Künstler des Monats – Daniel Rycharski

Versöhnung. Ländliche, katholische und homosexuelle Motive in der Arbeit des Künstlers Daniel Rycharski

2018 hat der Künstler Daniel Rycharski (geb. 1986) das Projekt Strachy (Vogelscheuchen bzw. Befürchtungen) auf einem Feld bei Kurówko, einem Dorf in der Woiwodschaft Masowien im nordöstlichen Polen, realisiert. Bunt bemalte lateinische, gleichschenklig-griechische sowie russisch-orthodoxe Holzkreuze wurden vom Künstler in verschieden- farbige Stoffhüllen aus Resten gekleidet, die teils mit Stacheldraht umwickelt waren. Die bunten Kleidungsstücke – Jacken, Hosen, Blusen, Hemden und Schuhe – gehörten Personen mit homosexueller Orientierung, die Diskriminierung erfahren haben.  Sie “verscheuchen” mit ihrer Abweichung von der Norm. Wie zum Dorffest geschmückte Vogelscheuchen sollten Rycharskis Kreuze, das Stereotyp von Personen nichthetero- normativer sexueller Orientierung, das Pädophilie und Homosexualität gleichsetzt, überwinden.

Die Installation Strachy gehört zu einer Serie von Rycharskis Projekten ländlicher Street Art: Die im öffentlichen Raum kleiner Ortschaften umgesetzten Arbeiten beziehen sich auf die materielle Dorfkultur und Ästhetik des bäuerlichen sakralen und säkularen Kunsthandwerks (dazu gehören die Arbeiten Kapellengalerie/Galeria Kapliczka, 2012; Wintergarten/Ogród zimowy, 2013; phantastische Tiergraffitis aus der Serie Ländliche Street Art/Wiejski street art, 2008-2014).

Rycharski lebt dauerhaft in Kurówko und realisiert seine Projekte in der Regel in Zusammenarbeit mit den Dorfbewohnern. Dafür benutzt er Landwirtschaftsfahrzeuge aus dem letzten Jahrhundert, baut kleine Wegkapellen oder bäuerliche Totems, die den polnischen Bauern ironisch glorifizieren.

Seine künstlerische Strategie konzentriert sich auf das Nivellieren und beabsichtigte Verharmlosen von Antagonismen, die in der gegenwärtigen polnischen Kultur und Gesellschaft, die tief geteilt und polarisiert ist, existieren.

Die beschleunigten kapitalistischen Prozesse nach 1989 verschärften die Aufteilung in zwei Polen: Ein Polen, das sich entwickelt, ein europäisches, weltoffenes, laizistisches und tolerantes Polen, eines, in dem Englisch zur ersten Fremdsprache geworden ist und eines, das vollstens die Wohltaten von Globalisierungsprozessen nutzt. Das andere Polen hingegen kommt bei den Veränderungen der modernen Gesellschaft nicht hinterher, ist ökonomisch weniger entwickelt, xenophobisch und konservativ-katholisch. Dieses Polen blickt nostalgisch auf “bessere Zeiten” der Volksrepublik Polen und der sowjetischen Dominanz zurück, die jedoch unwiederbringlich vorüber sind.

Diese Aufspaltung ist mit der globalen Tendenz der sich verschärfenden Unterschiede in der “Glokalisierung” vergleichbar, wie sie Zygmunt Bauman beschreibt (Globalization, 1998); oder zwischen der Ersten und Dritten Welt, wie sie Michael Hardt und Antoni Negri beschrieben haben (Empire, 2000), jedoch in demselben sozio-politischen und geo-historischem Raum. Die gegenwärtige Polarisierung der polnischen Gesellschaft hat ihre Wurzeln ebenfalls in weltanschaulichen Unterschieden, die durch den offensiven Katholizismus vor Ort zugespitzt wird. Die inoffizielle, jedoch nicht weniger bedeutungs- volle Beteiligung der katholischen Kirche am politischen Leben des Landes tut ihren Teil dazu.

