Religionen entwerfen? 

GESPRÄCH ZUM SEMESTERPROJEKT  „GOTT“  DER VISUELLEN KOMMUNIKATION AN DER BAUHAUS-UNIVERSITÄT WEIMAR

 

Mit dem Semesterthema “GOTT” widmete sich der Lehrstuhl Bild-Text-Konzeption der Bauhaus-Universität Weimar einer großformatigen Frage: Wie entwerfen junge Designer:innen Konzepte für transzendente Themen, für aktuelle Sinnsuche und für neue Gemeinschaften? Wie würden Rituale, Lieder, Feste oder Manifeste aussehen, wenn sie heute von Expert:innen für die Gestaltung von Erfahrungen und Kommunikation neu entwickelt würden? Für welche Aspekte und Fragen bestehender Gemeinschaften oder ihres Alltags finden Studierende neue Formen? 

 

Winterwerkschau 2024, Bauhaus Universität Weimar, Foto: © Masihne Rasuli

 

Die gestalterischen Experimente zu neuen Welterzählungen und ihren Ästhetiken entstanden über ein Semester an der Fakultät Kunst und Gestaltung der Bauhaus-Universität unter der Leitung von Professor Burkhart von Scheven und der künstlerischen Mitarbeiterin Masihne Rasuli. Wissenschaftliche Projektpartner:innen waren Prof. Dr. Christof Windgätter, Lehrstuhl für Geschichte, Theorie und Ästhetik materialer Kulturen der Bauhaus-Universität und Celica Fitz (Kuratorin, Doktorandin der Universitäten Neuchâtel und Marburg). Letztere wurde nach Weimar eingeladen, um über aktuelle Transformationen und Ästhetiken rezenter Sinnsuche zu referieren, Modelle ästhetischer Überschreitung in gegenwärtiger Kunst und Kultur vorzustellen und die entstehenden Projekte mit zu briefen. In Retrospektive auf das Semesterprojekt kommt sie erneut mit den Projektleiter:innen ins Gespräch über die Ergebnisse und Erkenntnisse aus einem Semester mit “GOTT”: Diese diskutieren auch die Rolle von Gestalter:innen, was Designgeschichte mit Religionsgeschichte zu tun haben könnte und ob Religionen entworfen werden (können). 

Die im Semesterprojekt neu entstandenen Konzepte geben Hinweise auf aktuelle Formen der Vergemeinschaftung, Wünsche und Fragen, aber auch Humor und kritische Reflexion gegenüber Institutionen und Traditionen. Welche neuen Rituale, Lieder und Gemeinschaftsformen die jungen Gestalter:innen entwarfen, zeigt das Beitragsspezial mit der Bauhaus-Universität: Religionen der Träume oder der Geschmacksrichtungen, Gött:innen der Emotionen, kosmische Entropievisionen, Verehrung des Wandels in psychedelischen Gesängen an Schmetterlinge – diese ästhetischen Formen spiegeln auch die Bandbreite aktueller Sinnfragen, Relationen zur Umwelt und zu Mehr-als-Menschlichen Mitwesen ebenso wie nach der Gestaltung von Gemeinschaften und Erfahrungen. Beispiele sind in diesem Beitrag zu entdecken.  

 

Winterwerkschau 2024, Bauhaus Universität Weimar, Foto: © Masihne Rasuli

 

IM GESPRÄCH: BURKHART VON SCHEVEN,  MASIHNE RASULI UND CHRISTOF WINDGÄTTER MIT CELICA FITZ

CELICA FITZ: Vor dem Semesterstart haben wir uns das erste Mal über das Projektthema “GOTT” unterhalten. Bereits bei diesen Gesprächen hattet ihr auf das fliegende Spaghetti-Monster verwiesen und betont, dass ihr das Thema auch mit Humor betrachten wollt. Woher kam die Sorge, dass “GOTT” ein zu ernstes Semester werden könnte?

MASIHNE RASULI: Religion produziert medial sehr viele, sehr ernste Kontexte, Gewalt, Fanatismus, Missbrauch, Kriege, bei denen es um Religionen gehen kann. Religionen werden zum Beispiel häufig zum Werkzeug des Patriarchats. Dabei geht es im Glauben eigentlich um Spiritualität. Das hingegen ist ein Aspekt, der durchaus Spaß machen kann. Er geht uns alle an. Deswegen war es uns ein Bedürfnis, genau diese Zusammenhänge von Religionen zu kommunizieren. Wir schauen dabei nicht nur ernst auf die Sache, sondern auch mit Humor. Denn wir wollen uns von solchen bestehenden Mustern der Betrachtung von Religionen distanzieren.

BURKHART VON SCHEVEN: Es war aber zu keiner Zeit eine Fixierung auf Humor. Wir hatten durchaus Sorge, dass wir bei dem teilweise als schwierig empfundenen Thema einige Studierende ungewollt ausgrenzen könnten. Das wollten wir unbedingt verhindern. Es hatte mehrere Gründe, warum wir darauf hingewiesen haben, dass man das Thema auch mit geringem Ernst oder humoristisch angehen könnte. Ein Grund ist, dass ich durchaus der Meinung bin, dass viele Religionen – auch die christlichen Religionen in Zentraleuropa  –  mehr Leichtigkeit gebrauchen könnten in ihrem Umgang mit Zeremonien und ihren Gemeinden. Wenn man sich beispielsweise die amerikanischen Baptistengemeinden anguckt, mit ihren Gospel Songs – die machen einfach richtig Spaß! Spaß könnte enorm helfen, einen neuen Zugang auch zu vielen anderen, sehr schweren, sehr ernsthaften Religionen zu finden. Und insbesondere scheint das sinnvoll bei denen, die an Zulauf einbüßen. 

Außerdem ist für unsere Arbeit – als Kreative – Spaß ein wahnsinnig wichtiger Faktor. Wenn man keinen Spaß in der Arbeit hat, wird es meist auch keine besonders gute Arbeit. “Spaß” kann natürlich unterschiedliche  Dinge bedeuten, auch intellektueller Tiefgang kann Spaß bereiten. Aber grundsätzlich – wenn es zu ernst und schwer wird, fällt vielen auch die Arbeit schwer. Wir wollten niemanden ausschließen, auch niemanden, der vielleicht an gar nichts glaubt, keine Gottheiten hat, keiner Religion folgt. Genau aus solchen Positionen könnten sehr interessante Zugänge entstehen: Wie würden sie eine Religion entwickeln, wenn sie freie Hand hätten? 

Es war natürlich absolut auch nicht ausgeschlossen und genauso erwünscht, sich absolut ernsthaft mit dem Thema auseinanderzusetzen. Viele haben das gemacht. 

