von Thomas Erne
1. Vorbemerkung
”Die große Foliobibel, mit Kupfern von Merian ward häufig von uns durchgeblättert.”[1] Es muss die Eindrucksmacht der Bilder[2] gewesen sein, die sich ins Gedächtnis des Knaben Johann Wolfgang von Goethe eingegraben haben. Schon deshalb, weil der fortwährende Religionsunterricht, den das Kind auch genoss, so wenig erinnernswert war. Dieser sagte weder ”der Seele noch dem Herzen zu” – wohl aber die Bilderbibel. 150 Jahre nach Goethe erinnert sich der tschechische Schriftsteller Milan Kundera an eine ähnliche Szene in der völlig anderen Umgebung[3] der kommunistischen Tschechoslowakei seiner Kindheit: „”Als ich klein war und mir das für Kinder nacherzählte Alte Testament anschaute, das mit Radierungen von Gustave Doré[4] illustriert war, sah ich den lieben Gott auf einer Wolke sitzen. Er war ein alter Mann, hatte Augen, eine Nase und einen langen Bart.” Literarische Zeugnisse[5], wie die von Goethe und Kundera, dokumentieren den prägenden Einfluss von Kinderbibeln und ihre Bilder – sprichwörtlich ist der alter Mann mit Bart auf einer Wolke – in den frühen Phasen der Persönlichkeitsentwicklung. Um so erstaunlicher, dass zu diesem, für die primäre Formierung der Gottesbeziehung, wie für die Überlieferung und Verbreitung des christlichen Glaubens so aufschlussreichen und bedeutsamen Thema keine sozialempirischen Studien vorliegen. Das mag mit der methodischen Schwierigkeit zu tun haben, überhaupt etwas Verlässliches von Kindern über ihren Glauben zu erfahren. Doch es gibt mehrperspektivische Zugänge[6] die durchaus Erkenntnisse über kindliche und jugendliche Religiosität liefern. Nur sind diese Methoden bisher nicht auf die Wirkung von Kinderbibeln auf Kinder und Jugendliche angewendet worden. Warum also sind Kinderbibeln ”einerseits wichtig und weit verbreitet, aber andererseits […] kaum ein Thema, mit dem Theologen und Religionspädagogen sich ausdrücklich beschäftigen”[7]?
2. Forschungsstand
Neben empirischen Studien zur Kinderbibel im Prozess religiöser Entwicklung fehlt eine Bibliographie der schätzungsweise 500 Kinder- und Schulbibel, die in den letzten 200 Jahren im deutschsprachigen Raum erschienen sind[8]. Und es fehlt eine umfassende Geschichte der Kinder- und Schulbibeln im Kontext der jeweiligen Erziehungspraxis.
Was bereits an Forshcung vorliegt ist Christine Reents[9] exemplarische Werkanalyse eines frühen Best- und Longsellers, Johann Hübners[10] Biblische Historien, ein Haus- und Schulbuch für Kinder an der Grenze von Orthodoxie zur Frühaufklärung entstanden. Martin Brechts[11] knappe Darstellung der weltweit verbreiteten Biblischen Geschichten[12] des Pfarrers, Autors und Verlegers Christian Gottlob Barth, einem bedeutenden Vertreter der schwäbischen Erweckungsbewegung, gibt Hinweise auf die noch zu leistende Aufgabe einer historischen Gesamtdarstellung. Arbeiten zu modernen Kinderbibeln wie die von Reimar Tchirch[13] verstehen sich als Orientierungshilfe für die Erziehungspraxis. Die kommentierenden und empfehlenden Bibliographien der Kinderbibeln des 20. J. von Regine Schindler[14] und Gertraud Rosenberger[15] sind der Versuch einer Qualitätskontrolle. Das gewachsene Interesse an Kinderbibeln dokumentieren die Artikel Kinderbibel in der TRE (18, 1989) und dem neu erschienen Lexikon der Religionspädagogik (LexRP Bd 1, 2001). Ein Sammelband mit thematischen Untersuchungen, historische Analysen, Länderberichten, Fragen nach Auswahl, sprachlicher Gestaltung und Kriterien der Beurteilung von Kinderbibeln wurde von Gottfried Adam und Rainer Lachmann[16] herausgegeben.
3. Gattung und Begriff
Kinderbibel[17] ist ein Sammelbegriff. Er umfasstdie unterschiedlichsten Gattungen, die eines gemeinsam haben, dass sie durch die Beziehung auf ihre Rezipienten, die Kinder[18] definiert sind. Bei Kinderbibeln hat man es demnach mit einem literarischen Phänomen zu tun, dass eine ursprünglich für Erwachsene[19] geschriebenen Literatur für eine bestimmte Zielgruppe, nämlich für Kinder und Jugendliche bearbeitet wird. Werkbearbeitungen verfolgen die Absicht ”das Fortbestehen und die Verbreitung des bearbeiteten Werkes zu sichern und zu fördern, indem sie ihm für seine Rezeption gegenüber der Zielgruppe günstige Gestalt verleiht, ohne den literarischen Kern anzutasten.”[20]
Idealtypisch kommen bei der Kinderbibel als Werkbearbeitung zwei konstitutive Bezugsgrößen zum Ausgleich. Zum einen die Beziehungauf die Vollbibel – sie ist das Werk, das ohne substantiellen Verlust tradiert werden soll – zum anderen der Bezug auf den Rezipienten. Die Bibel soll dem Verständnis von Kindern erschloßen werden. Als Werkbearbeitung repräsentiert die Kinderbibel einen spezifischen Aneignungstypus vorgegebener Erwachsenenliteratur, dessen Kennzeichen die schwierige Balance zwischen Text- und Kindgemäßheit ist. Je nach Schwerpunkt reicht deshalb die Gattungsbreite von frei gestalteten Erzählungen auf biblischer Basis (Johann Peter Hebel; Anne de Vries; Jörg Zink) über Bilderbibeln mit nur wenig Text (M. Luther, Passional[21]; Schnorr von Carolsfeld[22]; Kees de Kort) hin zu Katechetischen Kinderbibeln mit bibelnaher Textgestaltung, didaktischen Anhängen und wenigen Illustrationen (Johann Hübner; Christian Gottlob Barth; Ernst Veit, Gottbüchlein; Jörg Erb, Schild des Glaubens).
4. Bemerkung zum Titel und Methode
Wie wird das Evangelium überliefert[23]? Welcher Medien[24] bedient sich der christliche Glaube und welche sozialen Formen bildet er aus, um diese Überlieferungsprozesse zu tragen? Eine, mitnichten die einzige Antwort lautet: er wird nach wie vor in einem bewährten und vertrauten Medium überliefert, der Bibel für Kinder. Auch der Ort auf den die Kinderbibeln zurückverweisen ist im Judentum wie im Neuen Testament[25] bekannt: das Haus und die dort geschehende religiöse Sozialisation. Ungewöhnlich ist allenfalls, dass unter den Bedingungen einer hochdifferenzierten Gesellschaft, dies immer noch zu gelten scheint, dass Kinderbibeln in modernen Familien[26] als Medium religiöser Überlieferung dienen, wenn auch in veränderter und verwandelter Gestalt. Die hohe Auflage und Vielfalt von Kinderbibeln sind zumindest ein Indiz dafür, dass die Familien auch heute für die Überlieferung des Evangeliums und für die Stabilität der Volkskirche[27] bedeutsam sind. Aber kaum eine moderne Kinderbibel bietet noch einen Hinweis[28] auf eben jene Institution, die sich ebenfalls der Bibel, sogar der Kinderbibel als Medium der christlichen Überlieferung bedient und die in unmittelbarer lebensweltlicher Nachbarschaft zur Familie existiert: die christliche Gemeinde. Was hat das zu bedeuten? Treten Familie und Kirche[29] als Überlieferungsträger auseinander? Entwickelt sich auf der einen Seite eine private Frömmigkeit, ohne Beziehung zur Gemeinschaft der Glaubenden? Oder – und das ist meine Arbeitsthese – es handelt sich um ausdifferenzierte Momente einer Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft deren Beziehung zueinander allerdings nicht allen Beteiligten hinreichend deutlich vor Augen steht. Die Kinderbibel könnte dann eine Brücke sein, an der sich die Beziehung von Familie und Kirche deutlich machen ließe.
