Die Irritation beginnt beim Eingang. Es gibt ein gelbes Heft für Kinder und Familien mit Bleistiften, um Ideen aufzuschreiben. Ideen, die die Kinder beim Ausprobieren der Kunstwerke entwickeln. Denn Lygia Clark lädt die Kinder ein, ihre Kunst mit allen Sinnen zu erleben: „Probier ausgewählte Kunstwerke selber aus und bewege sie, taste, rieche und fühle ganz bewusst.“
Geht man dann in den ersten Saal, sieht man eine südamerikanische Seitenlinie der Konkreten Kunst, eine Ausstellungen für Kenner der Kunstgeschichte. Grupo Ruptura heißt die Künstlergruppe mit der Lygia Clark in den 1950er Jahren in Brasilen für die Rezeption der Konkreten Kunst in Lateinamerika sorgte.
Man sieht den Einfluss von Max Bill, Albers oder Piet Mondrian in der Reihe Descoberta da Linha Organica (Entdeckung der organischen Linie) von 1954 oder den Superficie Modulada (Modulierten Oberflächen) von 1957. Aber man sieht nichts zum selber bewegen, fühlen oder tasten. Es sind klassische Tafelbilder, zweidimensionale Konstellationen geometrischer Formen. Dann die Objekte, Estrutuar de Caixas de Fosforos, die aussehen wie aufeinander geschichtete Streichholzschachteln. Auch sie sind „Noli me tangere“, nicht zum anfassen. Lygia Clark folgt hier einer Linie in der europäischen Moderne, dem Weg, der von der Konkreten Kunst in die Architektur führt, etwa bei Le Corbusier.
Aber dann gibt es einen Moment der Distanz zum Formalismus der konkreten Kunst. Bichos, Tiere, nennt die Künstlerin ihre Skulpturen. Sie sind aus Metall, mit Scharnieren, auf niederen Sockeln platziert, damit sich die Betrachter zu ihnen niederbeugen müsssen, um mit ihnen zu spielen wie mit einem Hund oder einer Katze. Mit diesen Bichos ist sie 1968 auf der Biennale in Venedig zu sehen. Bis zu diesem Punkt scheint Lygia Clark eine der Meisterschülerinnen von Max Bill gewesen zu sein, die in Brasilien die Konkreten Kunst aus Europa heimisch macht. So eurozentrisch hätte vermutlich auch Max Bill geurteilt. Doch dann steht man am Ende des großen Saals voller Bichos vor einem Tisch mit Papierstreifen, Scheren und einer Tafel, die erklärt, wie man mit den Papierstreifen eine Möbiusschleife herstellt. Caminhando, unterwegs, heißt die Arbeit.






Auch Max Bill, das große Vorbild von Lygia Clark befasst sich seit 1935 mit dem Motiv der Möbiusschleife, Ausdruck seiner Überzeugung, dass Kunst aus einer mathematischen Denkweise entwickelt werden kann. Vor der Deutschen Bank in Frankfurt steht eine Möbiusschleife von Max Bill aus Granit, 4,5 m hoch und 80 Tonnen schwer. Lygia Clarks Version dagegen ist simpel. Jedes Kind kann sie sich selber basteln. Ein Streifen aus Papier und etwas Klebstoff reichen. Diese einfache Papierschleife bietet unbegrenzte Möglichkeiten zu spüren, zu tasten, zu entdecken. Mehr und einfacher als mit dem tonnenschweren Koloss vor der Deutschen Bank. Und was die Kinder entdecken, das sollen sie dann in ihre gelben Hefte eintragen. Denn anders als Max Bill ist das Kunstwerk, das Lygia Clark interessiert, die immaterielle Handlung, die Entdeckung, Wahrnehmung, Erkenntnis, die jeder Besucher mit seiner selbst gebastelten Möbiusschleife macht. Ironischer, spielerischer, leichtfüßiger kann man nicht Abschied nehmen von seinem großen Vorbild. Die Verlagerung der Aufmerksamkeit vom Objekt zu den immateriellen Handlungen, in die jedes Kunstwerk eingebettet ist, kann man nicht hoch genug einschätzen. Es ist eine Entgrenzung der Kunstsphäre (Fischer-Lichte) und eine Geburtsstunde der Performance-Kunst. Zugleich ist es der Abschied vom Geniekult um die Künstler und dem latenten Fetischcharakter ihrer Werke, der Ware Kunst, wie das Wolfgang Ulrich in seinem Buch Siegerkunst so brillant dargelegt hat. Dass es sich um einen großen Bruch handelt, eine rupture, belegt die Berliner Retrospektive. Trotz der Kontinuität im Gesamtwerk – sie greift im Spätwerk auf die organische Linie oder die Interaktionen mit ihren Bichos zurück -, gibt es in dieser Ausstellung zwei getrennte Welten, die Welt der Werke einerseits und die Welt der Beziehungen und Handlungen andererseits. Es ist sicher kein Zufall, dass der Bruch mit Caminhando im Jahr 1964 geschieht. In Brasilien herrscht eine Militärdiktatur und zwingt Lygia Clark ins Exil.


