“Fliegende Dinge wie Schiffe” – Ein Interview mit Anna Myga Kasten

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Fliegende Dinge wie Schiffe, Foto: Christina Bickel

Im Rahmen der Reihe „drei in eins. musik kunst sprache. What Matters“ waren in der Kasseler Karlskirche während der documenta fifteen vom 29. August bis 4. September Werke der Künstlerin Anna Myga Kasten zu sehen. “Fliegende Dinge wie Schiffe” bestehend aus Transparentpapier, roten Farbpigmenten und Kleister schwebten über den Köpfen der Besucher:innen.

Nach einem Kunstgottesdienst mit Pfarrerin Maike Westhelle fand am Sonntag, 4. September ein Künstleringespräch zwischen Dorothea von Kiedrowski (Redaktion kunst-religion.de) und der Bildhauerin Anna Myga Kasten zu ihren Arbeiten in der Karlskirche statt, welches im Folgenden in gekürzter Version wiedergegeben wird. Anna Myga Kasten gibt darin persönliche Einblicke in den auf zahlreichen Zufällen beruhenden Entstehungsprozess ihrer Objekte im Kontext ihrer künstlerischen Biographie. Dabei berührt, wie Interessantes, Schönes und Leichtes durch Zufall entgegen vorherrschenden Widrigkeiten entstehen, wie sich für Künstlerin und Betrachtende immer neue Möglichkeitsräume bieten, die zur Neuverortung einladen.

DvK: Liebe Anna, magst Du zunächst ein paar Worte zu Dir selbst sagen?

AMK: Ich bin Anna Myga Kasten, komme aus Berlin und arbeite seit langem mit Skulptur und Bühnenbild. Ich habe an der HBK in Braunschweig studiert und dort 2006 als Meisterschülerin von Johannes Brus abgeschlossen, bin von dort aus erst nach Berlin, dann wieder nach Hamburg gezogen. In Hamburg habe ich noch einige Zeit als Bühnenbildnerin bei Professor Raimund Bauer assistiert und fahre seitdem zweigleisig mit Installation und Bühne.

DvK: Auch ich möchte mich kurz vorstellen: Ich habe ebenfalls freie Kunst studiert, allerdings in Hamburg un danach interkulturelle Kommunikation. Anschließend habe ich mitunter am Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart gearbeitet und nun bin ich als Redakteurin für das Onlinemagazin kunst-religion.de tätig. Doch nun zu Dir, Anna: Wie bist Du überhaupt zur Kunst gekommen?

AMK: Das war im Vergleich zu meinem weiteren Leben, ein relativ direkter Weg. Ich komme aus einem kleinen Ort, aus Espelkamp in der Nähe von Minden, Osnabrück. Zur Kunst bin ich schließlich über einen Kunstleistungskurs in der Schule  gekommen, habe anschließend an Bewerbungsverfahren an Kunsthochschulen teilgenommen. Gottseidank habe ich eine Zulassung in Braunschweig bekommen. Von da an hat sich die Welt für mich verändert.

DvK: Schön, dass Du mit so viel Freude durchs Studium gegangen bist. Danach – so hast Du mir erzählt, ging es bei Dir um die Frage, wie Du Deinen Lebensunterhalt verdienen kannst. Dadurch hast auch auf dem Bau gearbeitet und bist auch zum Bühnenbild gekommen. Haben diese Tätigkeiten Deine Entscheidungen als Künstlerin beeinflusst?

AMK: Mir ist dazu ein Satz von meinem ehemaligen Professor eingefallen, der mir sehr im Kopf geblieben ist: “Man kann die Entscheidung treffen, mit Kunst zu leben, man kann aber sehr schlecht die Entscheidung treffen, von Kunst zu leben.” Und so war es auch. Nach dem Kunststudium bin ich nach Berlin gezogen, habe dort alle möglichen Jobs ausgeübt, gegärtnert und geputzt. Und dann bin ich zum Bühnenbild gekommen, weil ich Geld verdienen wollte. Durch meine Arbeit am Theater in allen Bereichen außer der Schauspielerei, habe ich den Bühnenbildprofessor Prof. Bauer kennengelernt, für den ich lange gearbeitet habe und gemerkt, dass mich das aufgrund der großen Arbeitsformate auch künstlerisch interessiert.