Methodisch soll die Frage nach der Kinderbibel als Medium religiöser Überlieferung in einer Art Hermeneutik der Lebenswelt untersucht werden. Die “Als” Bestimmung bedeutet, daß die Kinderbibel in einer bestimmten Hinsicht betrachtet wird, eben als Medium und im Blick auf das christliche Überlieferungsgeschehen (traditio, nicht tradentum). Ich versuche deshalb zu beschreiben, welche veränderten Bedingungen religiöser Sozialisation die modernen Kinderbibeln widerspiegeln[30]. Dabei zeigt sich, dass die Kinderbibel für eine eigenständige und zugleich auf andere Institutionen bezogene Form[31] der religiösen Überlieferung in Familien steht. So dann versuche ich unter dem Gesichtspunkt der Erinnerung einen möglichen Zusammenhang von familiärer und kirchlicher Überlieferungsarbeit zu erfassen. Und abschließend möchte ich an zwei konkreten Textbeispielen zu zeigen, inwiefern die Kinderbibel ein Bindeglied darstellt zwischen religiöser Sozialisation in Familien und der Weitergabe des Glaubens in der christlichen Gemeinde.
5. Kinderbibeln und die veränderten Formen religiöser Sozialisation[32]
Dass es Verfestigungen von Überlieferungsformen gibt, dürfte unstrittig sein, etwa im Blick auf die Frage-Antwort Methode[33] des Katechismus. Eine Methode, die von Luther als Anregung und Exempel für ein freies Gespräch des Hausvaters mit dem ganzen Haus[34] gedacht war, wird zur erstarrten Form eines ”Memoriermechanismus”[35]. Erstarrte Rituale tragen ein Moment der Komik bei sich. Und deshalb nutzt der Meister der Ironie, Thomas Mann, zu Beginn seines Romans Buddenbrocks das familiäre Katechismustraining, um den beginnenden Verfall des protestantischen Kulturbürgertums im 19. Jahrhundert zu markieren. Auch heute begegnet man diesem Mechanismus in manchen Familien. Unmittelbar vor der Konfirmation, wenn der Pfarrer bei diesem Anlass den Memorierstoff des Katechismus noch einfordert[36].
Aber jede Überlieferung kennt auch Momente der innovativen Fortschreibung ihrer vertrauten und bewährten Formen. Das gilt selbstverständlich auch für den Katechismus, wie die im vergangenen Jahr erschienene „Katechismusfamilie[37]“ der VELKD eindrucksvoll belegt. Das gilt aber vor allem für die hohen Auflagenzahlen[38] und die Vielfalt von Kinderbibeln, biblischen Erzählbüchern, Bilderbibeln, die auf dem deutschen Buchmarkt verlegt werden. Jeder renommierte deutsche Kinderbuchverlag führt eine oder mehrere Ausgaben in seinem Programm. Und zwar durchaus Verlage, die kein dediziert religiöses Profil vertreten.
Für die Verlage sind Kinderbibeln zunächst ein Kinderbuch wie jedes andere auch[39], das aufgrund seiner Ausstattung, der Qualität der Bilder und dem Reiz der Geschichten auf dem Markt konkurrenzfähig sein muss. Die hohen Auflagenzahlen der Kinderbibeln kommen daher nicht wie die hohe weltweite Auflage der Erwachsenenbibel aufgrund einer kirchlich subventionierten Verteilungspolitik zustande, sondern aufgrund von Kaufentscheidungen der Eltern, Paten, Onkel oder Tanten. Über das Ausmaß, vor allem über die Qualität des Gebrauchs einer Kinderbibel besagt diese Kaufentscheidungen nicht sehr viel, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie gekauft wurden, um benutzt zu werden, dürfte etwas größer sein, als wenn die Bibel anlässlich der Trauung vom Pfarrer überreicht wird.
Die hohen Auflagenzahlen der Kinderbibeln berechtigen auch zu Zweifeln an der These von einem grundsätzlichen Bruch in der religiöser Traditionsbildung, einem Unsichtbar-Werden der Religion, wie Thomas Luckmann[40], die Auflösung eines verbindlichen und allgemein glaubwürdigen Modells für die Erfahrung von Transzendenz[41] nannte. Folgt man der Auflösungsthese Luckmanns, dann kann es, streng genommen, überhaupt keine religiöse Sozialisation mehr geben. Die Kirche repräsentiert dann einen Heiligen Kosmos, aus dem die Formen der persönlichen Daseinsführung[42] in einen Alltag ausgewandert sind, der keine expliziten-religiösen Symbole mehr kennt. Solche Formen der individuellen Daseinsgestaltung sind zwar einer Deutung aus christlicher Perspektive zugänglich, aber nur für den ”religionstheoretisch gebildeten Betrachter”[43]. Aus Sicht der Betroffenen gehört ihre Lebensorientierung längst nicht mehr zu einer explizit-religiösen Tradition. Es mag sich dann in vielen Äußerungen der modernen Alltagskultur um die unthematisch gewordene Idee des Christentums handeln – so gesehen ist das Christentum nicht verschwunden, sondern eben unsichtbar geworden – aber der Traditionsabbruch besteht darin, dass eine unsichtbare Religion keine sozialen Folgen mehr hat. Nur an sichtbaren Formen, an ”Gebräuchen, Gesinnungen und Einstellungen…die allgemein und selbstverständlich eben als Religion gelten,”[44] kann Religion sozialen Folgen haben. Wo sich der Glaube nicht mehr in manifesten religiösen Symbolen artikuliert[45] und nur noch über theoretische Rekonstruktionen vermittelt ist, wo sich also ”Religion ins Religiöse verflüchtigt”[46], da kann das Christentum allenfalls weitergedacht, nicht aber Kindern weitererzählt werden. Luckmanns Verflüchtigungsthese betrifft deshalb grundsätzlich die Möglichkeit religiöser Überlieferung und damit einen Grundvollzug des christlichen Lebens.
Seine Diagnose unterschätzt aber offensichtlich die Bedeutung der Familie für die religiöse Sozialisation. Das Haus und die Familie, nicht die Kirche, ist der primäre soziale Ort, an dem sich die Gottesbeziehung formiert und Glaube und Leben in elementarer Weise ineinanderverwoben werden. Die Popularität, der Variantenreichtum, die alterspezifische Vielfalt der Kinderbibeln interpretiere ich als Ausdruck eines Bedürfnis nach zeitgemäßen, individuellen Ausdruckformen einer gewandelten Familienreligiosität – nicht aber als Indiz für die Verflüchtigung des religiösen Symbolsystems in der Dimension alltäglicher Daseinsführung. Angemessener scheint es mir deshalb, die Traditionsbrüche, wie sie Luckmann diagnostiziert, als „Traditions-Auf-Brüche“[47] einer religiösen Überlieferung zu begreifen, die sich, wie im Falle des Protestantismus, schon immer über riskante Prozesse von Auf- und Abbrüchen ihrer Formen hinweg entwickelt hat.
Das Wahrheitsmoment der Luckmannschen These könnte umgekehrt darin liegen, dass die familiäre Religiosität heute selten genug Anschluss findet an kirchliche Artikulationsformen und private und institutionelle Formen der Frömmigkeit nur noch schwer zu integrieren sind. Blickt man allerdings auf die religiöse Sozialisation, die heute in Familien geleistet wird, so fällt der Befund differenzierter aus. Neben Anzeichen der Abnahme[48] kirchlicher Bindung in Familien, finden sich auch Anzeichen von Kontinuität: die hohe Zahl von Kindertaufen, die große Zustimmung zu kirchlichen Kindergärten, zu Familiengottesdiensten, zum Religions- und Konfirmandenunterricht.[49] Was sich trotzdem zu ändern scheint, ist die Funktion, die Kirche für die Familien heute hat. Denn Familien hören auf ”wie selbstverständlich (!) ein kirchlicher Sozialisationsagent zu sein.”[50] Sie sind in der Regel darauf aus, eine kindgemäße Artikulation religiöser Inhalte zu ermöglichen. Sie leisten primär eine religiöse, und erst sekundär eine kirchliche Sozialisation[51]. Die Kirche wird deshalb wahrgenommen “hinsichtlich ihrer Relevanz für die individuelle Gestaltung des Glaubens”[52]. Also Kirche wie die Familien in der Taufe, im Kindergarten, im Kindergottesdienst, in Kinderbibelwoche und Familiengottesdienst bei der individuellen Artikulation des Glaubens kontinuierlich begleitet und verlässlich unterstützt[53].
Schon Wölber macht in seiner Studie ”Religion ohne Entscheidung” von 1959 auf den engen Zusammenhang von Familienbindung und religiöser Einstellung, von ”Familientreuen und Religionstreuen”[54] aufmerksam. Die Bedeutung der Familie als Ort religiöser Überlieferung hat seitdem eher zugenommen und zwar in dem Maße wie ”Familientreu” zwar ”Religionstreu” bedeuten kann, nicht aber zwingend mehr ”Kirchentreu”.
