Kapelle der Versöhnung in Berlin

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Mit dem Mauerbau im Jahre 1961 wurde die Bernauer Straße in Berlin zum gleichsam eindrücklichen wie schmerzhaften Symbol der deutschen Teilung. So trennte die Mauer hier fortan die Straße in ihrer Länge, verlief die Grenze zwischen Deutschland-Ost und -West unmittelbar entlang der Häuserfronten an ihrer Südseite. Unvergessen sind vielen bis heute die Bilder von Menschen, die damals versuchten, aus diesen Häusern auf den in West-Berlin gelegenen Bürgersteig zu fliehen. Etliche sprangen in den Tod. Bald darauf wurden die Fenster vermauert, später die Häuser abgebrochen. An ihre Stelle trat über die Jahre ein immer weiter massiv ausgebautes Sperrsystem.

Stehen blieb nur die Versöhnungskirche. Im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt, war ihr 1894 eingeweihter Bau,  einst errichtet nach Plänen des Architekten Gotthilf Ludwig Möckel, bis zum Jahre 1950 wiederhergestellt worden. Doch stand das Gebäude nun im Ostsektor, wohingegegen sich die Gemeinde größtenteils im Westteil der Stadt befand. Mit dem Mauerbau geriet die Kirche gar mitten in die Sperranlagen und war fortan unzugänglich. Ihre weltweit beachtete Sprengung im Januar 1985 führte schließlich auch zu ihrer vollständigen Beseitigung.

Kaum fünf Jahre später fiel mit der „Wende“ auch die Mauer in der Bernauer Straße. Dabei blieb ein Teil der einstigen Sperranlagen hier erhalten und wurde nachfolgend zur Gedenkstätte gestaltet. Die Versöhnungsgemeinde indes erhielt ihr ehemaliges Kirchengrundstück zurück – mit der Auflage, es wieder gottesdienstlich zu nutzen. Dem folgte der Entschluss, hier einen Neubau zu errichten. Dabei entstand vor nunmehr gut zehn Jahren, 1999/2000, nach Plänen der Berliner Architekten Rudolf Reitermann und Peter Sassenroth, ein höchst spannungsvoller Kapellenbau, der an die Geschichte des Ortes gemahnt, aber auch ein Zeichen der Versöhnung zwischen Ost und West setzen will.

Ein ovaler Kern aus Stampflehm bildet das Innere der Kapelle. Dieser wird nach außen hin von einer in leichter Holzbauweise errichteten, halboffenen Hülle umschlossen, so dass sich der Außenbau als von Holzlamellen eingefasster Umgang darstellt. In der Art eines Wandelganges überdacht und doch durchlüftet, dient er der Erschließung des Gebäudes – gleichermaßen als Foyer und Gemeinderaum. Gleichzeitig überspannt sein Dach auch den Kernbau der Kapelle und verbindet so beide Gebäudeteile. Dabei umfasst der gut 9 m hohe und bis zu 18,5 m breite Neubau insgesamt aber nur den Chorraum der früheren Versöhnungskirche.

Der in Stampflehm ausgeführte Innenbau wird von oben durch eine verglaste Öffnung im Dach belichtet. Seinem – unter der Federführung des österreichischen Lehmbauers Martin Rauch verarbeiteten – Baumaterial wurde Ziegelsplitt der zerstörten Kirche beigemengt. Auch wurden in das Innere der neuen Kapelle Reste der Ausstattung ihres 1985 gesprengten Vorgängerbaus aufgenommen. Hierzu gehört vor allem der Altaraufbau, aufgestellt in einer an der Mittelachse der alten Kirche orientierten Wandnische. Durch ein Fenster im Boden dieser Nische ist zudem der Kellereingang des früheren Baus sichtbar.

Der neue Altar der Kapelle – ausgeführt aus Stampflehm – wurde hingegen streng in der Ostung des Neubaus platziert. Unter ihm wurde die Altarmensa der alten Versöhnungskirche ausgelegt. Daneben fand ein Vortragekreuz des armenischen Künstlers Chavarsh Khachatryan Aufstellung. Der geradezu archaisch anmutende Innenraum bietet gut 80 Personen Platz. Damit nimmt die neue Kapelle auch Rücksicht auf sinkende Gemeindegliederzahlen und Finanzmittel. Ihr Baustoff – Lehm – ist ebenso ökologisch verträglich wie der Verzicht auf eine Heizungsanlage.

Im Eingangsbereich des Grundstücks nimmt heute ein einfaches, hölzernes Läutegerüst die geretteten Glocken der alten Versöhnungskirche auf. Sie werden jetzt von Hand geläutet. Doch die „Kapelle der Versöhnung“ ist nicht nur Mahn- und Erinnerungsort, sondern auch neuer Gemeindemittelpunkt. Denn die Gemeinde stellte ihr 1965 im Westteil der Stadt, schräg gegenüber der alten Kirche errichtetes Gemeindezentrum als Dokumentationszentrum zur Mauergeschichte zur Verfügung. Das so entstandene Gedenk-Ensemble bildet nunmehr die Grundlage einer Versöhnungsarbeit, der sich die Gemeinde heute verschrieben hat.

In den nunmehr knapp zehn Jahren ihres Bestehens hat sich die Kapelle als außergewöhnlicher Ort in Berlin denn auch hochgradig bewährt. Tag für Tag strömen Menschen, einzeln, in Familien oder in Schüler- und Besuchergruppen aus der ganzen Welt in die Kapelle und nehmen diese, ihre Geschichte und ihr Umfeld wie die dortige  Gemeindearbeit mit Gottesdiensten, Andachten, Gebeten und weiteren Angeboten wahr.

Besonders eindrücklich ist das wochentägliche „Gedenken an die Todesopfer der Berliner Mauer“, bei dem je zur Mittagszeit an Menschen erinnert wird, die ihr Leben an der Grenze zwischen Ost und West verloren: Eindrückliche, bewegende, herausfordernde Biographien und Schicksale, die so nicht in Vergessenheit geraten – und deren Geschichte und Weitergabe ernsthafte Versöhnung zwischen Ost und West und die Überwindung tief gewachsener Gegensätze und Spannungen – immer wieder neu – erst möglich machen.

So ist die Kapelle der Versöhnung zu einem eindrücklichen wie höchst bedeutsamen Ort der Begegnung zwischen Ost und West, nicht nur zwischen Deutschen und Deutschen, sondern zwischen allen Bewohner/-innen zweier einst unversöhnlicher Machtblöcke in Europa und der Welt geworden.

Weitere Informationen u.a. unter http://www.kirche-versoehnung.de

Der Autor – Dipl.-Theol. Matthias Ludwig (www.kirchenbauten.info) – ist Freier Berater in der Entwicklung neuer Nutzungs-, Erhaltungs- und Gestaltungskonzepte für Kirchen und kirchliche Gebäude. – Studium Bauingenieurwesen, Theologie und Kunstgeschichte. 1991-96 wiss. Mitarbeiter am Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart an der Philipps-Universität Marburg/Lahn. 1999-2001 Projektbetreuer bei der Stiftung zur Bewahrung kirchlicher Baudenkmäler in Deutschland, Hamburg/Hannover. Anschließend bis Anfang 2007 Assistent am Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, Marburg. – Zahlreiche Projekte, Vorträge und Veröffentlichungen zum Themenbereich Kirchen – Bau – Kunst, vor allem zur Nutzung von Kirchengebäuden.

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