Kristin Lohmanns „Grasstücke“: Verwandlung von Alltagsgegenständen in Natur

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Vom 12. – 18. September – während der documenta fifteen – verwandelte sich die Karlskirche in Kassel zu einem ganz besonderen Ort:

Sattes Grün fiel sofort ins Auge. Grasstücke zierten den Raum. Beim näheren Herantreten wurde für mich sichtbar: Erdig-braune Platten standen locker auf zwei Holzböcken. In die Platten waren Bleistifte in gleicher Länge in den Farben Hellgrün und Türkis hineingesteckt. Die Bleistiftspitzen lugten sichtbar unter der Platte hervor und erinnerten mich an kleine Wurzeln.  Mit ihrer Kunstinstallation „Grasstücke“ hat die in der Nähe von Frankfurt lebende Bildhauerin Kristin Lohmann eindrucksvoll den Raum interveniert. Das Kunstwerk wirkte noch längere Zeit in mir fort – eine Kunst-Postkarte, welche die „Bleistiftplatten“ von unten zeigt, dient mir als Lesezeichen.

Das Projekt war Teil der vom Ev. Forum Kassel organisierten Kunstreihe „what matters“, in der es um das Zusammenspiel von Bedeutung, Form und Material ging.

Die Künstlerin hat dazu durch verschiedene Gespräche Einblicke in ihre Gedankenwelt und Werkstatt gegeben:

Es gehe ihr darum, aus künstlerischer Sicht das Thema „Natur“ zur Darstellung zu bringen und wahrnehmbar zu machen. Dazu löst sie Alltagsgegenstände aus alten in neue Kontexte und zeigt neue Sichtweisen, die Gras sehr ähnlich sind.

Relativ schnell entschied sich Lohmann für Bleistifte, da deren Spitzen an Wurzeln und deren Form an lange Halme erinnert. Über 8000 Bleistifte sind deshalb in dem Werk verarbeitet, und zwar ungekürzt und nicht nachgespitzt. Um Schatteneffekte zu erzielen, sind zwischen den grünen Bleistiften vereinzelt türkisfarbene platziert.

Als Untergrund hat sich Lohmann für dünne Platten aus Cortenstahl entschieden. Ausschlaggebend dafür war dessen rough-rostige Struktur, die Assoziationen von Erde wachruft. Darüber hinaus spielt Lohmann mit Innen und Außen, da der durch Salzwasser zur Korrosion gebrachte Stahl vornehmlich im Freiluftbereich eingesetzt wird.

Via Mausklick am Computer habe Lohmann selbst die Löcher für die Bleistifte in die Platten gesetzt, die dann von der Maschine in den Stahl gelagert wurden. Dabei treten an manchen Stellen, um eine natürliche Wirkung zu erzielen, verdichtet Löcher auf und an anderen ausgedünnt. Die Löcher selbst sind alle in der gleichen Größe und im gleichen Winkel gebohrt.

Durch die konische Form sucht sich schließlich jeder Bleistift nach dem Hereinstecken selbst seinen Platz auf der Platte aus Cortenstahl. Lohmann habe lediglich an der ein oder anderen Stelle vorsichtig nachjustiert. Dabei habe sie kleine Störungen der Ordnung dankend in Kauf, genommen da diese dazu dienen, einen neuen Blick auf das Gesamte zu bekommen.

Lohmann arbeitet gerne mit Materialien aus dem Baumarkt. Für ihr „Grasprojekt“ hat sie Holzböcke aus dem Baumarkt besorgt – teilweise auch unterschiedlich hoch. Dadurch bekommen die preisgünstigen Holzkonstruktionen eine neue Funktion und Wertigkeit. Sie werden zum Teil ihrer Kunstobjekte. Auf diese Weise möchte Lohmann die Objekte auch vor dem schnellen Verschwinden bewahren, denn alles, was nicht viel kostet, wird auch oft vorbehaltlos entsorgt. Bezogen auf die Ausstellungsreihe arbeitet Lohmann so, dass sie Alltagsgegenständen zum Material ihrer Kunstwerke macht und ihnen neue Bedeutsamkeit quasi als Gras und Rollrasen zukommen lässt.

Kristin Lohmanns „Grasstücke“ haben mich durch Einfachheit und Minimalismus mit großer Wirkung im Kirchraum fasziniert. Schnell hat mein Auge die Bleistiftanordnungen in Gras und Natur verwandelt, welches den Kirchraum eindrucksvoll und originell begrünt.

„Grasstücke“ von unten, nochmals ein anderer Blickwinkel, der mich in Postkartenform als Lesezeichen begleitet. Hier verwandeln meine Augen kleine Punkte auf rostig wirkender Oberfläche in Wurzeln. Immer wieder verwandeln sich die Bleistifte in Gras, verwandelt sich Alltag in Natur, gleitet mein Auge – von Lohmann zu diesem Seh-Spiel eingeladen – zwischen den beiden Sphären.

Christina Bickel