Ulrich Schwab kommt deshalb in seiner materialreichen Studie über Familienreligiosität zu dem Ergebnis, dass zwar ”die religiöse Sozialisation in den Familien durchwegs funktioniert”[55] aber zugleich die familiäre Weitergabe des Glaubens von der Glaubensvermittlung in Kirche und Gemeinde unterschieden wird. Eben dies, dass der eigene Glaube an Gott nicht mit den kirchlichen Traditionen und Aussagen über Gott zusammenfällt, sollen auch Kinder begreifen. Man kann diesen Befund einer Individualisierung der religiösen Überlieferung – im übrigen ist der Abstand zur Kirche seinerseits eine genuin protestantische Traditionsbildung – als Zunahme an ”Entscheidungsfreiheit”[56] werten, die Eltern ihren Kindern einräumen. Momente des Zwanghaften, die mit dem Institutionellen assoziiert sind, werden so von der religiösen Sozialisation der Kinder ferngehalten.
Interessanterweise bleiben familiäre und kirchliche Überlieferung gleichwohl aufeinander bezogen. Denn die individuelle Artikulation religiöser Gehalte in der familiären Situation ist eine ”bedingte Entwicklung”[57]. Die Familie muss auf bestimmte Traditionen rekurrieren, die sie weder erzeugen noch beliebig frei wählen kann. Offenbar wird aber die Überlieferung von religiösen Erzählungen und Bildern, welche Familienreligiosität inhaltlich bestimmen und einfärben, von Familien zunehmend als Leistung einer kulturellen Erinnerung[58] gesehen, nicht mehr als Aufgabe der Kirche. Die Kinderbibel tritt zunehmend neben die ”Heilige Schrift”[59] der Kirche[60] als Sammlung religiöser Geschichten, die sich einer privaten Religiosität zu ihrer Artikulation und zur Ausbildung einer Familienreligiosität anbietet.[61]
6. Die Kinderbibel als Medium religiöser Erinnerung
Es ist mitnichten trivial sich klar zu machen, dass Erwachsene in den Kinderbibeln eine bestimmte Form der Erinnerung von Kindern organisieren. Johann Hübner[62] formuliert 1714 in der Vorrede zu seinen Biblischen Historien das Erinnerungsanliegen der Erwachsenen in Form eines Gebetes, welches das lernende Kind selber spricht: „Schärffe doch mein Gedächtnis, dass ich dein Wort recht fassen und begreifen könne.“
Als Werkbearbeitung, als Erwachsenenliteratur, die für Kinder bearbeitet wird, zielt die Kinderbibel auf eine generationsübergreifende Kontinuität. Solche Kontinuierungsprozesse bilden sich aus als Reproduktion und Einprägung religiöser Bilder und Geschichten in Herz und Gedächtnis nachfolgender Generationen, und insofern über eine ”konnektive Struktur”, die eine Vernetzung unterschiedlichen Erfahrungs- und Erwartungshorizonten leistet. Jan Assmann hat diese zeit- und generationsübergreifende Kontinuität, die in jeder Gesellschaftsform ausgebildet werden muss, das kulturelle Gedächtnis genannt und Gedächtnis und Erinnerung[63] als einen Grundvollzug der jüdisch-christlichen Religiosität namhaft gemacht.
Das Stichwort ”Erinnerung”[64] wird in bezug auf Kinderbibeln häufig im Zusammenhang mit der Funktion von Bildern genannt. Martin Luther betont im Vorwort seines Passionals die Bedeutung der Bilder für die memoria der göttlichen Dinge ”Umb der kinder und einfeltigen willen, welche durch bildnis und gleichnis besser bewegt werden die Göttlichen geschicht zu behalten, denn durch blosse wort odder lere…”[65] In diesem Sinn äußert sich auch 450 Jahre später der Bischof der schaumburg-lippischen Landeskirche Heubach im Vorwort zu einer Bibel für russlanddeutsche Kinder mit Bildern von Schnorr von Carolsfeld, dass die Bilder ”das Gehörte oder Gelesene gewiss veranschaulichen und behaltbar machen.”[66] Und Jörg Erb verinnerlicht in seinem Vorwort zum Schild des Glaubens den Vorgang der Erinnerung[67]. Nicht zufällig greift er eine Formulierung aus dem Deuteronomium[68] auf, um eine Erinnerungsart zu charakterisieren, die im Herzen ist und ins Gemüt geschrieben steht: ”Das Wort wird in diesem Buch durch Bilder ergänzt. Sie wollen eine Hilfe sein zum Einprägen der Geschichten nicht nur ins Gedächtnis, sondern auch ins Herz und Gemüt.”[69]
Die Bedeutung der Bilder[70] in einer Kinderbibel für das kindliche Erinnern wird deshalb unterschätzt, wenn die Bilder nur in einem äußerlichen Sinn als Gedächtnisstütze gesehen werden. In einem viel grundlegenderen Sinn ist Erinnerung auf Bilder bezogen, insofern Erinnerung selber „szenischen Charakter“[71] hat. Es ist deshalb kein Zufall, dass es Bilder in Kinderbibeln gibt. Sie sind nicht nur Memorierhilfe, sondern Indikatoren eines Erinnerungsprozesses, in dem Bild und Wort das innere Empfinden[72] lebensbedeutsamer Szenen bewirken wollen.
Nun ist aber gerade für die, um die modernen Kinderbibeln zentrierten familiären Überlieferungsformen charakteristisch, dass der für Luther, aber selbst noch für Heubach und Erb fraglose Konnex von häuslicher Erinnerungskultur und öffentlichen Formen der Erinnerungspraxis im Gottesdienst einer Gemeinde nicht mehr selbstverständlich ist. Die Überlieferung, die Grundvollzug eines familiär-privaten Gedächtnisses ist und die Überlieferung im öffentlichen Gottesdienst, also der Kirche als Erinnerungsgemeinschaft, treten nebeneinander. Im Zentrum moderner Kinderbibeln steht nicht primär die ”geschuldete Erinnerung”[73], die Satzungen und Verordnungen, die ein Kind kennen muss, um sich in eine religiöse Tradition einzugliedern, sondern die biographische Erinnerung an diejenigen biblischen Texte und Überlieferungen, die “für Kinder verständlich und interessant”[74] sind. Nicht in erster Linie die Kontinuität einer Tradition, oder die Identität einer religiösen Gemeinschaft, sondern das Kind in seiner Welt, seine biographische Kontinuität ist Adressat und Kriterium für Textauswahl, Gestaltung und Konzeption moderner Kinderbibeln: ”Tatsächlich scheint die Hauptfrage der Kinderbibeln […] die primäre Sorge zu sein, […] ob die Bibelworte oder der Bibelinhalt für die Adressaten von Bedeutung ist.”[75]
In einer solchen prinzipiellen Ausrichtung am kindlichen Rezipienten[76] folgen moderne Kinderbibeln auch dem Bedürfnis der Eltern, ihren Kindern einen individuellen Zugang zu religiösen Themen zu ermöglichen. So tritt die Weitergabe religiöser Inhalte in einer familiären Erinnerung[77], zwar nicht beziehungslos, aber doch als eigenständiger Ort und eigene Sozialform, um Glauben und Leben ineinander zu verweben, neben die zentrale Vergegenwärtigung der religiösen Tradition im Leben einer Gemeinde. Also neben den Gottesdienst als ”vergemeinschaftende Öffentlichkeit und auftragsgemäße, traditionsgeleitete Gestaltung”[78] der Verkündigung des Evangeliums.
Was aber könnte dann das Integrationsmoment sein? Worin gründet der Konnex von Familie und Kirche unter den gewandelten Bedingungen christlicher Überlieferung? Ich möchte deshalb in einem abschließenden Gedankengang die Vermittlung der spezifisch kirchlichen Erinnerungskultur mit Formen der familiären Erinnerung skizzieren, um dann an einigen Texten aus Kinderbibeln zu zeigen, welche Chancen sich daraus für Kirche wie die Familien ergeben.
7. Kinderbibel zwischen privater Erinnerungskultur und kirchlichem Gedächtnis
Anders als dies die Wahrnehmung aus religionssoziologischer Sicht nahe legt, ist die Kirche ist nicht nur Heiliger Kosmos und öffentlicher Sinnhorizont, aus dem die Formen der Daseinsführung in die Privatheit von Familie und Alltag ausgewandert sind. Kirche ist auch eine Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft, die kontinuierlich und sachlich auf private Artikulationsformen[79] von Religion bezogen ist, die sich etwa als (primäre) religiöse Sozialisation in Familien neben der Kirche entwickeln. In ihrer Funktion als institutionelle Erinnerungsgemeinschaft markiert die Kirche genau den Ort, an dem eine private Familienüberlieferung immer wieder verflüssigt und variiert wird, um nicht in Gegensatz zur ”fortschreitenden Gegenwart”[80] zu geraten.