CHRISTOF WINDGÄTTER: Dass man sich trotzdem auch ernst damit beschäftigen kann, ist nicht ganz unwichtig. Wenn man Religionen noch glauben kann und insofern ernst nimmt, dann vielleicht in Formen, in denen es um was Wesentliches geht, etwas Existenzielles, möglicherweise etwas Unverhandelbares – um Fragen zu Leiden und Tod. Da ist Spaß vielleicht kein zentrales Thema, sondern kommt am Rande vor oder danach. Denn: Es gibt Totenkulte, die anders funktionieren. Die haben erst mal etwas mit Trauer, Verlust und Schmerzen zu tun. Das ist auch eine Dimension, die damit in einer recht verbreiteten Spaßkultur bearbeitet wird.

BURKHART VON SCHEVEN: Wir hatten tatsächlich ein sehr breites Spektrum, was die existierenden Glaubensstrukturen angeht. Wir hatten christlich orientierte Studierende, die sich mit ihrer eigenen Religion beschäftigt haben. Jemand, der sich mit einer ihm bekannten Religion, dem Buddhismus, auseinandergesetzt hat. Wir hatten Atheisten unter uns. Wir hatten viele Nationalitäten im Projekt. Leute, die sich dystopisch mit dem Thema auseinandergesetzt haben. Eine Person, die wirklich rein humoristisch gearbeitet und hinter dem verbreiteten Mythos der sockenfressenden Waschmaschinen eine göttliche Instanz “vermutet” hat, die über die Socken mit uns kommuniziert … es gab ein sehr breites Spektrum. 

Ich konnte mit allen Interpretationen etwas anfangen. Es ist selbstredend auch relevant, wenn man eine klassische Religion untersucht und diese neu interpretiert.  Etwa mit dem Anspruch, sie zugänglicher zu machen, für Leute, die inzwischen ausgeschieden sind oder die man sonst gar nicht erreicht. Dazu gehörte auch „COLORFUL COVENANT“. Das war keine humoristische Auseinandersetzung, sondern ein sehr ernst gemeinter Ansatz, um potenzielle Christen*innen zeitgemäßer anzusprechen. Für mich wirkte das sehr relevant. Wenn ich eine der christlichen Religionen vertreten würde, dann würde ich aufmerksam zuhören, was da entwickelt wurde.

 

Colorful Covenant, Manifest, Soo-Ah Youn, Foto: © Soo-Ah Youn, 2024

 

CELICA FITZ: Mit euren Semesterprojekten behandelt ihr aktuelle Themen, die auch eine gesellschaftliche Bedeutung entfalten. Beispielsweise habt ihr euch im Projekt  Democrazy? für die Steigerung der Wahlbeteiligung in Thüringen eingesetzt. Wie kam es, dass für euch das Sprechen über Religionen zu einem so relevanten Thema wurde, dass ihr diesem ein Semesterthema gewidmet habt?

MASIHNE RASULI: In einer Welt, die immer komplexer wird, kommt der Punkt, wo Logik vielleicht versagt oder wo man auf sich selbst zurückgeworfen ist – vielleicht verzweifelt. Dann sehnt man sich nach einem Konzept, das Halt gibt. Die bekannten Religionen verlieren ihre Mitglieder schon seit einigen Jahrzehnten. Es gibt aber eine Sehnsucht nach Glauben und Halt, die wahrscheinlich größer ist als jemals zuvor. Andererseits scheinen viele bekannte Religionen nicht mehr die richtige Anlaufstelle dafür zu sein. Viele Leute suchen sich lieber eigene Praktiken. Das war der Punkt, der uns interessiert hat.

BURKHART VON SCHEVEN: Eigentlich war ein Semester ein extrem kurzer Zeitraum für unsere Aufgabenstellung – gemessen daran, dass viele Menschen Religionen und ihrer Ausübung ihr ganzes Leben widmen. Dass wir es dennoch versucht haben, hängt auch mit den zahllosen religiösen Konflikten zusammen, die es weltweit gibt. Wir dachten uns, dass es doch super wäre, einen Beitrag dazu leisten zu können, dass es weniger Konflikte gibt. Das war natürlich ein völlig übersteigerter Anspruch. Aber sowas machen wir schon manchmal: Mit der Absicht, etwas ganz Großes als Glocke über unser Semester zu hängen, um dann wenigstens einen minimalen Beitrag zu leisten.

CHRISTOF WINDGÄTTER: Das ist ein ganz schöner Gedanke, weil er die Aufgabe von Lehre und Forschung und vielleicht sogar die Aufgabe von Universitäten in unserer Gesellschaft mitdenkt. Was kann man in Universitäten tun? Welche Rolle spielt man als Dozent oder Dozentin? Warum muss man unterrichten? Welche Möglichkeiten hat man? Welche Verantwortung hat man vielleicht auch für sowas? Ihr habt hoch gesprochen, aber doch gut gezielt. Insofern würde ich sagen: Ja! So ein Selbstverständnis als Lehrender halte ich für sehr bedeutsam.

 

Projektvorstellung und Briefing im Seminar, Semesterthema: “GOTT”, Leitung: Prof. Burkhart von Scheven und Masihne Rasuli, Bauhaus-Universität Weimar, Studiengang Visuelle Kommunikation, Professur Bild-Text-Konzeption, Foto: © Masihne Rasuli, 2024

 

CELICA FITZ: Im Kontext der Lehre habt ihr die Projekte zu neuen und bekannten religiösen Formaten in ihrer Entwicklung beraten. Am Semesterende standet ihr aber auch vor der Herausforderung, diese neuen Konzepte in das universitäre System der Bewertung einzupflegen. Welche Kriterien habt ihr für eine gute gestalterische Arbeit an dieser speziellen Aufgabe angelegt? 

MASIHNE RASULI: Für uns war es spannend, dass wir diesmal inhaltlich nicht viel kritisiert haben. Das war alles den Studierenden überlassen. Religionen oder Glaube sind ein so persönliches Thema, da haben wir  sehr viel Freiheit gelassen. Aber konzeptionell haben wir dieses Projekt behandelt, wie jedes andere Projekt. Ob ein Konzept schlüssig ist, das können wir beurteilen – auch bei Religion!

BURKHART VON SCHEVEN: Das möchte ich bestätigen. Es war aber schon schwieriger als bei manchen anderen Projektthemen. Die Arbeiten entzogen sich in vielen Fällen der nüchternen, inhaltlichen Bewertbarkeit: Was ist richtig? Was ist falsch? Was ist ein Erfolg, was ein Misserfolg? Deswegen haben wir uns auf das konzentriert, was wir gut beurteilen können. Das sind zum Beispiel die konzeptionelle Stringenz und exekutive Qualität. Welche Strategie hat man verfolgt? Ist etwas Neues entstanden, das wirklich relevant sein kann? 

