KBT Dortmund – Presse – Gymnastik und Gottesdienst

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Ev. Schalom Gemeindezentrum Dortmund-Scharnhorst

Foto: Ulrich Althöfer, Kerstin Wittmann-Englert

Der Evangelische Kirchbautag findet vom 23. bis 26. Oktober 2008 in Dortmund statt. Im Fokus des Interesses: fünf Dortmunder Kirchengemeinden, die sich im Übergang befinden. Eine davon ist das Ev. Schalom Gemeindezentrum in Dortmund Scharnhorst.

Gymnastik und Gottesdienst

Die innovativen Gemeindezentren der späten 60er Jahre stehen heute vor neuen Herausforderungen. Denn immer mehr Menschen sehnen sich nach sakralen Gebäuden, einer Aura, die Funktionsbauten aus dieser Zeit zumeist nicht bieten.
Auf den Tellern liegen für jeden zwei Stückchen Kuchen: Donauwelle und eine Fruchtschnitte. Das Geklapper der Kuchengabel auf dem Teller kommt gegen das Geschnatter von 20 Frauenstimmen nicht an. Die Damen der Frauenhilfe der evangelischen Schalom-Gemeinde in Dortmund-Scharnhorst haben sich viel zu erzählen. Sie treffen sich zu einer fröhlichen Runde der Begegnung im so genannten Multifunktionsraum des Gemeindezentrums.
Weiße Wände, hölzerne Decke, eine große, gradlinige Fensterfront, Pflanzen auf den Fensterbänken. Nur das schlichte Holzkreuz an der Wand erinnert in diesem Raum an ein Kirchengebäude. Fast lieblos wird er von allen Multifunktionsraum genannt und bildet doch das heimliche Herzstück des Gemeindezentrums der Schalom-Gemeinde in Scharnhorst. Gymnastik oder Gottesdienst, hier findet alles statt, was das Gemeindeleben ausmacht. Bis zu 280 Menschen bietet dieser Raum Platz und ist durch eine verschiebbare Wand auch wahlweise in zwei kleinere Räume teilbar. „Hier ist es so gemütlich, fast wie in einem Wohnzimmer“, findet Helga Wortmann. Die 71-Jährige ist seit 40 Jahren Mitglied der Schalom-Gemeinde und nimmt seitdem auch alle zwei Wochen an den Treffen der Frauenhilfe teil.
1973 wurde dieses Gemeindezentrum fertig gestellt. Es ist ein typischer Kirchbau der späten 60er Jahre. Optisch fügt er sich ins Bild der umliegenden Häuser der Wohnsiedlung ein: mit Schiefertafeln verkleidet, kein Kirchturm. „Eine Kirche für die Menschen vor Ort eben“, sagt Pfarrerin Irmgard Feiler-Rosiepen. Als sie 1981 als Pfarrerin in die Schalom-Gemeinde kam, war sie glücklich in einem modernen Gemeindezentrum zu arbeiten: „Es war eine Aufbruchstimmung. Doch alles was man verändern wollte, war durch die Architektur der traditionellen Kirchen verboten“, erklärt sie heute. Anders in Scharnhorst: „Im Zentrum stehen hier Kommunikation und Begegnung.“ Ein schlichter Bau ohne sakrale Elemente sollte dabei der erste und wichtigste Schritt sein, das Gemeindeleben zu revolutionieren.
Zahlreiche ähnliche Gemeindezentren entstanden in dieser Zeit. “Sie sind im besten Sinne gebaute Theologie, geben dem christlichen Dasein in der säkularisierten Welt Ausdruck. Dabei ist ihre architektonische Gestalt dem Wohnhaus häufig näher als dem traditionellen Sakralbau”, sagt Kerstin Wittmann-Englert vom Institut für Kunstgeschichte der TU Berlin. Die Gemeindezentren der 60er Jahre  folgen, so Wittmann-Englert, einem neuen Theologieverständnis: „Kirche wurde als das verstanden, was das Wort ursprünglich bedeutete, nämlich  als Versammlung.“ Und den unterschiedlichen Aktivitäten dieser  Versammlung entsprach man mit einem differenzierten Raumangebot.
„Dies ist ein Ort, an dem jeder Mensch sich entfalten und glücklich sein kann“, sagt die 71-jährige Helga Wortmann. „Hier werden die Räume noch mit Leben gefüllt.“ Fast täglich treffen sich Gruppen, Vereine und Wohlfahrtsorganisationen. Ebenso ist ein Second-Hand Laden in das Gebäude integriert, der von der Diakonie betrieben wird. „Dies ist ein Ort voller Leben“, sagt auch Gemeindemitglied Inge Federlein. Und doch versteht sie, dass junge Paare sich lieber in einem traditionellen Kirchengebäude trauen lassen: „Das wirkt eben doch ein bisschen festlicher.“
Rückläufige Kirchengemeinde-Mitgliederzahlen bringen diese Gemeindezentren heute in Bestandsnot. „Wenn es darum geht, soll ein Gemeindezentrum oder eine historische Kirche geschlossen werden, wird die Wahl auf das Gemeindezentrum fallen“, sagt auch Kerstin Wittmann-Englert. So stehen die Kirchengebäude der 60er Jahre heute vor der Herausforderung, sich für die Zukunft neu zu definieren.
Zwar hat die Schalom-Gemeinde beständige Mitgliederzahlen. Optisch konnte sie trotzdem nicht mit den traditionellen Kirchen mithalten. Die Schalom-Gemeinde hat dieses Problem bereits vor einigen Jahren erkannt. Ihr Umgang damit, soll beim Kirchbautag ein Beispiel sein. Bereits 1996 wurde die Kapelle restauriert. Aus dem früheren „dunklen, fast unheimlichen“ Raum, wie ihn Pfarrerin Irmgard Feiler-Rosiepen beschreibt, ist heute ein heller und freundlicher Andachtsraum geworden, der auf die Wirkung von Licht setzt. Die gradlinige Fensterfront ist durch längliche Fenster aus bunten Glasmosaiken ersetzt worden. Diese und der moderne Holzaltar hüllen den Raum in eine sakrale Stimmung. „Hier finden ausschließlich Gottesdienste statt“, sagt die Pfarrerin. Als viel besinnlicher als im großen Multifunktionsraum empfinden die Gemeindemitglieder die Gottesdienste in diesem Andachtsraum.
„Mit dem Umbau der Kapelle hat die Schalom-Gemeinde Beispielcharakter, sagt Kerstin Wittmann-Englert von der TU Berlin. Verbindet sie doch die moderne Idee des Gemeindezentrums mit der Sehnsucht nach Sakralbauten. Das meinen auch die Frauen der Frauenhilfe-Gruppe. Auf die Frage, wie sie sich ein modernes Kirchengebäude wünschen, lautet die einstimmige Antwort: „So wie dieses Haus hier.“ Nur bei der Frage, ob mit oder ohne Kirchturm, wird man sich an diesem Nachmittag nicht mehr einig.
Auf den Tellern liegen nur noch ein paar Kuchenkrümel. Doch anstatt nach dem Abspülen nach Hause zu gehen, ziehen die Frauen gemeinsam los. Zu einer Mahnwache in die Innenstadt.