Der Schaffensprozess Rycharskis, angelehnt an den Dialog, unterscheidet ihn von allgemeinen Tendenzen “kritischer Kunst”, die in der polnischen Kunst seit 2000 zu beobachten sind und durch permanente Provokationen dem polnischen Publikum Schocktherapien verabreicht.

Kritische polnische Künstler beziehen sich meist auf historische, soziale und kulturelle Tabus in der polnischen Gesellschaft und versuchen mit entblößten Körpern und der Umkehrung religiöser und nationaler Symbolik zu beeindrucken.

Statt zu schockieren und Skandale wie seine älteren Kollegen hervorzurufen, konzentriert sich Rycharski darauf, Brücken zwischen Mensch und Natur, Stadt und Land, Populär- und Hochkultur zu bauen. Die Arbeiten des Künstlers lassen die Grenzen zwischen polaren Begriffen und Kategorien wie Entwicklung und Beharrung, Säkularismus und Fundamenta- lismus, Modernität und Provinzialität, Laizismus und Religiosität verschwimmen.

Rycharski bietet den Dialog an und versucht Macht- und Dominanzverhältnisse aufzuzeigen und umzukehren. Um den gegenwärtigen Antagonismus der Hochkultur in Großstädten und ihren “Mangel” im provinziellen dörflichen Umfeld und kleinstädtischen Milieus zu überwinden, lud er das Stadtpublikum nach Kurówko ein, wo die lokale Bevölkerung eine Reihe an Aufgaben für sie vorbereitet hatte (Geländespiel/Gra terenowa, 2014). Diese Problematik der Machtverhältnisse wurde von ihm ebenfalls in der Installation Das Museum der alternativen gesellschaftlichen Geschichten/Muzeum Alternatywnych Historii Społecznych (2015) untersucht.

Viele Arbeiten von Rycharski thematisieren nicht nur die Mechanismen historischer Amnesie, sondern auch die Problematik des Ausschließens. Projekte wie Die Insel/Wyspa (2018) machen auf die Abwesenheit der jüdischen Bevölkerung, die über fünf Jahrhun- derte ein fester Bestandteil des polnischen Landlebens war, aufmerksam. Der Künstler erforscht ebenfalls den Hegemonismus, der das polnische Dorf im historischen Kontext betrifft: Er dekonstruiert den romantischen Mythos des adeligen Polen als den Urgroß- vater des gegenwärtigen polnischen Bürgers, der in den Narrativen der heutigen Nationalisten dominiert. Die skulpturale Installation Das Tor/Brama (2014) aus bunten Metallstäben entstand am 150. Jahrestag der Abschaffung der Leibeigenschaft (1864) und damit des Feudalismus in polnischen Gebieten .

Mit der Realisierung des mobilen Denkmals des Bauers/Pomnik chłopa (2015) setzt Rycharski ein Zeichen gegen die moderne Versklavung und Ausbeutung der übergangenen polnischen Bauern und lenkt die Aufmerksamkeit auf ihr Leiden.

Das Motiv des Martyriums und des Ausschlusses taucht in Rycharskis Werk im autobiografischen Kontext auf. In einem der letzten Interviews definiert sich der Künstler selbst als eine gläubige und homosexuelle Person. Er sprach von seiner eigenen Suche nach einer Antwort auf theologische Fragen, die ihm in der Überwindung der Unvereinbarkeit und Inkohärenz der eigenen Identität helfen könnten.