DvK: Kannst Du noch mehr zu Deiner Arbeitsweise erzählen?

AMK: Auf jeden Fall arbeite ich künstlerisch frei. Wenn ich auf einer Baustelle arbeite oder im Theater Lichtdesign für mich entdecke, arbeite ich anders. Wenn ich den ganzen Tag schwer körperlich arbeite, dann mache ich danach vielleicht eher eine Zeichenserie, wobei ich mich hinsetzen kann.

DvK: Und hier nach Kassel bist Du ja mit einer Art Baukasten gekommen und hast diese Papierelemente als Einzelstücke mitgebracht. Hast Du dazu schon einen Bauplan besessen, wie das alles aussehen soll oder hat sich das entwickelt?

AMK: Das Baukastensystem hat mit der zu kleinen Größe meiner Ateliertür zu tun. Anfangs wollte ich die Objekte genauso zusammenbauen, wie sie in meinem Atelier gehangen haben, bin aber daran gescheitert und habe dann für mich beschlossen, dass ich dies sein lasse und ich die Objekte ohnehin lieber neu zusammenbaue so wie sie mir gerade in die Finger kommen und wie sie in den Raum passen, weil der Raum mitarbeiten kann und dadurch schöne Sachen passieren. Ich reagiere somit gleich auf den Raum, den Treppenaufgang, die Form der Orgel, die sich im Objekt wiederspiegelt oder auf das Licht, das durchs Fenster kommt.

DvK: Deine Objekte bestehen aus Architektenpapier, Pigmenten und Kleister und haben ganz eigene Eigenschaften. Wie haben diese Eigenschaften Deine Arbeit und die Objekte beeinflusst? Beeinflussen die Materialeigenschaften die Form deiner Objekte?

AMK: Früher habe ich mit sehr schwerem Material, mit Flaschenzügen und Minibaggern gearbeitet. Es ging mir darum, dass sich die Form durch das Gewicht entwickelt. 2008 hatte ich dann verschiedene Ausstellungen in St. Petersburg. Leider wurde mir der Transport nicht bezahlt. Ich bin dann mit mehreren Papierrollen angereist und habe angefangen, Objekte aus Papier zu bauen. Dabei ist ein Eimer Kleister umgekippt und die Arbeit war erst einmal kaputt, doch ich fand sie dann riffelig doch schön und interessant. Der schwarze Tonkarton wirkte durch den Kleber wie Blech. Das hat mich interessiert und dann ging der Prozess weiter. Im Theater habe ich schließlich für eine Arbeit von meinem Freund Papier geschenkt bekommen, habe da ein bisschen Kleister drauf gekippt, um zu schauen, was passiert und damit die ersten transparenten Objekte gebaut. Der Weg zum Pigment war auch nicht mehr so weit, weil man derartig durchsichtige Objekte schwerer sieht.

DvK: Spannend! Da haben wir das Thema „Zufall“. In Deiner Arbeitsweise, Anna, ist es ein wichtiges Moment, den Zufall bewusst einzusetzen. Mich würde interessieren, wie Du selbst den Zufall für dich verstehst und ihn als künstlerisches Mittel einsetzt?

AMK: Man kann natürlich den Zufall nicht wirklich planen, aber man muss sich in eine Situation begeben, in der man Zufälle zulässt und schauen, was das Material macht. Am Ende wird irgendeine Form herauskommen und die nehme ich. Ein schwieriger Moment: Wann ist man eigentlich fertig? Zum Glück gibt es zeitliche Begrenzungen.

DvK: Wie du bereits angesprochen hast, reagieren die Objekte auf den Raum und das Licht spielt natürlich auch eine Rolle. Außerdem ist es das erste Mal, dass Du im Kirchenraum eine Einzelausstellung hast. Du bespielst den Kirchenraum, der kein neutraler Raum ist. Hier befinden wir uns in einer Hugenottenkirche mit achteckigem Grundriss und schlichter Innenausstattung. Wie ist es für Dich, in diesem Kontext zu arbeiten und auszustellen?