Um eine Religion zu entwickeln oder neu zu interpretieren, spielt Subjektivität eine große Rolle. Es ist beeindruckend, was wir da im Lauf des Semesters gesehen haben! Und genau das soll es bei uns sein: Ist die Gestaltung beeindruckend? Aber auch: Ist die Arbeit nachvollziehbar für jemanden, der sie zum ersten Mal oder auch zum zehnten Mal sieht? Das sind Fragen, die wir gut beantworten können. Letztlich geht es um konsequente, zeitgerechte Umsetzungen, und darum, ob Inhalt und gestalterische Elemente zueinander passen. 

Was allerdings die religiösen Konzept-Ideen selbst anging, das war diesmal schwierig! Wenn jemand aber gesagt hätte ‚ich glaube an die Kraft des Salzkorns oder der roten Nelke‘, hätten wir uns damit schwerer getan, als mit einer Aussage wie ‘ich glaube an die Omnipräsenz des Göttlichen im Wasser‘. Es kam durchaus darauf an, dass die Konzepte nachvollziehbar waren. 

 

MATERIALITÄT, PRAKTIKEN UND DIE ROLLE DER SINNE 

CELICA FITZ: Im Seminar gab es für die Entwurfsprozesse verschiedene Aufgaben. Damit entwickelten die Studierenden schrittweise ihre Projekte anhand von aufeinander aufbauenden Briefings. Darunter waren die Gestaltung von Symbolen, Schriften, Musik und schließlich die Entwicklung einer Kommunikationskampagne, um potenzielle Anhängerschaft zu erreichen. Sind dies für Euch auch die prägenden ästhetischen Formen von Religionen?

MASIHNE RASULI: Wir haben uns an bekannten Mustern aus Religionen orientiert. Die meisten Religionen haben eine heilige Schrift, ein Textdokument, auf das man bestimmte Regeln definiert oder den Glauben inhaltlich beschreibt. Viele Religionen äußern sich auf musikalischer Ebene und meistens gibt es eben auch ein übergreifendes Symbol und Rituale, die von den Anhänger:innen gepflegt werden. Das hatten wir im Kopf, als ein Schema, das wir referenzieren können. Wir hätten natürlich gerne auch noch Architektur verlangt. Aber das spielt in unserer Fakultät keine zentrale Rolle und wäre zu viel geworden. Die Bandbreite der Briefings ist vom Begriff „ganzheitliche sinnliche Erfahrung“ inspiriert. Wir wollten möglichst Ergebnisse, die verschiedene Sinne adressieren.  Deswegen sind wir auch auf die Sound-Ebene gegangen und letzten Endes natürlich auch auf die medial offene Kommunikationsebene. Letzteres ist es, was wir in der Professur hauptsächlich trainieren und was bei uns als Lehrinhalt immer eine Rolle spielt.

CELICA FITZ: Was ist eure Perspektive, als Profis der visuellen Kommunikation, auf die ästhetischen Erfahrungen, die Religionen erzeugen, implizieren und bilden? Welche Rolle spielen Ästhetik und die Sinne darin?

BURKHART VON SCHEVEN: Dabei spielt – nicht nur bei Religionen, sondern in unserer tagtäglichen Kommunikation allgemein – Emotionalität eine wichtige Rolle. Vieles hat dazu geführt, dass Menschen gar keine emotionale Bindung mehr aufbauen können zu der Religion, die man eigentlich weiterentwickeln möchte. Zum Beispiel ist Musik einer der größten Hebel, um eine emotionale Bindung aufzubauen. Aber es muss Musik sein, die begeistert, die Spaß macht oder eine Gänsehaut erzeugt . Ritualisiert mitgemurmelte Texte aus jahrhundertealten Gesangsbüchern versagen da regelmäßig. Auch das bewegte Bild gehört zu den Instrumenten, mit denen man hervorragend emotionalisieren kann. Deswegen haben wir diese Elemente entwickeln lassen. Dabei muss eine gewisse Chronologie stattfinden: Nachdem die Grundsymbolik und die Kerninhalte definiert sind – man also sein Narrativ hat – kann man erst Exerzitien entwickeln. 

 

MOTUISMUS, Black Mantra, Antonia Pfadenhauer, Video Still: © Antonia Pfadenhauer, 2024

 

CELICA FITZ: Vor religionswissenschaftlichem Hintergrund würde ich sagen, dass sich solche Sinnsysteme sogar erst mit und in der medialen Praxis ereignen, die ihr erwähnt habt. Mit den Dingen und Praktiken habt ihr vielleicht eure Konzepte bereits explorativ und temporär verwirklicht. Eindrucksvoll eingesetzt wurde die sinnliche Erfahrung auch im SAPORISMUS – the Faith of Taste – von Jule Siebenhaar. In diesem Konzept wies Jule vier Geschmacksrichtungen Bedeutungen und Wirkungen, mit Referenzen zu verschiedenen Traditionen, zu.  Rezepte mit harmonisierenden Kompositionen waren die Schriften dieser Gruppe. Das gemeinsame Kochen und Essen hatte rituellen Charakter.  

 

SAPORISMUS, Jule Siebenhaar, Foto: © Jule Siebenhaar, 2024

 

Ein anderer sinnlicher Aspekt wären auch körperliche Handlungen. Als ich euch besuchen durfte, hatten wir auch eine Präsentation zu COSMOSPIRIT. Der entworfene Gegenstand dieses Konzepts war eine schwarze, beschriftete Kugel. Sie sollte in den Händen gehalten und gelesen werden. Der Text von Maria Saveliev beschreibt die Entwicklung – oder Rückkehr – vom „dichten Nebel der Sternengeburt bis zu den mikroskopisch kleinen Partikeln in einem lebendigen Meer von Materie“ – also von Menschen in entopischem Zerfall letztlich zur Materie im All. Beim Lesen galt es, sich zu konzentrieren, die Hände zu aktivieren. Damit wurden das Drehen der Kugel und eine bestimmte Körperhaltung direkt ausgelöst. Das Medium, das Material, hat eine Praxis impliziert und genauso auch die Idee des Kreislaufs und die Veränderung im Konzept des COSMOSPIRIT. Das Ding erzeugt mittels der Körperpraktiken seine Bedeutung, die es gleichzeitig zeigt und ausdrückt. Das wäre ein Beispiel, wie sich Sinnsysteme durch solche Handlungen mit Medien materiell ereignen können.  

BURKHART VON SCHEVEN: Die schwarze Kugel ist gleichzeitig auch das Symbol der Religion, hat also auch noch diese Funktion. Das ist ein wirklich starkes Element. Deswegen hat es uns auch gut gefallen.