Räumliche Grenzen überwinden

Moderne Kirchen sehen alt aus – und alte Kirchen werden wieder modern. Auf der Suche nach sich selbst besuchen viele Menschen die traditionellen Kirchengebäude, um sich dort in dem Gefühl des Sakralen zu verlieren. Prof. Dr. Thomas Erne ist Direktor des Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart in Marburg und erklärt die verstärkte Sehnsucht nach Sakralbauten.

Woher kommt die Sehnsucht nach Sakralbauten?
Thomas Erne: In einem Alltag voller Zeitdruck und einengender Regeln wird der Wunsch nach Weite immer größer. Es ist der Wunsch, eine bestimmte Atmosphäre zu spüren, die über das Normale hinausgeht. Um das zu beschreiben, benutzen wir auch ein Fachwort: Transzendenz. Das bedeutet, Grenzen zu überschreiten, sich in der Unendlichkeit zu verlieren und so zu sich selbst zu finden. Dieses Gefühl der Transzendenz bieten Sakralbauten. Kirchen stehen heute auch als Raum ohne religiöse Verpflichtung zur Verfügung. Viele Besucher, die in die großen Kirchen als Touristen oder Pilger kommen, wollen nicht an einem Gottesdienst teilnehmen, sondern das Gefühl der Transzendenz im Raum erleben.