Erinnerung, die nicht nur im äußerlichen Sinn Traditionsbestände in Form des Wissens bewahren, sondern einer lebensbedeutsamen Aneignung zuführen will, hat variierenden Charakter.[81] Solche Varianten von Lebens- und Zeitumständen sind keine äußerliche Einkleidungen im Sinn einer modischen Anpassung an den Zeitgeist, sondern die Art und Weise wie sich ein eigenes Verhältnis zur Tradition, wie sich der Geist als subjektiver Geist aufbaut. Das gilt nun besonders für die christliche Traditionsbildung, die davon ausgeht, dass zwar das Heil in Christus extra nos konstituiert ist, aber angeeignet wird, insofern der Geist in nobis wirkt. Christliche Überlieferung vollzieht sich daher nicht in einer bloßen Wiederholung[82], einem nur äußerlichen Empfang des Wortes, sondern vor allem als innerliche Aneignung, als individuelle Variation angesichts gewandelter Zeitumstände. In der christlichen Erinnerungsgemeinschaft wird deshalb nicht einfach ”wiedererinnert”, sondern es wird ”weitererinnert.”[83] Beides, einerseits auf konkrete Ausdrucksgestalten des Heils angesichts veränderter Zeitumstände hinzuarbeiten, und sie andererseits, in ein und demselben geistigen Akt[84] als notwendige, aber prinzipiell korrekturbedürftige Vereinseitigungen zu begreifen, charakterisiert die Eigenart der christlichen Erinnerung als Werk des Heiligen Geistes.
Zu dieser Form der Erinnerung gehört aber nun, dass jede individuelle Artikulation, weil immer auch eine korrekturbedürftige Verstellung, auf andere Artikulationen, fremde Sichtweisen und praktische Vollzüge angewiesen ist – also auf eine Erinnerungsgemeinschaft in wechselseitiger Kommunikation[85]. Damit sich der Glaube nicht abschließt und in eine private Erlebniskultur[86] abgleitet, muß er sich dem “Abenteuer der intersubjektiven Artikulation individueller Erinnerung“[87] öffnen.
Die Erinnerungsgemeinschaft Kirche, die der private Erinnerungen das Abenteuer intersubjektiver Kommunikation anbietet, könnte so der Ort sein, um die vielfältigen Horizonte, in denen wir leben, zu vernetzen, zu verstetigen und immer wieder zu überschreiten. Wahrgenommen wird aber vor allem der große Abstand der Kirche zu den modernen Lebensgeschichten. Das mag auch damit zusammenhängen, dass es nicht immer gelingt, die wechselseitige Bezogenheit von Familie und Gemeinde als Subsysteme einer sich selbst regulierenden[88] Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft deutlich zu machen.
8. Der Konnex von kirchlicher und privater Erinnerungskultur
Das Auseinandertreten kirchlicher und privat-religiöser Überlieferungsformen, wie es sich an der Bedeutung der Kinderbibel für die religiöse Sozialisation in Familien zeigt, ist Ausdruck der Ausdifferenzierung des neuzeitlichen Christentums[89]. Ausdifferenzierung schießt aber eine Beziehung der verschiedenen Formen nicht aus, in denen sich das Christentum überliefert und vergegenwärtigt. Aber das Nebeneinander ist mit dem Hinweis auf die nur bedingte Lebensfähigkeit der einzelnen Überlieferungsgestalten[90] nicht zu beheben. Erst wenn sich zeigen lässt, wie die Beziehung der religiösen Überlieferung in Familien zu kirchlichen Formen eine für die private Religion unverzichtbare Erweiterung und Bereicherung ihrer eigenen Gestalt darstellt, besteht die Chance, dass das Moment der Integration mehr ist als nur eine Behauptung oder frommer ein Wunsch.
Fragt man sich, worin die Leistung der kirchlichen Erinnerungsgemeinschaft für private Formen der religiösen Erinnerung liegen könnte, wie sie mit Kinderbibeln vorstellig werden, dann hilft der Hinweis, dass lebendige Erinnerung, die nicht einfach Wiedererinnerung, sondern Weitererinnerung sein will, immer vorbereitete Traditionen aufnimmt und sie zugleich überschreitet. Das Wissen um die Bedeutung der Regelmäßigkeit und Stetigkeit der Erinnerung wie um die Bedeutung variierender Vergegenwärtigung, und zwar das eine im anderen, also so etwas wie “Kontinuität durch Variation“[91] oder Fortschritt im Selben, ist innerhalb der kirchlichen Erinnerungsgemeinschaft prägnant ausgebildet, und zwar als Konsequenz ihres christlichen (trinitarischen) Gottesbewusstseins.
Man kann sich diese Zugewinn an Deutlichkeit klar machen im Blick auf die Fehlformen, Willkür einerseits und Trivialität andererseits, die idealtyisch bei Kinderbibeln möglich sind. Kinderbibeln können, wie jede andere Artikulation des Glaubens mißlingen, weil sie im Extrem, entweder Variationen sind, ohne signifikante Beziehung zum Thema (Noah als Seeräubergeschichte), oder Wiederholungen, ohne signifikante Beziehung zur fortschreitenden Gegenwart.
9. Qualitätssicherung
Das bedeutet nun, dass für die Kinderbibeln und die mit ihnen verbundene Familienreligiosität die in der Kirche ausgebildete Form der Erinnerungskultur, die “Kontinuität durch Variation” vermittelt, eine Art von Qualitätssicherung darstellt. Ich möchte Ihnen das an zwei Versionen der biblischen Geschichte verdeutlichen, die erstaunlicherweise in der Hitliste der beliebtesten Texte für Kinder den ersten Rang einnimmt: Noah und die Arche.
Ich beginne mit einem Textbeispiel aus einer der Kinderbibeln für die Allerkleinsten. Allererste Kinderbibel für die Zielgruppe der 2-4 jährigen sind ein Phänomen der jüngeren Verlagsgeschichte. Die meisten Kinderbuchverlage haben neben einer Kindervollbibel eine Auswahl von biblischen Geschichten im Programm mit minimalem Text- und maximalem Bildanteil. Gedacht als Einstieg in die Welt biblischen Geschichten verbindet sich mit dieser Kleinstkinderbibel die Absicht die Kinder an die Kindervollbibeln im eigenen Verlagsprogramm heranzuführen. Kinderbuchverlage partizipieren auf ihre Weise an der entwicklungspsychologischen Ausdifferenzierung des Kinder- und Jugendalters.
Im Pattloch-Verlag erschien 1996 eine sogenannte ”Baby-Bibel”.[92] Die Baby-Bibel bietet die Noahgeschichte in exakt fünf Hauptsätzen. Interessant ist an diesem Text, was er nicht mehr sagt. Es fehlen die irritierenden Momente, die Verderbtheit der Menschen (Gen 6,5), aber auch die Grenzerfahrungen mit Gott, sein Vernichtungsbeschluß (Gen 5,7), und die Schilderung der erfolgten Vernichtung alles Lebens auf Erden, mit Ausnahme von Noah und dem, was in der Archewar (Gen.7, 23) Nur angedeutet wird die Bundesverheißung im Bild mit einem Regenbogen. Die Zeit in der Arche durch eine Taube mit Ölzweig. Die Harmöosigkeit der Szeme spiegelt sich in den freundlichen hellen Farben und den lachenden Gesichter der Tiere wieder.
Von anderer Qualität ist mein zweites Textbeispiel. Es stammt aus der in der Ars Edition erschienen Bilderbibel mit allerersten Geschichten aus dem alten Testament[93] Der Textumfang ist in diesem Fall größer, die Geschichte wird ausführlicher erzählt. Auch diese Variante verzichtet auf den Vernichtungsbeschluß Gottes, auf die Erwähnung der Verderbtheit der Menschen, verzichtet auf die Schilderung des Untergangs der Welt mitsamt den Tieren und Menschen außerhalb der Arche. Deutlicher, auch vom Bild her wird, die Erfahrung der Bedrohung durch den langen Regen, ohne dass man Gründe für diese Katastrophe erfährt. Im Vordergrund steht die Arche als Symbol der Geborgenheit. Gott hält die Menschen in der Arche geborgen wie auf seinen Händen. Die ganze Erzählung der Noahgeschichte ist um dieses Bild gruppiert. Auch eine Anwendung auf den kindlichen Rezipienten wird mitgeliefert: So wie Gott Noah und seine Familie geborgen hält, so hält er auch dich geborgen. Schließlich mündet, in Anklang an Rm 8, die Geborgenheitszusage Gottes in eine, allen Katastrophen überlegene Gewissheit, dass nichts das Kind aus Gottes Hand reißen kann.