 

COSMOSPIRIT, Video Still: © Maria Saveliev, 2024

 

CHRISTOF WINDGÄTTER: Was mich dabei interessieren würde, ist die Frage nach der Verkörperung oder Inkorporation – Inkarnation, würde man vielleicht religionswissenschaftlich sagen? In mein Sprachspiel übersetzt würde ich das die Frage nach der Repräsentation nennen. Wie übersetzt sich etwas in ein Bild oder wie mediatisiert sich Spiritualität in bestimmten Anwendungen, in Praxiken? Zumindest christliche Religionen würden darauf sehr unterschiedliche Antworten geben. Der Protestantismus ist da – sagen wir mal – medientheoretisch mit einer Distanzlogik versehen. Und der Katholizismus setzt eher auf Vergegenwärtigung – Weihrauch, Musik, Ikonographien usw. Das sind andere Vorstellungen davon, wie Repräsentation funktioniert. Es ist auch politisch eine wichtige Frage, was es für repräsentative Demokratien bedeutet, wenn man Repräsentationsprobleme hat. Auch gestalterisch ist es immer die Frage, wie man eine Idee in Wirklichkeiten transportiert. 

Diese Übersetzungsthemen sind Designprobleme. Was bleibt auf der Strecke, was wird hinzugefügt, was wird wie transformiert durch solche Übersetzungsprozesse? 

CELICA FITZ:  Das adressiert auch die Fragen: Wie ereignen sich verschiedene Sinnsysteme mittels Medien und welche Eigenlogiken entfalten sich dabei in religiösen Kommunikationsarten? An dieser Stelle setzt auch unsere Forschung der Religionsästhetik an und schaut, wie unterschiedliche Gruppen sehr verschiedene Medienpraktiken ausüben und sich Verständnisse von Repräsentation  – oder auch Präsenz  – unterscheiden. 

Beispielsweise können wir in spiritistischen Medien sehen, wie eine Botschaft empfangen und visualisiert wird, von der ein/e nicht bekannte oder nicht(mehr)-menschliche Quelle angenommen wird.  Sie formulieren, schreiben, malen Etwas, das nicht (nur) von ihnen zu kommen scheint. Was sozial hinter dem Abgeben von Autor:innenschaft steht, ist eine andere Frage. Was aber zunächst in der Innenperspektive ablaufen kann, ist eine solche eigene Medienlogik. 

Ein Beispiel einer anderen Tradition wäre die Verehrungsform von Ikonen. Sie sind keine bloßen Abbildungen, sondern verwirklichen, vergegenwärtigen, in der Praxis die Heiligen – sie schauen zurück! In meinem Beitrag zum Briefing zeigte ich Beispiele von verschiedenen religiösen Kommunikationsarten und Medien, die kontextspezifisch sind. Dabei stimme ich dir ganz zu: Interessant sind die  jeweiligen Übertragungsprozesse! Diese Prozesse und ihre Medien scheinen mir nicht einfach eine Materialisierung zu sein. Erst durch die Handlungen mit den Materialien geschieht das, was als religiös betitelt werden könnte. Diese Sphären von materieller Umsetzung und Glaubenspraxis wären dann inhärent verbunden. 

Ein aktuelles Beispiel mit neuen Medien untersuchen meine Kolleginnen Anna Matter und Marita Günther: In Phänomenen wie CrystalTok oder WitchTok werden Funktionen und Rezeptionsweisen sozialer Medien in spirituelle Praxis nicht nur integriert, sondern diese formt sich damit.  Heilsteine wirken durch das Smartphone hindurch. Sessions oder Meditationen können live geteilt – und erworben – werden , habe ich von ihnen gelernt. Mediennutzung, Gestaltung und spirituelle Praxis scheinen schon immer, und auch hier, miteinander verwoben und reagieren aufeinander. Sie sind auch von Markt- und Marketingstrukturen durchdrungen. Es sind Anbieter:innen – Kurse werden gebucht, Klicks finanzieren. Auch sie können charismatische Akteur:innen fluider, neuer Praktiken werden. 

CHRISTOF WINDGÄTTER: Das wäre ein deutliches Zeichen für so etwas wie eine Verweltlichung von Religiosität. Sie kommen völlig ohne Transzendenz aus. Nicht ohne Fiktionalität oder ohne Fantasie, aber ohne einen Vorstellungsbereich, den man außerweltlich nennen müsste oder könnte. Sie brauchen also keinen Dornenbusch mehr, der in Brand gerät. Sie brauchen nicht irgendeine Tafel, die dann beschrieben wird, von der man nicht genau weiß, wer da überhaupt den Stift geführt haben sollte oder den Meißel. Andererseits: Dass man nicht weiß, wer den Meißel da geführt hat – würde ich denken — ist etwas sehr Spannendes daran. Wenn man erst mal Religionsstifter*innen hat, also Kultfiguren oder Gurus oder Einzelfiguren, als Personalisierungen eines Gründungsgeschehens, dann wird es meist wieder langweilig. Aufregender, aber auch schwieriger scheint es mir dagegen, wenn solche  Zuschreibungen, solche innerweltlichen Identifikationen, nicht richtig funktionieren oder ins Leere laufen. 

 

TRANSZENDENZ/LOSIGKEIT

CELICA FITZ: Hat eine dualistische Vorstellung von Transzendenz und Immanenz eine Rolle in den Projekten gespielt?

MASIHNE RASULI: Eigentlich fast nicht.  Jetzt wo du es sagst – die transzendenten Momente gab es nicht mehr so häufig. Aber bei FINDLING gab es verschwundene Socken durch ein schwarzes Loch in der Waschmaschine, die sind quasi ins Transzendente übergegangen.

 

FINDLING, Teo Bahr, Video Still: © Teo Bahr, 2024

 

CELICA FITZ: FINDLING ist eine schöne Reaktion auf die alltäglichen, großen Fragen. Das war eine interessante Herangehensweise,  sich selbst zu fragen: Was fragen wir uns heute eigentlich noch? Was verwundert und beschäftigt doch alltäglich? Alltagsbewältigung und kleine Mythen rund um Erklärungen, die wir uns erzählen.  

MASIHNE RASULI: Ja, Erklärungen sind das, was wir lieben! 

 

FINDLING, Teo Bahr, Foto: © Teo Bahr, 2024. 

 

CHRISTOF WINDGÄTTER: Die Socken und das Loch – das Verschwinden in der Waschmaschine: Ist das nicht vielleicht eines der wenigen Projekte, das sich auf eine humoristische – aber doch ziemlich relevante Art – mit dem Verschwinden und der Endlichkeit, also mit dem Tod beschäftigt? Es ist zwar nur ein toter Socken, ein verschwundener Socken, aber doch etwas, was nicht mehr da ist und sich nicht zurückfinden lässt. Das Thema ‚Endlichkeit‘ – was auch religiös eine gewisse Bedeutung hat – würde ich hier im schwarzen Loch der Waschmaschine wiedererkennen wollen.