Was macht das Sakrale in einem Kirchengebäude aus?
Thomas Erne: Funktional gesehen ist eine Kirche eigentlich ein einfacher, nach vorne gerichteter oder zentral um eine Mitte gruppierter Raum, der funktional keine besonders großen Herausforderungen an den Architekten gestellt. Allerdings ist eine Kirche atmosphärisch ein sehr anspruchsvoller Raum. Vier Faktoren sind dabei zu beachten: Licht, Größe, Akustik und das Material. Durch das Licht kann man entweder einen dunklen, geheimnisvollen Raum schaffen oder es kommt Lichtfülle von oben. Beides hat zur Folge, dass die Raumgrenzen verschwinden. Beim Faktor Größe schafft man entweder einen sehr großen Raum, in dem man sich verlieren kann oder einen kleinen Raum, in dem man sich geborgen und geschützt fühlt wie in der Mutterhöhle. Ähnlich wirkt die Akustik: Ein großer Hall lässt einen Raum unendlich erscheinen, eine kleine Kapelle erzeugt den Eindruck akustischer Intensität. Und auch das Material beeinflusst das Gefühl von Weite. Man legt in großen Kirchen beispielsweise den Boden nicht mit Teppich aus wie in einer Moschee, sondern mit Stein. All diese Faktoren haben die Architekten entwickelt, um ein Gefühl von Weite und Erhabenheit entstehen zu lassen. Diese Faktoren finden sich auch immer mehr in weltlichen Gebäuden wie beispielsweise Fußballstadien oder auch Unternehmensgebäuden, die diese Erhabenheit ausstrahlen wollen.

Ende der 60er Jahre wollte man diese Erhabenheit in Kirchen nicht mehr haben. Kirchengebäude aus der Zeit sind eher schlicht und funktional gehalten. Warum ist das heute wieder anders?
Thomas Erne: Die Gemeindezentren der späten 60er Jahre haben einen spannenden theologischen Ansatz, aber sie haben den atmosphärischen  Faktor vernachlässigt. Die Menschen suchen in Kirchen auch ein bestimmtes Gefühl. Natürlich stand auch in den Gemeindezentren immer ein Gefühl, das Gemeinschaftsgefühl der feiernden Gemeinde, im Mittelpunkt, aber es gibt religiöse Gefühle, die man nicht mit anderen teilen will. Und das können die Räumlichkeiten dieser Gemeindezentren heute nicht bieten. Der Flaneur in der Großstadt möchte heute keine Gruppe um sich haben, wenn er eine Transzendenz-Erfahrung machen will.

Was können die Kirchen tun, um die Sehnsucht nach Sakralität zu befriedigen?
Thomas Erne: Die traditionellen Kirchen, die diese religiöse Atmosphäre schon bieten, sollten ihre Türen öffnen und die Räume von allem befreien, was die Erfahrung der Weite und Transzendenz behindert. Die Gemeindezentren dagegen haben es schwer, diese Atmosphäre zu bieten. Sie sollten sich auf ihre Stärke besinnen, ein Ort intensiver sozialer und religiöser  Kommunikation zu sein. Das erreichen sie, indem sie ihre religiöse Kommunikation auf die alltägliche Situation der Menschen abstimmen. Es gibt diese zwei Typen von Kirche: Der eine wirkt mehr als Raum, der andere mehr in der Kommunikation. Beide sind auch zukünftig wichtig.

Ist die Sehnsucht nach Sakralität nur eine vorübergehende Erscheinung?
Thomas Erne: Nein. Dieser Trend wird andauern. Er geht einher mit einer wichtigen religiösen Frage: Wie räumlich ist Gott? Die Kirche muss sich überlegen: Wo kann sie mit dem Pfund wuchern, das sie mit ihren Kirchen hat? Jede Kirche hat eine religiöse Atmosphäre. Aber die Qualität  der religiösen Atmosphäre muss beständig kultiviert werden, auch in Zukunft. In der Zukunft stellt sich allerdings das Problem der Finanzierbarkeit. Wie sollen künftig immer weniger Kirchenmitglieder  die vielen bedeutenden Kirchen finanziell erhalten? Die Antwort können nicht nur die Kirchenmitglieder geben. Das muss auch die Allgemeinheit tun, also alle Bürger. Denn Kirchen haben eine wichtige Funktion für die gesamte Öffentlichkeit. Deshalb sind auch alle, Kommunen, Vereine, Einzelne eingeladen sich an der Erhaltung der Kirchen finanziell zu beteiligen.

St. Reinoldi, Dortmund, Fotos: Ulrich Althöfer

St. Marien, Dortmund

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