Im Exil wird ihre Kunst existentieller. Sie entwickelt sensorische Objekte, Masken, Handschuhe, die der Sensibilisierung der Wahrnehmung dienen, auch dem Bewusstwerden der Rolle des Geschlechts in der Kleidung-Körper Serie von 1967. Dann richtet sich ihr Interesse auf die sozialen Beziehungen in einer Gruppe. Der Begriff der Partizipation wird zentral. Aus Betrachtern werden die Urheber eines Werk, das aus dem koordinierten Miteinander besteht. Sie entwirft farbige Overalls aus Stoff, die miteinander vernäht werden, so dass sich eine Gruppe nur zusammen bewegen kann. Manche ihrer Performances aus den 1970er Jahren sind kurios bis befremdlich, etwa die Gruppenperformance mit Speichelfäden oder Canibalismo von 1973, wo die Gruppe Früchte aus dem künstlichen Bauch eines liegenden Probanden verzehrt. Aber allen ihren Arbeiten ist der großen Ernst anzumerken und die Leidenschaft, mit der sie die Kunst aus ihrer gesellschaftlichen Isolation herausführen und zu einem Motor der sozialen Transformation machen will.


1976 zieht Lygia Clark wieder zurück nach Brasilien. Dort beginnt sie ihr therapeutisches Spätwerk. Es wirkt wie die Summe aus allem, was zuvor war. Die transformativen Prozesse, die Sensibilisierung der Wahrnehmung, die Experimente zu den relationalen Objekten, die Entgrenzung des Einzelnen in einer schöpferischen Gemeinschaft. All das das fließt ein in ihr Konzept einer therapeutischen Kunst. Estruturacao do Self, das Selbst strukturieren, nennt sie die Arbeit der Kunst an den inneren Blockaden der Seele. In der Ausstellung ist ihr Behandlungszimmer zu sehen, eine Art Bühne, ein stage of recovery, wo der Client auf einer Matratze, gefüllt mit kleinen Schaumstoffkügelchen liegt, sich entspannt, um dann mit verschiedenen relationalen Objekten belegt zu werden, die ihm helfen sollen eine Beziehung zu seinen verborgenen Fantasien und Regressionen aufzubauen, die in seinem Köpere sedimentiert sind. Es ist ein poetischerer Zufluchtsort, ein Ort der inneren Bilder, der das Selbst in Kontakt mit sich, seinen verschütteten Erinnerungen bringt und es mit anderen, dem kollektiven Leib verbindet.
Und dann steht man am Ausgang, ist etwas verwirrt, und freut sich an einem Tisch, an dem eine Museumspädagogin mit den Kindern, die aus der Ausstellung kommen, die Ideen anschaut, die sie in ihren gelben Heften gesammelt haben. Aber nur mit den Kindern. Die Erwachsenen müssen ihre Eindrücken des komplexen Gesamtwerks einer großartigen und mutigen Künstlerin selber verarbeiten.
Die Ausstellung ist noch bis zum 12. Oktober 2025 in der Neuen Nationalgalerie in Berlin zu sehen.Der ausgezeichnete Katalog, Lygia Clark, Retrospektive. Neue Nationalgalerie Berlin, hg. von Irina Hiebert Grun, Maike Steinkamp und Catherine Hug, S. 264, Leipzig 2025 kostet 42 €.
Das wunderbare, gelbe Heft „Erkunde Lygia Clark Retrospektive“ für Kinder und Familien, auf Deutsch und Englisch ist umsonst und liegt am Eingang aus.