MASIHNE RASULI: Eine sehr schöne Interpretation von dir! Ich habe das bislang nicht so verstanden. Teo Bahr hatte es eher humoristisch vorgestellt. Aber es ist eine sehr schöne und sicher auch unbestreitbare Perspektive. Vielleicht schwingt das Thema der Endlichkeit bei allen Projekten ein bisschen mit. Das Thema des Todes kommt bei FAER vor, wo man nach dem Tod eins mit dem Urpilz wird. Am deutlichsten zeigt sich der Aspekt des Verschwindens bei COSMOSPIRIT, wo man letztlich im All als Partikel aufgeht und es keine Transzendenz mehr gibt. LEPIDOPERTI betonte eher das transformative Wesen des Menschen, die letzte Stufe wäre wahrscheinlich das Verschwinden. 

 

LEPIDOPTERI, Mitra Asghari, Videostill: © Mitra Asghari, 2024

 

CELICA FITZ: Die Studierenden brachten facettenreiche ästhetische Referenzen in ihre Projekte ein. Häufig bezogen sie sich auf bestehende Traditionen oder entwickelten einzelne Aspekte weiter. Die psychedelische Ästhetik der transformativen neun Schmetterlinge aus LEPIDOPTERI von Mitra Asghari spielt zum Beispiel sehr eindrucksvoll auf die Ästhetiken des New Age an. Einige Projekte haben den Kreis als ihr Symbol gewählt: Schwarz ausgefüllt, als verbundenem Regenbogen oder als Punkteformation. Auch eure Grafik zum Semesterthema „GOTT“ hat im Zentrum einen leuchtenden, geschlossenen Kreis gesetzt. Hat das Thema gestalterisch besondere Formen provoziert oder bestehende überschritten? 

MASIHNE RASULI: Es sind tatsächlich viele Konzepte entstanden, die nicht so zentralistisch waren. Sie beschrieben Netzwerkstrukturen, relationale Strukturen oder auch transformative Strukturen. Sie waren also flexibel und nicht manifest. Wir hatten wenig Dualismen, die mit einer Gut-Böse-Struktur gearbeitet haben. Es ging sehr viel um Beziehung, um Gemeinschaft und um die eigene Transformation. Das ist auch aus dem Wunsch der Studierenden heraus entstanden, sich von bestehenden religiösen Mustern zu distanzieren. Es kam von ihren eigenen Bedürfnissen und von dem, was ihnen wichtig ist. Dieser Aspekt hat sich zum Teil auf der gestalterischen Ebene geäußert. 

CHRISTOF WINDGÄTTER: Die inhaltliche Tendenz bewegte sich weg von Allmachtsstrukturen hin zu einer neuen oder zeitgemäßen Bescheidenheit, statt Prunk und Pracht. Es gab auch eine Abkehr von der menschlichen Machtstellung, vieles war nicht anthropozentrisch. Das wurde über die Art der Rituale offensichtlich. Dabei gab es oft keine menschliche Figur im Zentrum des Glaubens, sondern einen Schmetterling, Pilze, Wasser oder einen schwarzen Planet. Aber im gestalterischen Detail hat man typografische Elemente und Farbcodes danach ausgewählt, wie es zur religiösen Kohärenz passt. Ich könnte nicht sagen, dass das Thema der Religionen unmittelbaren gestalterischen Einfluss gehabt hat. 

Zur ästhetischen Dimension der Projekte sehe ich aber viele Referenzen zur Filmgeschichte oder zur Popkultur. Wenn in Filmen etwas Spirituelles kommt, gibt es eine relativ vorhersehbare Ästhetik, die eingesetzt wird. Wird mit dieser Ästhetik vielleicht weniger Religion als vielmehr Hollywood reinszeniert? Wie verhalten sich solche weltanschaulichen Themen inzwischen zu Themen der großen popkulturellen Monopole? Kann man heute Religion überhaupt noch sehen und verstehen, denken, praktizieren und eben auch gestalten, ohne dass diese Dinge ständig dazwischen funken?! Wenn man so massiv beeinflusst ist – vielleicht viel mehr als von Religion – ist Hollywood als Chiffre schon so imprägniert, sodass man es gar nicht mehr rauskriegt. 

 

PROZESSE + GESTALTER:INNEN: MEHR-ALS-MENSCHLICHES ENTWERFEN?

CELICA FITZ: Diese Gleichzeitigkeit von Popkultur und Tradition, aber auch Humor und Ernst, scheint mir in vielen Projekten vorzukommen und ist eng verwoben. Mit dem Verweis auf erfundene, neue Formen habt ihr das Feld der Religionen erweitert, nicht nur auf neue Gruppen und Gemeinschaften, sondern auch hin zu den Grenzen zur Fiktion.  Wie seid ihr mit der Rolle des Entwickelns von Religionen, zwischen Fiktion und der Arbeit mit bestehenden Religionen umgegangen? 

CHRISTOF WINDGÄTTER: Also ich spreche jetzt natürlich aus meiner Nische heraus. Ich bin irgendwie, sagen wir, philosophisch-kulturwissenschaftlich imprägniert. Und man kann aus seiner Haut nicht raus. Deshalb spreche ich jetzt hier so. Ich habe ein, zwei Themenkomplexe notiert. Da gibt es ein Stichwort, das in den Bereich der Fiktion hineinreicht. 

Ich habe mir die Frage aufgeschrieben: Was bedeutet es, wenn man davon ausgehen kann, dass Religionen entworfen werden können? 

Denn das ist alles andere als selbstverständlich, dass Religionen entworfen werden, also Gegenstand gestalterischer Praxis oder Arbeit sind oder es Konzepte von Religionen gibt. Das ist einigermaßen offensichtlich, wenn man sich in unseren Kulturkontext die dominant gewesene Religion – das Christentum – anschaut: Sie bezeichnet sich als eine Offenbarungsreligion. Dabei geht es gerade darum, dass Religion nicht von Menschen entworfen wird. Sondern da wird sie empfangen. Religiöse Inhalte sind Geschenke. Das ist eine Gabe, die auf die Menschen kommt. Sie sind dafür nicht selbst verantwortlich. Jetzt frage ich mich vor diesem Hintergrund: Was bedeutet es, wenn man heute davon ausgehen kann, dass sie eben doch Gegenstand von Entwurfspraktiken geworden sind? 

Da kann man verschiedene Gedanken anschließen. Eine relativ offensichtliche Idee ist: Religion als Entwurf ist das maximal Ketzerische gegenüber einer Religion als Offenbarung. Das ist aber sehr naheliegend und vielleicht auch ein bisschen langweilig. Es läuft schnell auf Religionskritik hinaus. Ein anderes Weiterfragen wäre eher, welche Produktionslogik in diesem Entwurf oder in diesem Entwerfen zu finden ist. Nach welcher Logik passiert der Entwurf, welcher Typ von Praxis ist da im Gange? Und als zweite Frage: Welche Rolle nehmen die Entwerfenden, als Autorinnen oder Autoren dieses Religionskonzepts oder Entwurfs, ein? 

