in Primal Tourism mit inhaltlichen und formalen Errosionen und Brüchen. Der illusionistische Realitätsanspruch wird gebrochen, indem die ursprünglich schöne Insel aus einer digitalen Fläche erwächst. Zweidimensionale Fische schwimmen wie eine Bildstörung durch das Bild und Spuren menschlicher Eingriffe werden sichtbar.

Auch wenn Jakob Kudsk Steensen sich eher als Poet denn als Umweltaktivist versteht, der an sinnlich-emotionalen Komponenten unserer Naturwahrnehmung interessiert ist, führen seine Fragen nach unserer Beziehung zur Natur und zu anderen Lebewesen, aus theologischer Sicht gesehen, auf eine neuartige Weise zur Frage nach der Stellung des Menschen in der Schöpfung. Ob die Arbeit von Steensen einen weiteren Meilenstein in der Kunstgeschichte darstellt, der unser sich wandelndes Verhältnis zur Natur repräsentiert – so wie die Landschaftsmalerei über die Jahrhunderte tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen wiederspiegelte – wird sich in den nächsten Jahrzehnten zeigen. 

Jakob Kudsk Steensen (geb. 1987) studierte in Dänemark und Großbritannien bildende Kunst. U.a. stellte er auf der 58. Venedig Biennale, in den Serpentine Galleries in London und dem Museum Tranen für zeitgenössische Kunst in Copenhagen aus. Zurzeit hält er sich in Frankreich im Rahmen eines Artist-in-Residence-Programms im Luma Arles auf.

Text: Dorothea von Kiedrowski

Fotos: Norbert Miguletz, © Frankfurter Kunstverein

jakobsteensen.com