Barbara Cratzius Baby-Bibel scheint mir eindeutig ein Beispiel für die Trivialisierung einer biblischen Geschichte zu sein. Bei Dagmar Henzes dagegen kann man fragen, ob nicht ihr Ausweg, die Noah-Geschichte um die Arche als Symbol der Geborgenheit zu zentrieren, gerade für sehr kleine Kinder erschließend ist. Was beide Textbeispiele verbindet – und das hat durchaus mit dem Problem der Trivialisierung zu tun – ist der Hang zum idealisierten guten Gott. Die neue Sanftheit Gottes, die sich im Zuge der Aufklärung[94] in den Kinderbibeln formiert, ist laut Ruth Bottigheimer der Ausdruck der Arbeit an einem permanenten Zwiespalt zwischen dem ”idealen Gott und dem Handeln Gottes im Alten Testament”. Dieser Zwiespalt nötigte, ”jede Generation [ihn] zu überbrücken, indem sie den biblischen Text für Kinder […] bearbeitete.” Ich lasse dahingestellt, ob Bottigheimers Zuordnung, der ideale Gott einerseits und sein wenig ideales Handeln im Alten Testament andererseits, die Spannung zwischen kindgerecht und schriftgemäß angemessen charakterisiert. Klar ist jedenfalls, dass die Bearbeitung der Bibel für Kinder manche Stoffe überhaupt ausscheidet[95], andere dagegen nur aufnimmt, wenn sie, wie im Fall der Noahgeschichte, gekürzt oder abgemildert werden. Es sind vermeintliche oder berechtigte Rücksichten auf die Kinder und ihre Entwicklung, etwa des frühkindlichen Urvertrauens[96], der solche Idealisierungen Gottes und der Verzicht, ihn noch länger bildlich darzustellen[97], geschuldet sind. Auch wenn die Entwicklung des kindlichenGottesbildes aus pädagogischer und psychologischer Sicht[98] viel komplexer und widersprüchlicher ist als solche, meist intuitiven Hintergrundannahmen suggerieren.
Es lassen sich aber auch gute theologische Gründe[99] dafür aufbieten, warum von dem Idealbild eines guten Gottes[100] in den Bearbeitungen der Bibel für Kinder die irritierenden und abgründigen Seiten ferngehalten werden. Religionspädagogisch einschlägig[101] ist hier der kategorische Imperativ christlicher Erzählkunst. Die ”Einzigartigkeit, Definitivität und das >ein für allemal< der Menschlichkeit Gottes, die am strengsten zum Ausdruck kommt in der Konfession <Gott ist Liebe<”[102] impliziertnach Eberhard Jüngel die erzählerische Grundregel, dass ”der Satz <Gott ist Liebe< alle Rede von Gott – auch die vom Zorn und vom Gericht Gottes! – begleiten können muss.”
Dieser Imperativ christlicher Erzählkunst ist allerdings keine Lizenz zur Trivialität[103]. Wenn der Satz ”Gott ist Liebe”[104] zur Plattheit eines ”Märchenbuchliebergott”[105] herabsinkt, dann ist das Ideal im Sinne Ricoeurs[106] erstarrt zum Idol, der Sinnüberschuss reduziert, die Geschichten von Gott nicht mehr im ”Hofe ihrer Möglichkeiten” gesehen. Und nur im Horizont vergangener und zukünftiger Möglichkeiten sind diese Geschichten was sie sind, Andeutungen eines Reichtums, der in keiner Geschichte von Gott[107] eingeholt werden kann. Das könnte ein Grund sein, warum es überhaupt der Geschichten, Bilder und Metaphern bedarf, um Gott zur Sprache zu bringen – um immer mitzuerzählen, dass von Gott noch mehr zu erzählen ist, als das, was gerade erzählt wird.
Hängt aber die Gefahr in manchen Kinderbibeln den Satz ”Gott ist Liebe” zu trivialisieren nicht ursächlich mit dem Ausblenden aller irritierender Momente, dem Zorn, dem Gericht, dem Strafhandeln Gottes zusammen? Nicht nur die Bilder eines strafenden Gottes, auch der Kinderglaube an den lieben Gott kann zum Problem werden, wenn es darum geht, mit seinen Gottesbildern zu reifen und sich von frühen Geborgenheitserfahrungen abzulösen. Es geht nicht nur um einen Wandel der religiösen Symbole im Rahmen der eigenen Lebensgeschichte. Es geht auch um eine ”Entwicklung der Symbolfähigkeit und des Symbolverständnisses”[108] und dazu muss der ”Verweisungscharakter und die Uneigentlichkeit religiöser Symbole” also der symbolische, nicht der idiolisierende Gebrauch religiöser Symbole erkannt und erlernt werden können.
Wäre also an diesem Punkt, der die erzählerische Grundhaltung betrifft, und sich in der Auswahl der Texte und der Grundintention ihrer Bearbeitung auswirkt, doch die Linie Luther – Kierkegaard – Elert[109] zu verfolgen, statt auf der Linie Luther – Karl Barth auf die Widerspruchsfreiheit Gottes als die Liebe zu dringen? Steht nicht gerade die Irritation der Grenze, der Riss in der Darstellung Gottes, also das, was mit der Rede vom deus absconditus gemeint sind dürfte, dafür ein, dass ”immer noch mehr” von Gottes Liebe zu sagen bleibt, oder gilt dies auch und gerade von einer gut erzählten Idealfigur, auf die kein Schatten fällt? Ich kann diese Frage hier nicht lösen, sondern nur darauf hinweisen, dass sich systematisch-theologische Grundfragen am Ort religionspädagogischer Praxis neu stellen und für diese hoch bedeutsam sind.
10. Schlussüberlegung
Kirche als Erinnerungsgemeinschaft ist auf die Familie angewiesen.[110] Nicht nur in ihrem äußeren Bestand hängt sie ab von der Bereitschaft von Eltern ihre Kinder taufen zu lassen, sie christlich zu erziehen in Kindergottesdienst, Kindergarten, Religionsunterricht, Konfirmandenunterricht. Sie ist auch auf die private Erinnerung der Familien im Sinn einer vorbereiteten Religionskultur angewiesen. Und umgekehrt gilt, dass die private Erinnerungskultur der Familie angewiesen ist auf die Erinnerungsgemeinschaft Kirche[111], will sie nicht ihre individuellen Deutungsvarianten isolieren. Die Kinderbibel wird jedenfalls dann zur Brücke zwischen familiäre Sozialisation und kirchlicher Erinnerungsarbeit, wenn bei Taufen, Bibelwochen, Familiengottesdiensten die vertrauten Geschichten der Bibel wiederholt werden, aber so variiert, dass für Kinder wie Erwachsene das Gewohnte überraschend neu und lebensbedeutsam werden kann. Wenn in der Kirche so gekonnt[112] an Gott erinnert und die Geschichten von ihm so lebendig weitererzählt werden, dann kommt gegen diese Qualität von “Kontinuität durch Variation”, keine Trivialisierung des Evangeliums auf. Dazu müsste allerdings auch in der Kirche das Bewußtseins deutlicher ausgebildet werden[113] als Erzähl- und Erinnerungsgemeinschaft auf die religiöse Überlieferung der Familie bezogen zu sein[114]. Sie würde dann ihrem nach Schleiermacher eigentümlichen Charakter gerecht, ”nichts anderes als eine Gemeinschaft in Beziehung auf Frömmigkeit”[115] zu sein.
[1] J.W. von Goethe, Dichtung und Wahrheit I/1, Hamburger Ausgabe Bd. 9, 35 und 43. Erstaunlicherweise führt diese Betrachtung der Merianschen Kupfer bei Goethe nicht zu einer genaueren Vorstellung des Schöpfergottes ”Der Knabe hatte sich überhaupt an den ersten Glaubensartikel gehalten […] Eine Gestalt konnte der Knabe diesem Wesen nicht verleihen.”
[2] „Was es für eine ökumenische Sozialisation bedeutete, dass die christlichen Vorstellungen durch die weithin gleichen Illustrationen geprägt wurden, lässt sich kaum abschätzen und bedürfte fachkundiger Würdigung.“ M. Brecht, PuN 11, 138
[3] Kundera beschreibt ein einzelnes Kind vor seinem Buch. C. Reents (Hübner 38) vertritt die These, daß Hübners pädagogisches Konzept, welches das Kind einzubezieht in den Gebrauch der Schul- und Kinderbibel, habe das Ziel gehabt, es unabhängig von der religiösen Erziehung durch die Hausgemeinschaft zu machen, weil diese ihren erziehrischen Pflichten nicht mehr nachkam. Hübners Haus- und Schulbuch ist ein erster Schritt auf dem Weg zum Kind als unabhängigen Leser seiner Bücher.
[4] Die von Gustave Dore illustrierte katholische Bilderbibel mit Text von Allioli (franz. 1866, dt. 167/70) war nicht für Kinder konzipiert, vgl. C. Reents, Art. Kinderbibel, TRE 18,180.
[5] Für die empirische Erforschung kindlicher Religiosität könnte nach F. Schweitzer die Auswertung autobiographischen Materials”ein lohnendes Unterfangen sein”, F. Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion [=LuR], 58. Vgl. die Bemerkung von G. Adam (Kin der- und Schulbibeln [=KuSch], 64), der bei Älterenauf Erinnerungen an den starken Eindruck der Bilder von Carolsfeld oder Ernst Veits ”Gottesbüchlein” stieß. Außerdem C. Reents (KuSch, 14), die von ”vielen älteren Zeitgenossen” berichtet, die sich wie die Pfarrerstocher Ruth Rehmann an die Bilder von Schnorr von Carolsfeld erinnern.