Mit deiner Frage nach Religion und Fiktion könnte man Rückfragen stellen an eine zeitgenössische maximale Aufwertung gestalterischer Berufe! Das wäre eine kritische Rückfrage zur Rolle und Funktion von Design in unserer Gesellschaft: Welche Rolle nimmt man als Gestalter ein, wenn man Religion entwirft? Welches Selbstverständnis äußert sich in der Vorstellung, dass man das überhaupt entwerfen kann? Dabei spreche ich gar nicht über Glaubensinhalte, über Socken oder Waschmaschinen. Ich spreche über die Voraussetzungen, die man eingegangen sein muss, damit man sagen kann, dass Religion heute ein Gegenstand oder ein Thema geworden ist, an dem nun Entwurfspraktiken andocken können. 

BURKHART VON SCHEVEN: Auf keinen Fall würde ich einen Widerspruch riskieren. Aber eine kritische Gegenfrage riskiere ich immerhin. Weil wir sie hier nun am besten kennen, nenne ich mal die christliche Religion – und weil sie älter ist, konzentriere ich mich auf das katholische Christentum.  Es ist eine Interpretationsfrage: Man muss erst mal glauben, um an eine Offenbarung zu glauben. Aber von da an, ist immer schon wahnsinnig viel gestaltet, entworfen worden: Die Kirchen, Ausstattung, Gemäldegalerien, inklusive aller Geschichten, Liturgien, Kleidung und Symbole. All das ist entworfen worden, um die Macht der Kirche – die ja früher sehr präsent und relevant war – darzustellen, zu festigen und auszubauen. Das wurde nicht so genannt, aber dennoch ist meine kritische Gegenfrage: Sind das nicht alles bereits Entwurfspraktiken gewesen?  

CHRISTOF WINDGÄTTER: Es gibt von Giorgio Agamben ein schönes Buch, das ‘Herrschaft und Herrlichkeit’ heißt. Darin argumentiert er, dass jede Form der Regierung nicht einfach nur eine Struktur und ein bisschen Politik sein kann. Sie braucht auch Glamour, Image und Glanz, um als Regierungsform akzeptabel zu sein bei denjenigen, die regiert werden. 

Ich würde dir in jedem Fall zustimmen, dass große Teile der Glaubenspraxis und die Institutionalisierung mit Inszenierung zu tun haben. Die Frage ist tatsächlich, wer inszeniert und was steht am Anfang dieser Inszenierung? 

Wenn man von Offenbarung spricht, dann bedeutet das wahrscheinlich zunächst, dass den Anfang einer Religion etwas macht, was sich der menschlichen Souveränität entzieht. Den Gedanken finde ich vielleicht noch interessanter als die Inszenierungspraxis. Wenn man Religion so versteht, könnte sie eine Erinnerung an etwas Nichtmenschliches sein. Dort ist dann ein transzendentales Prinzip. Das Erinnern an etwas Mehr-als-Menschliches wäre eine Anerkennung oder Würdigung nichtmenschlicher Lebensweisen oder Lebewesen auf unserem Planeten. Man könnte sogar ein anthropozentrisches Weltbild auf diese Weise ein Stück weit aushebeln.

Mit der Gestaltungspraxis ist man hingegen sehr irdisch, sehr menschlich. Wir sind in einem anthropozentrischen Modus des Handelns, des Machens, des Anwendens. Und das ist auch völlig in Ordnung so, nicht? Das kann man nicht kleinreden und nicht schmälern. Unsere ganze Welt sieht so aus, wie wir sie gemacht haben. Aber dabei gerät schnell in Vergessenheit, dass es Phänomene, Momente oder Instanzen gibt, die sich dieser Logik der Verfügbarkeit des Machens widersetzen. 

Wenn ich mir heute – aus meiner säkularen Position heraus – überlege, warum mich Religionen interessieren könnten, würde ich sagen: Sie könnten mich interessieren, weil sie einen Moment des Unverfügbaren adressieren. Das ist die spannende Rückfrage an die Autorschaft, an den Anfang, an die Produktionslogik. Es ist die Suche oder die Frage nach Prozessen, bei denen man davon ausgehen muss, dass nicht alles, was passiert, tatsächlich von denjenigen ausgeht, die es herstellen. Man müsste es auch nichtmenschlichen Akteuren in Rechnung stellen. Da verbinden sich die alten Religionen mit sehr zeitgenössischen – vielleicht im Neomaterialismus vorfindlichen  – Denkfiguren: Da finden nichtmenschliche oder mehr-als-menschliche Akteure eine Berücksichtigung. Das wäre der Bogen, den ich sehe. Aber du hast vollkommen Recht, dass der Bereich der Glaubenspraxis entworfen ist. 

CELICA FITZ: Vielleicht liegt die Spannung in der Frage nach dem Entwerfen von Religionen, nicht nur im Bewusstsein ihrer historischen und gesellschaftlichen Konstruiertheit, sondern auch im aktiven Konstruieren? 

MASIHNE RASULI: Vielleicht war es keine vordergründige Motivation, aber in unserem Vorhaben hat es auch eine Rolle gespielt, diese Konstruierbarkeit von Religionen zu entlarven. Entlarvung ist etwas, was wir sehr gerne machen. Gestaltung ist als Tool perfekt dafür geeignet. Indem wir zeigen, dass eine einzelne Person in ein paar Wochen eine Religion entwerfen kann, weisen wir auch darauf hin, dass Religionen am Ende Konzepte sind. Auch wenn – wie Christof es richtig gesagt hat –das Spannungsfeld größer ist und auch das Transzendente mit hinein spielt. Am Ende ist es doch ein sehr menschliches Produkt. Das war auch ein Gedanke bei der Planung. 

CHRISTOF WINDGÄTTER: Das Entlarven leuchtet mir ein. An vielen Stellen ist das nötig. Gleichzeitig würde ich denken – schade! Damit geht ein Impuls verloren, der uns auf die Notwendigkeit hinweist, anthropozentrische Konzepte hinter uns zu lassen. All diese Logiken vom Menschen als Maß der Dinge kann man für ökologische Krisen verantwortlich machen. Der Gedanke, der aber aus einem religiösen Kontext kommen könnte, wäre eine Anerkennung des Nichtmenschlichen. Das könnte relativ weit gehen: Welche Rolle spielen Pflanzen und Pflanzenrechte juristisch und politisch? Wie ist das mit Tieren und Tierrechten, juristisch, politisch und gesellschaftlich? Würden wir anders umgehen mit marginalisierten Gruppen, mit Leuten von der anderen Seite der Erdhalbkugel? All diese Gruppierungen, diese Entitäten – menschlicher und nichtmenschlicher Art – die in bisherigen Produktionslogiken nicht vorkommen oder allerhöchstens Ressourcen waren, höchstens der Gegenstand der Ausbeutung waren, die melden sich in so einem Moment zu Wort! Man müsste zu Prozessstrukturen kommen, die diese berücksichtigen. Vielleicht wäre dieser Hinweis aus einer Religion – dass auch am Anfang etwas war, was nicht verfügbar ist, sondern gegeben wurde, Gabe war – für manche ein Anstoß oder ein Anlass. 