“Ich habe verstanden, dass ich im Katholizismus keinen Platz finden werde”, sagte der Künstler in einem Interview mit culture.pl. Dabei berief er sich auf das Konzept des Christentums ohne Religion, wie es Dietrich Bonhoeffer 1944 im Angesicht des National- sozialismus formuliert hat. Der evangelische Theologe sprach von der Rolle der fürsorg- lichen Kirche gegenüber den Opfern des damaligen gesellschaftlichen Systems, die bedingungslos und unabhängig gegenüber den Werten handeln sollte, zu denen sich die Unterdrückten bekennen. Vor diesem Hintergrund ist Rycharskis zunehmendes kritisches Verhältnis gegenüber dem polnischen Katholizismus zu verstehen. Zu den neuesten Arbeiten gehört beispielsweise das textile Objekt Ku-Klux-Klan (2018-2019), das aus liturgischen Gewändern von Personen, die die katholische Kirche verlassen haben, genäht wurde.

Die 2016 für die Gewerkschaft polnischer Landwirte realisierte Standarte des heiligen Expeditus/ Sztandar Świętego Ekspedyta, des Schutzheiligen in dringenden und verzweifelten Angelegenheiten, ist Andrzej Filipiak gewidmet, der 2013 aus Protest gegen die Agrarpolitik der polnischen Regierung während einer Demonstration eine Selbst- verbrennung verübte. Seine Verzweiflungstat erinnerte an Ryszard Siwc, der sich 1968 während eines Erntedankfests vor Vertretern der Polnischen Volksrepublik ebenfalls selbst verbrannte.

Rycharski griff das Motiv des heiligen Expeditors wieder auf, als er in seiner Verkörperung den Widerstand gegen die homophobe Haltung des katholischen Konservatismus gegenüber dem Umkreis der LGBT+ ausdrücken wollte.

Die komplexe Verflechtung von gestalterischen Elementen aus der bäuerlichen und katholischen Volkskultur mit bäuerlich magischem Denken und Rycharskis Überlegungen zur gegenwärtigen Theologie haben die Bändigung der Ängste vor dem Anderen zum Ziel. Der Künstler lädt die Betrachter dazu ein, die Vertrautheit des Anderen wahrzunehmen.

Seine Installationen und Interventionen im öffentlichen Raum auf dem Lande bilden Enklaven des Dialogs für nur scheinbar polarisierte Milieus. Mit der Hinwendung zur Volkstümlichkeit ermöglicht Rycharski scheinbar unmögliche Begegnungen und erreicht Betrachter aus vermeintlich kunstfernen Milieus. Ähnlich wie beim argentinischen Philosophen Rodolfo Kusch (Obras completas, 2009) wird der fruchtbare südamerika- nische Ackerboden zu einer wirklichen Quelle, aus der Kultur sprießen kann.

Ländlichkeit, nicht im Sinne eines exotisches Sprungbretts für den polnischen Städter –  wie im Fall der Faszination des Ländlichen im Drama Hochzeit/Wesele von Stanisław Wyspiański, sondern als eine nicht zerrissene Komponente der eigenen Identität, wird sie zu einer Spritze der Authentizität mit vitaler Bedeutung für die gegenwärtige Kultur Polens, die von sozialem Snobismus frei ist.

 

Text: Dr. Katarzyna Cytlak

Dr. Katarzyna Cytlak ist eine polnische Kunsthistorikerin mit Wohnsitz in Buenos Aires, Argentinien. Sie forscht über zeitgenössisches künstlerisches Schaffen in Osteuropa und Lateinamerika aus transnationaler Perspektive. Sie promovierte an der Université Paris 1 Pantheon-Sorbonne und arbeitete als Postdoktorandin am Consejo Nacional de Investigaciones Científicas y Técnicas und der Universidad Nacional de General San Martín in Argentinien. Sie veröffentlichte Artikel u.a. in Umĕní/Art, Eadem Utraque Europa, Telón de Fondo, Third Text und dem RIHA Journal.

Übersetzung aus dem Polnischen: Dorothea von Kierdowski

Fotos: Muzeum Sztuki Nowoczesnej Warszawa/ Daniel Chrobak

www.artmuseum.pl/daniel-rycharski-strachy

www.artfacts.net/exhibition/daniel-rycharski