[6] F. Schweitzer (LuR, 55) nennt: 1. Befragungen (Starbuck, Shell-Studie); 2.) Psychoanalytische Auswertung einer Lebensgeschichte als Fallgeschichte (Freud, Erikson); 3.) Klinische Interviews (Piaget lenkt das Kind, das sich selbst lenkt); und 4. Offenes Interview (Qualitative Befragung). Außerdem als phänomenologische Zugänge: A) Sammlung von Alltagsbeobachtungen religiöser Äußerungen; B) Kinderzeichnungen; C) Autobiographische Berichte.
[7] G. Adam/R. Lachmann, Kinder- und Schulbibeln. Probleme ihrer Erforschung, Göttingen, 1999, 8
[8] C. Reents (Art ”Kinder- und Schulbibeln” LexRPBd.1, 1008) spricht von schätzungsweise 500 Kinder- und Schulbibeln in den letzten 200 Jahren in deutscher Sprache erschienen sind. Eine Bibliographie fehlt. 250 verschiedene Kinderbibeln aus der laufenden Produktion deutscher Verlage, ohne Schulbibeln, waren während der Schwerter Kinderbuchtage 1990 ausgestellt worden, vgl. R. Cordes (Hg.), Die Bibel als Kinderbuch, 1991, 9. R. Schindler (Neuere Kinderbibeln. Beschreibung – Kritik – Empfehlungen, Zürich, 41987) bespricht eine Auswahl von ca. 70 deutschsprachige Voll- und Teilbibeln für Kinder, dazu eine Fülle von biblischen Kinderbüchern. G. Rosenberger (Das große Buch für kleine Leute, Essen, 1997, 11) nennt für 1996 allein 60 Vollbibeln für Kinder im Angebot des Buchhandel-Grossisten.
[9] C. Reents, Die Bibel als Schul- und Hausbuch für Kinder. Johann Hübner, Zweymal zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien, der Jugend zum Besten abgefasset…, Göttingen 1984 [=Hübner].
[10] Johann Hübner, Zweymahl zwey und funffzig Auserlesene Biblische Historien Aus dem Alten und Neuen Testamente, Der Jugend zum Besten abgefasset (1714), hrsg.v. C. Reents u. R. Lachmann, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1731, Zürich 1986.
[11] M. Brecht, Christian Gottlob Barths „Zweimal zweiundfünfzig biblische Geschichten“ – ein weltweiter Bestseller unter den Schulbüchern der Erweckungsbewegung, in: Pietismus und Neuzeit (=PuN) Bd. 11, 1985, 127-136. Brecht erklärt Barths „ökumenischen“ Erfolg (87 Übersetzungen, Auflage über 1,5 Mill) mit dessen, gegen den Rationalismus gerichteten Biblizismus und vermutet darin eine Wurzel der Ökumene: „Ihr schlichter Biblizismus dürfte sowohl zu den Wurzeln einer europäischen konservativen Gemeindetheologie wie der werdenden jungen Kirchen gehören und bilden in dieser Hinsicht ein einigendes Band.“
[12] C. G. Barth, Zweimal zweiundfünfzig biblische Geschichten für Schulen und Familien (1832-4831945). Es gibt nur wenig Zusätze im Text. Der Erzählton ist direkt an die Kinder gewandt: ”Nicht wahr, liebe Kinder, nun möchtet ihr auch gern etwas von den Kinderjahren Jesu erzählen hören.” (ebd. 121). C. G. Barth (1799-1862) war Pfarrer in Möttlingen, ”vereinigt Reichtum gedanklichen Tiefsinns (Oetinger; Baader) mit weltweiter Organisationsgabe”. Spekulation kombiniert mit pädagogisch-praktischer Nüchternheit. Wird freier Schriftsteller und Verleger (Calwer Verlagsverein) und macht Württemberg zum ”Kernland missionarisch-biblischen Christentums.” Mezger, RGG3, 893f.
[13] R. Tchirch, Biblische Geschichten erzählen, Stuttgart 1997; Bibel für Kinder: die Kinderbibel in Kirche, Gemeinde, Schule und Familie, Stuttgart 1995.
[14] R. Schindler/F. Jehle/E. Külling/R. Fassbind-Eigenheer, Neuere Kinderbibeln. Beschreibung – Kritik – Empfehlungen, Zürich 51989. Außerdem: Zur Hoffnung erziehen. Gott im Kinderalltag, Lahr 1999.
[15] G. Rosenberger, Das große Buch für kleine Leute. Kriterien und Beurteilung ausgewählter Kinderbibeln, Essen 1997.
[16] G. Adam/R. Lachmann (Hg.), Kinder- und Schulbibeln. Probleme ihrer Erforschung, Göttingen 1999. Außerdem ist im Rahmen der Veröffentlichungen der katholischen Akademie Schwerte ein Band zu Kinderbibeln erscheinen: Die Bibel als Kinderbuch hrsg. v. R. Cordes, Schwerte 1991.
[17] Der Begriff ”Kinderbibel” ist nach C. Reents zu ersten Mal im Reformationsjahrhundert nachweisbar bei dem Lutherschüler Johannes Mathesius (1562) und bezeichnet einen Katechismus für Bergleute ”Nun hat ein Christlicher Bergmann in seinem Catechismo und kinderbibel auch die zehn gebot…” C. Reents, Art Kinderbibel TRE 18, 176; und LexRP, 1009.
[18] Ich folge damit einem Vorschlag von J. Braun (Literaturtheoretische Betrachtung von Bibelbearbeitungen für Kinder und Jugendliche, KuSch). Historisch umfassender geht C. Reents deshalb von der Gebrauchsituation aus: ”Allen [Kinderbibeln] ist gemeinsam, dass sie von ihrer Gebrauchsituation her definiert werden.”, C. Reents, Art Kinder- und Schulbibel, LexRP, 1009.
[19] Zu diesem Literaturtyp gehören Werke wie Gustav Schwabs Bearbeitung der antiken Heldensagen, Gullivers Reisen von Jonathan Swift oder Robinson Crusoe von Daniel Defoe, vgl. J. Braun, KuSch, 243. Kindern als altersspezifsische Zielgruppe ist eine „Erfindung“ der Neuzeit. Elementarbibeln im sechzehnten Jahrhundert orientierten sich nicht am Alter, sondern am Wissensstand. M. Luther schreibt seine kleine Bilderbibel, das Passionalbüchlein von 1529 ”umb der kinder und einfeltigen willen.” Im NT (vgl. 1. Kor 3; 1.Kor 13, 11; Eph 4, 12-14) wie für Luther steht das Kind für den noch nicht gebildeten Menschen, stellvertretend auch für ungebildete Erwachsene. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts spielte die alterspezifische Erlebniswelt der Adressaten eine Rolle. Kinderbibeln orientieren sich seitdem am Alter der Kinder, vgl. R. Bottigheimer, Kinderbibel als Gattung, KuSch, 230f.
[20] G. v. Wilpert, Art. Bearbeitung in: ders., Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1989, 85.
[21] Ein betbüchlein mit eym Calender und Passional hübsch zu gericht, Kassel 1982 (Wittemberg 1529), WA 10/II, 458-470(Nur Text); Reprint Kassel. 50 Holzschnitte aus der Werkstatt Lukas Cranach d. Ä. mit knappen, wörtlichen Kernsätzen aus biblischen Historien.
[22] Die Bibel in Bildern. 240 Darstellungen erfunden und auf Holz gezeichnet von Julius Schnorr von Carolsfeld. Mit kurzen Bibeltexten nach der revidierten luth. Bibel, Leipzig 1860. Der Text ist den Bildern vorangestellt! Es ist dadurch tatsächlich eine Bibel (rein) in Bildern. Nach der Schnorrschen Bilderbibel gibt es 1879 eine Ausgabe mit 42 Illustrationen für kleine Kinder erzählt.
[23] Zum Verständnis von Rezeption als Vorgang religiöser Überlieferung. vgl. T. Erne, Artikel ”Rezeption”,TRE 29, 1998,152f.
[24] Zum medialen Charakter der Überlieferung, vgl. Wendebourg/Brandt, Traditionsaufbruch, 2001, 24 u. 25: Es ist die ”Würde der Überlieferung, Instrument zu sein, dessen sich das Evangelium bedient.” Glaube richtet sich deshalb auch ”nicht auf die Überlieferung, sondern auf das sich selbst durch die Überlieferung vergegenwärtigende Wort.”