CELICA FITZ: Gab es Projekte, die dieses Mehr-als-Menschliche im Blick auf solche holistischen Umweltaspekte beleuchten? 

BURKHART VON SCHEVEN: Interessanterweise haben viele Entwürfe der Studierenden nicht mehr Menschen im Zentrum, sondern Tiere, Schmetterlinge, Pilze, Wasser. Sie sind damit „omnipräsent“, alltäglich. Im dystopischen COSMOSPIRIT spielt der Mensch am Ende gar keine Rolle mehr. 

MASIHNE RASULI: COSMOSPIRIT war ein dystopisches Konzept. Zuerst war es aber schon noch anthropozentrisch. Aber es spielt damit, dass der Mensch irgendwann nicht mehr da sein wird. Damit ist es aber auf eine absurde Weise wieder hoffnungsvoll. Der Planet wird nicht kaputt zu kriegen sein – der Mensch vielleicht — aber der Planet nicht. 

 

COSMOSPIRIT, Maria Saveliev, Grafik: © Maria Saveliev, 2024

 

CELICA FITZ: Solche Endzeitvorstellungen können jedoch auch eine entlastende Wirkung entfalten. Als Erzählungen vom Ende fangen sie dieses in größeren Erzählungen wieder ein. Eine Form der Kontingenzbewältigung hätte damit Eingang in diesen Entwurf gefunden. 

Eine andere Arbeit, die sich mit dem Leben im Anthropozän auseinandersetzt, war HUMA-N-YSTEM. Als Kooperative dargestellt, adressiert Piera Moreau systemische Abhängigkeiten im Anthropozän und die Förderung von Care untereinander als Genossenschaft ‚Huma-n-ystem. Human-Natural-System(s). Damit adressiert es vielleicht die Mehr-als-Menschlichen Aspekte, an die Christof appelliert hat, in dem es eine Art holistische Symbiose als Metapher gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenlebens entwirft? Es gehört aber zu den Konzepten, die vielleicht eher diesseitig angelegt sind. Das Manifest startet Piera Moreau mit: „It is not about religion, it does not rely on the name of God“. 

 

Huma-n-ystem, Human-Natural-System(s), Piera Moreau, Grafik: © Piera Moreau, 2024

 

DIE ROLLE VON ENTWERFER:INNEN

CHRISTOF WINDGÄTTER: Ich frage mich nach der Rolle von Gestalterinnen in diesem Prozess – was muss man über Gestalterinnen denken, die Religionen entwerfen? Welche Rolle nehmen sie ein? Was trauen sie sich zu? Oder: Was maßen sie sich an? Gestalterinnen sind Gott. So wäre diese Gleichung. Auf eine gewisse Weise könnte man das machen. Es hätte in der Geschichte von Gestaltung und Kunst einen Hintergrund. Es wäre der Genie-Mythos, der wieder aufgebracht wird. Eine inspirierte Einzelfigur ist in der Lage durch Begabungen und Einsichten – die andere nicht haben – etwas zu stiften, das dann auch befolgt werden kann und wirklichkeitskonstitutiv ist. Gestalter beschäftigen sich nicht nur damit, einzelne Produkte herzustellen. Sie beschäftigen sich auch nicht mehr nur damit, Sinn und Bedeutung zu erzeugen. Sondern sie machen sich jetzt ans Allerhöchste heran und entwerfen das auch noch. Das ist jetzt etwas ketzerisch gesagt. Aber ich glaube, es ist eine sehr authentische Entwicklung der Branche der Gestaltungspraktiken in zeitgenössischer Kultur. Ich habe den Sloterdijk gerade in der Hand – da gibt es das Wort von der ‚Design-Zivilisation‘, in der wir leben. Gestalten ist keine beliebige Praxis oder Branche mehr. Es ist eine sehr zentrale Produktionslogik, eine zentrale Tätigkeitsform, die da gerade entwickelt wird.

MASIHNE RASULI: Wir gestalten mittlerweile auch Weltanschauungen.

CHRISTOF WINDGÄTTER: Was bedeutet es, wenn man Religion dann heute gewissermaßen mit Marketing-Tools behandelt? Unterstellt man dann Religionen seien Unternehmen oder behandelt man Firmen wie Religionen? Würde das nicht in einen gesellschaftlichen Trend passen, der die Logiken des Unternehmerischen nicht nur in der ökonomischen Sphäre beheimatet sieht, sondern sich nun auf alle möglichen anderen Bereiche – soziale, politische und sonstige Bereiche – ausdehnt? Das wäre, was man Neoliberalismus nennt. Ich frage mich, ob man sich an solchen Prozessen beteiligt, oder wie das Verhältnis dazu wäre.  

BURKHART VON SCHEVEN: Ist nicht die katholische Kirche die Mutter des Marketing?! Die Bauten, Schriften und Traditionen sind meines Erachtens seit Jahrhunderten pures Marketing; über weite Strecken ein extrem erfolgreiches  Marketing. Die Ergebnisse sind eindrücklich zu sehen.

CHRISTOF WINDGÄTTER: Du hast vollkommen Recht. Peter Sloterdijk hat in dem Text „Das Zeug zur Macht“ den Missionar als Vorgänger des Marketingexperten beschrieben. Das ist genau der Gedanke, den du gerade geäußert hast. Heißt das, dass beiden Bereichen religiöse Strukturen oder ökonomische Strukturen zugrunde liegen? Oder sind das Religiöse und das Ökonomische zwei Arten des Tauschvorgangs, die gar nicht so sehr unterscheidbar sind? Heißt es, dass Kapitalismus eine Religion ist, oder Religion auch etwas Kapitalistisches hat? Dieser Zusammenhang scheint mir als Frage aufzuleuchten. Mehr als eine Fragestellung habe ich da auch nicht. 

BURKHART VON SCHEVEN: Deine Frage betrifft Kapitalismus im Ganzen oder auch einzelne Marken. Das kann man im Kleinen und im Großen betrachten. 

MASIHNE RASULI: Die Religionen der heutigen Zeit sind Marken, sind Brands. Marken orientieren sich an Strukturen von Religionen, vielleicht dahingehend, dass sie ganzheitliche, sinnliche Erlebnisse gestalten und eine Anhänger:innen-Gruppe bilden und identifizieren. Das Marketing hat Inspiration gezogen von Religionen. Und jetzt wiederum spielen die Religionen den Ball vielleicht zurück, indem sie vom Marketing und dessen Entwicklungen selbst profitieren.  

