Kolumne: Durch die Augen der Kunst – Der Wetterhahn

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Lisa Bartling, Osten, Analogitale Collage (2022)

 

„Ohh, look! There’s a rooster on top of the church!“ Ich trete gerade aus einem Laden an der Marburger Biegenstraße, als der Wind diesen Gesprächsfetzen zu mir trägt. Auf dem Gehweg, einige Meter entfernt, tauscht eine Gruppe Touristen begeistert-verblüffte Blicke.

In der Tat: Ein Wetterhahn bekrönt den Turm der katholischen Kirche – nichts worüber ich mir bislang groß Gedanken gemacht hätte. Das ist halt so – bei St. Peter und Paul, wie auch bei vielen anderen Kirchen, die ich kenne. Das Erstaunlichste ist für mich hier das Erstaunen der Menschen selber. Ich klinke mich ins Gespräch ein, um herauszufinden, woher sie kommen – vielleicht liefert das eine Erklärung?

Die älteren Herrschaften, US-Amerikaner, wie sich herausstellt, nutzen die Chance direkt, um mich als „Local“ auf den Hahn anzusprechen. Viel mehr als dass so ein Hahn auf einer Kirchturmspitze in Deutschland – und meinen Reiseerfahrungen nach auch in Europa – nichts Ungewöhnliches ist, weiß ich allerdings nicht zu berichten. Von dieser Information zeigen sie sich jedoch schon recht angetan. Nachdem sie noch einige Sightseeing-Tipps und Wegbeschreibungen erfragen konnten, scheine ich ihre Anforderungen an einen Kurzzeit-Guide erfüllt zu haben.

Für mich ist jedoch noch lange nicht alles geklärt, ganz im Gegenteil: Ich brauche nun Antworten auf Fragen, die ich mir vorher nicht gestellt habe: Gibt es in den USA keine Wetterhähne oder sind sie einfach nur weniger verbreitet? Und warum überhaupt ein Hahn? Jedes anderes Tier hätte ähnlich viel oder wenig mit dem Wetter zu tun. – Ich beginne also zu recherchieren.

Was die Wetterhähne in den USA angeht: Es scheint sie schon zu geben, wenngleich die Tradition eher in Einzelfällen ihren Weg auf die andere Seite des Atlantiks gefunden hat. Das erklärt, warum diesen Leuten nie zuvor ein Wetterhahn untergekommen ist.

Noch mehr interessiert mich aber die Frage nach der Bedeutung: Woher stammt die Tradition, einen metallenen Hahn auf die Kirchturmspitze zu setzen? In der Unibibliothek durchforste ich einige kunsthistorische Wälzer nach der Antwort. Im guten alten Lexikon der christlichen Ikonographie, einem der kunsthistorischen Handbücher (weniger handlich als es diese Bezeichnung vermuten lässt), werde ich schließlich fündig. Hier offenbart sich eine unglaubliche Fülle an symbolischen Bedeutungen des Hahns, die oft bis in den Alten Orient zurückreichen… Uff!

Aber fassen wir es kurz: Der Hahn sei in erster Linie ein altes Symbol für Wachsamkeit, eine Bedeutung, die ihm aufgrund seines regelmäßigen Krähens in den frühen Morgenstunden zugeschrieben wurde. Zusätzlich zu dieser Symbolik sollte der Hahn auf der Kirchturmspitze die Gläubigen an jene Bibelstelle im Neuen Testament erinnern, an der Petrus Jesus dreimal verleugnet, noch bevor der Hahn kräht – genau wie Jesus es vorausgesagt hatte. Aus dieser Verleugnungsszene leitet die patristische Literatur, also die Literatur der Kirchenväter, die Symbolik des Hahns als Rufer und Mahner ab. Der Turmhahn ruft also zum rechtzeitigen Erscheinen zum Gebet und mahnt zur Einkehr.

Die frühste schriftliche Erwähnung eines Turmhahns stammt übrigens aus dem 9. Jahrhundert. Ihr zufolge ließ Rampertus, Bischof von Brescia, im Jahr 820 einen Hahn für seine Kirche gießen.

Und was macht den Turmhahn nun zum Wetterhahn? Weil Wetterhähne sich frei um die eigene Achse drehen können, drehen sie sich stets in die Richtung, aus der der Wind weht. Wer gewisse meteorologische Kenntnisse mitbringt, kann aus der Beobachtung des Hahns Wetterprognosen ableiten – deswegen also Wetterhahn.

– Für das nächste Aufeinandertreffen mit Touristen bin ich jetzt auf jeden Fall gewappnet.

 

 

 

Durch die Augen der Kunst

Die Künstlerin und Kunsthistorikerin Lisa Bartling berichtet hier von nun an regelmäßig über die kleinen religionsästhetischen Phänomene, die ihr im täglichen Leben begegnen. Davon inspiriert wird jedes Mal auch eine künstlerische Arbeit entstehen, als Skizze, Illustration oder Fotografie.

 

Bild: © Lisa Bartling