[25] Darauf macht auch die Studie der VELKD, Traditionsaufbruch” hrsg. v. D. Wendebourg u. R. Brandt, Hannover 2001, 10 aufmerksam: „Schon das Neue Testament zeigt die Bedeutung des „christlichen Hauses“.“ Im Blick ist hier vor allem die missionarische Bedeutung des Hauses. Das Haus war Stützpunkt für die Ausbreitung des Evangeliums, vgl. Bieritz/Kähler Art. “Haus” TRE 14483f. Dort auch die Ambivalenz Jesu zum Haus, in das er vielfältig eingeladen wird und das er durch seine eigene Unbehaustheit zugleich relativiert..
[26] Die Entwicklung wird bei Bieritz/Kähler (Art Haus TRE 14, 1985, 476-492) mit der These von der Auflösung des “Ganzen Hauses” beschrieben, von der antiken Ökonomik – retardierendes Moment ist die Reformation, die sich gegen die Enthäuslichung stellt – hin zur modernen ausdifferenzierten Gesellschaft, in der die Kleinfamilie unter dem Druck funktionaler Anforderrungen aus Wirtschaft und Gesellschaft steht. Für Luther ist das Haus das Abbild der Kirche. Die kirchlichen Verhältnisse bilden sich in den häuslichen ab. Der Hausvater ist Hausbischof und Prediger, versammelt die Hausgemeinde, betet, und unterrichtet den Katechismus. Familie hat unterstützende Funktion. Gottesdienst, exklusiv in der Kirche, und Kirchgang werden nicht in Frage gestellt. Anders im Pietismus. Das Haus wird aufgewertet und hat ergänzende Bedeutung, weil Kirche ihre Aufgabe, die Pflege des religiösen Lebens, nur unzureichend erfüllt. Die abbildhafte Beziehung von Familie und Kirche wird daher bereits im Pietismus (nicht erst in der Moderne!) aus religiösen Motiven gelockert, vgl. Bieritz/Kähler Art TRE Haus III, 487.
[27] Deutlich wird dies im Kommentar von Peter Höhmann zur 3. EKD-Studie (Fremde Heimat Kirche. Erkundungsgänge, hrsg. v. J. Matthes, Gütersloh 2000, 161) “Schaut man sich die Merkmal [für die Kirchenbindung] im einzelnen an, so ist auffällig, daß die stärksten Einflüsse weiterhin als Sozialisationsresultat zu verstehen sind. Charakteristisch ist hier der private, den kirchlichen Interventionen weitgehend entzogene Charakter dieses Merkmals [der familialen religiöse Sozialisation]. Eine konsistente religiöse Sozialisation erfolgt ganz dominierend über die Familie.”
[28] Nur in Ausnahmefällen wird heute eine Kinderbibel ausdrücklich und programmatisch in Verbindung mit der Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft Kirche gebracht ”Wie bei allen Kinderbibeln musste auch hier aus der Fülle biblischer Überlieferungen eine Auswahl getroffen werden. Entscheidend war dabei zweierlei: Die Texte sollten in der Tradition der Kirche und des Glaubens einen wichtigen Platz einnehmen. Und sie sollten für Kinder verständlich und interessant sein.” W. Laubi/A. Fuchshuber, Kinderbibel, Lahr (1992), 271-272; ”Auf eine freie Bearbeitung wurde weitgehend verzichtet. Dagegen sind die vertrauten Formulierungen der Lutherbibel oder der ”Guten Nachricht” in die Nacherzählung einbezogen. Die Kinder sollen ihre biblischen Geschichten wiedererkennen in den Lesungen an Weihnachten, bei Hochzeiten oder Taufen und im sonntäglichen Gottesdienst.” U. Wensell/T. Erne, Ravensburger Kinderbibel, Ravensburg (1995), 156.
[29] Nach F. Werner ist diese Trennung im Judentum unvorstellbar. Dort sind Haus und Synagoge, die Feier in der Familie und im Gottesdienst untrennbare Bestandteile des jüdischen Kultus: ”der jüdischen Gottesdienst lässt sich in einen synagogalen und einen häuslichen aufteilen. Viele synagogale Gottesdienst werden zu Hause im Kreis der Familie fortgesetzt.” (F. Werner, Art ”Haus I” TRE 14, 477). Gottesdienst ist beides, in der Synagoge öffentlich, im Haus der private Gottesdienst des Herzens (Dtn 6, 5).
[30] Hübners Verbindung von Katechismus und Biblischem Exempel mit Merksatz geht zum Beispiel davon aus, dass nach luth. Kirchenordnung die religiöse Erziehung, und das heißt, die memoria der göttlichen Dinge die Pflicht der Eltern ist (vgl. C. Reents, Hübner 33).
[31] Das muss kein dramatischer Befund sein. ”Jeder Institution der Überlieferung entspricht eine bestimmte Gestalt der Überlieferung” und zwar immer die dem jeweiligen Ort entsprechende: ”Das Zeugnis des christlichen Glaubens hat in den Institutionen des christlichen Familienlebens nicht dieselbe Gestalt wie im Gottesdienst der ganzen Gemeinde – und braucht dies auch nicht zu haben.” Wendebourg/Brandt, Traditionsaufbruch, 96.
[32] V. Drehsen (Art Sozialisation LexRp, 2009) definiert Sozialisation ”als gelingende, motivträchtige Übermittlung gesellschafts- bzw. gruppenspezifischer Wert- und Normvorstellungen an solche Personen, die eben dadurch zu partizipationsfähigen Gliedern der Gesellschaft bzw. Gruppe werden.” Adressat sind in der Regel die ”nachwachsende Generation” und das Ziel der Primär-Sozialisation ist erreicht wenn ”die wesentlichen Ähnlichkeiten, die ein kollektives Leben verlangt, im Geist des Kindes fixiert” (Durkheim) sind. Daß es dabei um eine reziproke Aktualisierung eine kulturellen Erbes in der heranwachsenden Person geht, zeigt, daß es sich, trotz des mitunter ”autoritären Charakters” der Sozialisation bei der individuell-familiären und institutionell-kirchlichen Erinnerungsarbeit nur um unterschiedliche Aspekte eines Überlieferungsgeschehens handelt. Dafür spricht das Bedürfnis der Eltern ihre private Artikulationen in den Horizont kollektiver Erinnerung zu stellen, also private Expression in kollektiver Identität, etwa im Familiengottesdienst.
[33] Von Luther in der Vorrede zur Deutschen Messe (1526) gefordert. Nach D. Rössler (vgl. GPT, 469f.) gab es Sokratik als Lehrart in der Aufklärung. Selbstständigkeit und eigenes Denken stehen im Mittelpunkt dieser Lehrform. Nach C. Reents, (Hübner 50) hatten auch Hübners zergliedernde Fragen mit Lernzielkontrolle das Ziel das Kind zum selbstständigen Lernen anzuregen.
[34] Als Ausdifferenzierung der Sozialformen Kirche und Familie, um Glauben zu lernen, interpretiert D. Korsch Luthers Vorschlag, den Katechismusunterricht durch den Hausvater zu erteilen ”In dem Maße, wie die Reformation darauf setzt, dass Glauben im Leben als eigene Deutungsaktivität verankert wird, reicht die verallgemeinernde Sozialform der Kirche nicht aus, um Glauben und Leben ineinanderzuverweben.”, D. Korsch, Dogmatik im Grundriß, Tübingen 2000, 25. Korsch schließt die kritische Anmerkungen an, ob die Familie heute diese Rolle noch übernehmen kann.
[35] Fraas, Art Katechismus I/1 TRE 17, 717. Fraas bringt diese Erstarrung mit der Aufnahme des Katechismus ins Konkordienbuch in Zusammenhang. Der Katechismus wird mit der Aufnahme ins Bekenntnisbuch auch im Wortlaut kanonisiert und ist nun kirchenrechtlichen und kirchenpolitischen Interessen unterworfen.
[36] Zum Wandel des Konfirmandenunterrichts vgl. EKD – Glauben entdecken. Konfirmandenarbeit und Konfirmation im Wandel. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover 1997; Evangelische Landeskirche in Württemberg. Mit Kindern und Jugendlichen auf dem Weg des Glaubens. Rahmenordnung für Konfirmandenarbeit, Stuttgart 2000. Zwar ist der Katechismus nach wie vor inhaltlicher Leitfaden der Konfirmandenarbeit, aber ”die Inhalte der Konfirmandenarbeit müssen von den Lebenswirklichkeiten, den Erfahrungswelten sowie den Entwicklungsaufgaben der Kinder und Jugendlichen her gedacht werden.” Rahmenordnung 9.
[37] Evangelischer Erwachsenkatechismus, glauben – erkennen – leben; Himmel überm Asphalt. Von der Alltäglichkeit des Glaubens; Erzähl mir vom Glauben. Ein Katechismus für Kinder, Gütersloh 2000.