CELICA FITZ: Dazu würde ich auch noch den umgedrehten Gedanken mitgeben: Wird der Missionar, die Missionarin, als Vorbild vom Marketing gesehen, wäre – umgekehrt – aktuelles Marketing für Religionen nicht immer auch Mission? Die entworfenen Produkte oder Kampagnen werden Teil von Missionsbestrebungen? 

BURKHART VON SCHEVEN: Auf jeden Fall, das sehe ich auch so.

CHRISTOF WINDGÄTTER: Ich würde auch denken, dass da die Eltern von ihren Kindern oder die Meister von ihren Schülern zu lernen hätten, wenn man das so umdrehen würde. Ich habe hier gerade diesen weiteren Text von Sloterdijk, der zusammenfasst was du gesagt hast. Ich könnte das mal vorlesen – wenn das jetzt nicht irgendwie zu streberisch rüberkommt? Es sind wahrscheinlich acht Zeilen. Also hier steht: „Theologie und Ökonomie haben gemeinsame Sorgen. Als Angehörige einer von Grund auf missionierend verfassten Kultur müssen wir uns darauf gefasst machen, dass hinter allen großen Erfolgs- und Werbezeichen das christliche Kreuz hindurchscheinen wird, als Muster jeglicher Propaganda. Es ist unleugbar der Prototypus und Bahnbrecher einer semiotischen Weltpolitik, also einer zeichengebenden Weltpolitik, die keinen anderen Daseinsgrund besaß, als die Universalisierung einer Botschaft und eines Heilszeichen. Daher gilt, der Missionar geht den Marketing-Experten voraus. Der Werber bleibt ein bezahlter Prophet.“ Das ist es. Und dann kommt noch irgendwas mit Kapitalismus und Religion, Way of Life und dann Leitembleme und das Charisma der Zeichen und solche Dinge. Aber das ist der Gedanke, den ihr in eurem Seminar auch aufgenommen habt.

 

Winterwerkschau, Bauhaus Universität Weimar, Van-de-Velde-Bau, Foto: © Masihne Rasuli, 2024

 

CELICA FITZ: Aus dem Seminar heraus habt ihr eine Winterwerkschau kuratiert und die Ergebnisse der über 13 entwickelten Konzepte im Van-de-Velde-Bau vorgestellt. Dabei gab es auch einen Kissen-Trommelkreis als rituelle Performance des SOMNIASMUS von Paulette Breuhahn. Während der Abschlussausstellung habe ich gehört, dass mindestens eine Schrift der neuen Religionen gleich angefragt und nachgedruckt wurde, der MOTUISMUS von Antonia Pfadenhauer. Haben Eure Konzepte Gemeinschaft gestiftet? Wie war die Resonanz auf das Projekt? 

MASIHNE RASULI: Die Ausstellung hat tatsächlich außergewöhnlich viel Laufpublikum angezogen. Wahrscheinlich nicht nur durch unsere Fensterbeschriftung: „Hier ist GOTT“. Nein, wir haben gemerkt, dass es viel uniexternes Publikum hinein gelockt hat. Die Leute haben sich intensiv mit den Projekten auseinandergesetzt – was man nicht immer sieht! Das ist besonders, wenn man auf Oberfläche trainiert ist und kurze Aufmerksamkeitsspannen hat. Bei diesem Projekt war es bewusst anders. Man konnte sich viel Zeit nehmen, um einzelne Inhalte der Religion zu erforschen. Die Leute haben das auch gemacht. Das war schön zu beobachten.

 

Winterwerkschau, Bauhaus Universität Weimar, Van-de-Velde-Bau, Foto: © Masihne Rasuli, 2024

 

BURKHART VON SCHEVEN: Bei den SOMNIASTEN, die an den Schlaf als heiligem Zustand glauben, und einen Trommelkreis aus Kopfkissen ritualisieren, gab es sogar eine ganze Reihe Erlaubnisse statt Ge- oder Verbote. Etwa “Du darfst schlafen, wo und wann du willst”. Damit könnte ich den Kreis zu unserem Einstieg schließen: Ich glaube, eine gehörige Portion Leichtigkeit, mit einem durchaus auch humoristischen Ansatz, könnte in unserer Weltlage einen Beitrag zu einem aktiveren und positiveren Umgang mit Religionen und den Menschen untereinander leisten. Das ist für mich ein großer Wunsch, an dessen Kraft ich glaube.

CHRISTOF WINDGÄTTER: Burkhart, du hast damit auch schön gesagt, dass unsere Kultur ein Moment der Selbstreflexion und der Selbstbesinnung in sich trägt, die eine rettende Funktion sein könnte für etwas Krisenhaftes. Wenn man davon ausgeht, dass das Bewusstsein für Nicht- oder Außermenschliches vorhanden wäre, und man sich darauf beziehen könnte. Dann wäre das vielleicht ein solches rettendes Moment – ein Strohhalm. Dieser würde zunächst nur gedanklich auftauchen. Aber vielleicht würde er doch die Notwendigkeit ganz bestimmter Verhaltensveränderungen nahelegen – die unseren Planeten dann nicht so schreddern, wie wir das gerade tun.  

 

Winterwerkschau, Bauhaus Universität Weimar, Van-de-Velde-Bau, Foto: © Masihne Rasuli, 2024

 

STUDIERENDENPROJEKTE [Auswahl]

COSMOSPIRIT: Maria Saveliev
COLORFUL COVENANT: Soo-Ah Youn
FINDLING: Teo Bahr
HUMA-N-YSTEM: Piera Moreau
LEPIDOPTERI: Mitra Asghari
MOTUISMUS: Antonia Pfadenhauer
SAPORISMUS: Jule Siebenhaar

 

INTERVIEW

Burkhart von Scheven   Masihne Rasuli   Christof Windgätter   Celica Fitz

Gespräch vom Dezember 2024 mit Burkhart von Scheven (Professor für Bild-Text-Konzeption an der Bauhaus-Universität Weimar) und Masihne Rasuli (Künstlerische Mitarbeiterin) als Seminarleitung und Christof Windgätter (Professor für Geschichte, Theorie und Ästhetik materialer Kulturen der Bauhaus-Universität Weimar) als wissenschaftlichen Projektpartner mit Celica Fitz (Kunsthistorikerin und Religionswissenschaftlerin, Wissenschaftliche Projektpartnerin des Semesterprojekts) mit einer Einleitung der Verfasserin. 

Eine Publikation zum Projekt von der Bauhaus-Universität Weimar ist im Erscheinen. 

 

LINKS

Bauhaus-Universität Weimar: Fakultät Gestaltung 

Winterwerkschau 2024: Projekt GOTT

Instagram: @vk_uniweimar