AMK: Also, was dies wirklich mit mir macht, weiß ich erst nach dem Ende der Ausstellung. Heute war ich sehr froh über die Predigt von Maike Westhelle. Sie hat mir unheimlich gut gefallen. Es war ein schönes Erlebnis, eben diese Predigt zu hören, in der auch über die Arbeit gesprochen wurde. Der Raum hat etwas Konzentriertes und ich habe etwas Zeit gebraucht, um in Arbeitskleidung mit Kopfhörern und Musik dieses meditative Grundgefühl einmal wegzutun.

DvK: Aus meiner eigenen Erfahrung ist es oft nicht selbstverständlich, dass Künstler:innen in Kirchen arbeiten. Oft bestehen Vorbehalte, dass sie in ihrer künstlerischen Freiheit dadurch beschnitten werden. Die Objekte lassen an die Dreieinigkeit denken oder ich musste auch an den Hl. Geist denken, als ich die Objekte gesehen habe. Derartige Deutungen wären manchen Künstler:innen schon zu viel. Deshalb ist es schön, dass Du offen gegenüber unterschiedlichen Deutungen bist.

Und um auch noch einmal bei der Predigt zu bleiben, bei dem, was Pfarrerin Westhelle angesprochen hat: Es ging um Wolkenbilder, in denen wir manchmal Tiere sehen oder Gesichter. Aus psychologischer Sicht heißt dieses Phänomen Pareidolie. Es handelt sich dabei um die menschliche Eigenschaft, dass wir aus ganz abstrakten Mustern in unserem Gehirn, in unserer Vorstellung eben ganz konkrete Gegenstände oder Gesichter machen. Im Kunstkontext hat die Pareidolie den schönen Effekt, dass wir als Betrachter:innen mit involviert werden und unsere Phantasie eine große Rolle spielt. Planst Du in Dein Spiel der Wahrnehmung den:die Betrachter:in im Vorfeld schon mit ein?

AMK: Ich nenne das halbabstrakte Formen. Sie sind nicht ganz abstrakt, haben aber Nähe zu abstrakten Formen und sehen aus wie eine Giraffe oder wie ein Kronleuchter oder wie ein Bagger. Man kann es aber nicht konkret definieren. Wenn ich diese Sachen baue, dann habe ich auch Momente, da sage ich, es geht in Richtung Raumschiff oder sieht jetzt aus wie ein Fisch und hat etwas mit Wesen unter Wasser zu tun. Und ob ich das einplane? Vielleicht. Für mich ist die Offenheit selbstverständlich und ein Grund, warum ich den Werken keine Titel gebe, die auf einen Inhalt verweisen.

DvK: Zum Schluss hätte ich noch einen Kommentar: Wenn ich durch eine Ausstellung gehe, dann frage ich mich ganz konkret, was ich von der Ausstellung für mein Leben mitnehme. An dieser Stelle möchte ich Dich, Anna, zitieren „Ich möchte mit meinen Arbeiten nichts abbilden, was ich in meinen Vorstellungen habe, sondern etwas entwickeln, was ich mir bis dahin nicht vorstellen konnte.“ Das ist ein Ansatz, der mich unheimlich beeindruckt hat. Das, was wir sehen sind keine Objekte, die Du vorher schon im Kopf gehabt hast, sondern die Vorstellungen sind gewachsen, durften aus einem Möglichkeitsraum heraus entstehen. Ich selbst habe manchmal Vorstellungen davon, wie sich mein Leben entwickeln könnte und dann läuft es anders und ich bin enttäuscht. An der Stelle fühle ich mich durch Deine Arbeit daran erinnert, in die Offenheit zu gehen, in diesen Möglichkeitsraum und auf das Neue zu vertrauen. An dieser Stelle möchte ich einfach danke sagen.

AMK: So schön, wie das mit den Möglichkeiten in der vorherigen Predigt gesagt wurde. Es hat so viel Spaß gemacht, das zu hören!

Redaktion (Transkription und Bearbeitung): Christina Bickel

Luftige Objekte in der Karlskirche, Foto: Christina Bickel
Anna Myga Kasten und Dorothea von Kiedrowski vor einem roten Luftobjekt, Foto: Christina Bickel
Künstleringespräch zwischen Dorothea von Kiedrowski und Anna Myga Kasten, Foto: Christina Bickel