[38] Mit Verkaufszahlen halten sich die Verlage sehr zurück. Eine der am meisten verbreiteten Kinderbibeln, die von Anne de Vries (1955), erreichte bis 1988 eine Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren.
[39] Beispiel für eine Jugendbibel, die sich einem religionspädagogischen, theologischen und ästhetischen Konzept verdankt: ”Die Nacht leuchtet wie der Tag. Bibel für junge Leute, Konzeption: H. Heller und H. Biesebach, Frankfurt a. M. 1992. Nicht zufällig erscheint diese Jugendbibel in einem Schulbuchverlag und wird im Bereich der EKHN als Konfirmandenbibel benutzt.
[40] T. Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 1991 (1967); vgl. V. Drehsen, Das Jenseits der Gesellschaft, Die Reprivatisierung des heiligen Kosmos, 267. Drehsen kritisiert Luckmanns Geschichtstypologie, stimmt aber seiner Kirchenkritik zu: ”Kirchen stiften nicht mehr ausschließlich allgemeinverbindlichen Sinn…Religiosität ist nicht länger exklusiv an den Bestand der Kirchen gebunden, sondern vielschichtig über die gesamte Gesellschaft verstreut.” (ebd.)
[41] R.Preul modifiziert Luckmanns These und diagnostiziert eine Transformation herkömmlicher Kirchlichkeit, dass sie sich auf die Pflege der privaten Existenz, eines ”regen Lebens in den von institutionellen Handlungszusammenhängen ausgesparten Nischen” (R. Preul, Art Religion III, TRE 28) konzentriert.
[42] Offenbar bildet auch die ”unsichtbare” Religion Sozialformen aus. Und zwar solche, die nicht mehr als religiös (unsichtbar!) identifiziert werden, etwa die Sakralisierung des Subjekts in Familien, Partnerschaften, Köperkult, vgl. T. Luckmann, Die unsichtbare Religion, 181.
[43] F. Wittekind, Kirche oder Kultur? Überlegungen zu Möglichkeit und Rahmen religiöser Interpretation moderner Kunst anhand des Films ”Grüne Tomaten”, IJPT 1999, 160.
[44] D. Rössler, Die Vernunft der Religion, München 1976, 13
[45] Artikulation meint, dass die Bestimmtheit des Heils in Jesus Christus in den symbolischen Formen ausgedrückt, nicht erzeugt wird, v gl. Wendebourg/Brandt, Traditionaufbrüche, 25. Auch Cassirers Philosophie der symbolischen Formen wahrt den Vorsprung des Sinns vor jeder Sinnsetzung. Erkenntnistheoretisch heißt das, daß Sinn in der symbolischen Übersetzung nicht geschaffen sondern fixiert wird. Die ”Grundfunktion des Bedeutens ist selbst schon vor der Setzung der einzelnen Zeichen vorhanden.” (vgl.M. Moxter KaL 96). Insgesamt geht es in der Kultur um die Beziehung von Gegebenem und Aufgegebenem, einer anschaulichen Sinndarstellung und einem unanschaulichen Sinnfaktor, wobei gerade nicht der Sinn das Gegebene ist, sondern das Aufgegebene. Gegeben ist die symbolische Form als ein historisch zeitliche Sinndarstellung. (vgl. M. Moxter, KaL 86).
[46] Hubert Knoblauch, Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse, in: T. Luckmann, Die unsichtbare Religion, 7-41
[47] Vgl. die Studie der VELKD mit dem treffenden Titel ”Traditionsaufbruch” hrsg. v. D. Wendebourg u. R. Brandt, Hannover 2001
[48] H. Barz, Religion ohne Institution? Jugend und Religion I, Opladen 1992, 61 bietet ein Schaubild aus der Studie von Schmidtchen von 1979. Eine kontinuierliche Abnahme der Bindung an Kirche bei Jugendlichen diagnostiziert auch die Shell-Studie (Opladen 200, Bd.1, 180) ”Gottesdienstbesuch, Beten und Glaube an ein Weiterleben nach dem Tod sind seit Mitte der 1980er Jahre bei deutschen Jugendlichen in den alten Bundesländern deutlich zurückgegangen.” Ebenso mit Hinweis auf Daiber sieht Knoblauch (Verflüchtigung 1991, 23) eine generelle Abnahme der Kirchenverbundenheit ”Ein guter Teil selbst der konventionellen Forschung bestätigt eine anhaltende Tendenzen der Loslösung von der institutionellen Religion. Der Kirchenbesuch nimmt ebenso kontinuierlich ab wie das Interesse an kirchlichen Fragen. Nur die Kirchenaustritte nehmen zu.” Kritisch schätzt V. Drehsen (Art Sozialisation (religiöse), in: LexRP II, 2009-12) die Sozialisationsfähigkeit der Kirche ein.
[49] Vgl. F. Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion. Religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter, Gütersloh 41999, 181-185.
[50] U. Schwab, Familienreligiosität. Religiöse Traditionen im Prozess der Generationen, Stuttgart 1995, 280.
[51] Man könnte mit V. Drehsen (Art Sozialisation LexRP) von einem Auseinandertreten von Primär-Sozialisation (weil in Primärgruppen wie Familie, Clique) und Sekundär-Sozialisation reden.
[52] U. Schwab, Familienreligiosität, 1995, 279.
[53] Die Studie der VELKD, “Traditionsaufbruch” (hrsg. v. D. Wendebourg u. R. Brandt, Hannover 2001, 10) erwähnt kontinuierliche Strukturen, welche die „familiäre Sozialisation stützen“ sollten, wie Kinderbibelwoche, Kindergottesdienstes, Tauferinnerungsgottesdienstes. Diese Gottesdienstformen werden allerdings zunehmend als Familien– nicht als Gemeindefeiern verstanden, vgl. P. Höhmann, Kirchliche Bindung und Schließungsprozesse, in: Fremde Heimat Kirche, Beiträge und Kommentare hrsg. v. J. Matthes, Gütersloh 2000, 174.
[54] H.-O. Wölber, Religion ohne Entscheidung. Volkskirche am Beispiel der jungen Generation, Göttingen 1959, 198
[55] U. Schwab, 1995, 279
[56] F. Schweitzer, Lebensgeschichte und Religion, Gütersloh 1999, 182
[57] F. Schweitzer, 1999, 183 eine Formulierung M.J. Langevelds aufgreifend. Zu Langevelds Religions-Pädadgogik ”Kind und Religion”, vgl. Lachmann, Art Kind TRE 18, 166f.
[58] Biblische Geschichten haben sich, wie etwa die klassischen Heldensagen des Altertums, tief ins Gedächtnis der Menschheit eingegraben. Sie sind ist deshalb Teil eines kulturellen Erbes, das Kinder nicht vorenthalten werden darf. Die Bibel als Kulturgut, dieses Motiv notiert auch Reinmar Tschirch in der ehemaligen DDR: ”An einem heißen Sommertag am Strand der Insel Rügen im Strandkorb gegenüber – dort liest ein Schulmädchen. Und sie liest in einer Kinderbibel. ´Mir sind ja nicht in der Kirche´, sagt mir die Mutter, ´aber die Bibel ist ja Kulturgut.` Und sie gesteht, dass auch sie, der die Geschichten in der Bibel nicht vertraut sind, gern in der Kinderbibel ihrer Tochter liest.” (Reimar Tschirch, Biblische Geschichten erzählen, Stuttgart, 1997, 15). Welche Kinderbibel das Kind in der DDR liest, wird von Tschirch nicht erwähnt. Die Christenlehre in der DDR knüpfte an katechetische Kinderbibeln der bekennenden Kirche an und entwickelte sie weiter. (Walter Zimmermann, Die Christenlehre, 1949; Biblische Lesebücher: Maria Poetschke/Herwig Hafa, Das Wort läuft; Bilderbibel in phantastischem Realismus von Horst Bartsch, Von Gott erzählen (1985), vgl. C. Reents, Art Kinderbibel TRE 18,178 u. 181).
[59] So der Frontspitz der Kinderbibel von Anne de Vries: ”Die Worte der Heiligen Schrift von Anne de Vries für Kinder erzählt, Konstanz, 1964, 2
[60] Hübners Haus- und Schulbibel (1714) stellt in seinem Vorwort das Einverständnis zwischen Autor und dem Hamburger geistlichen Ministerium dar. Die Kinderbibel gehört in dem Zusammenhang des ordentlichen Katechismusunterrichts in Haus und Schule und will den Katechismus nur durch Exempel aus den Biblischen Historien ergänzen. Hübners Moralische Zusätze werden ausdrücklich als Schrift- und Bekenntnisgemäß verteidigt (vgl. C. Reents, Hübner, 47).
[61] Diese Tendenz zeigt sich bereits bei Schnorr von Carolsfeld, der sein Aufgabe in der ”religiösen Menschenerziehung” sah, und zwar ”im Kleinen und außer dem Gotteshause”, vgl. C. Reents, Die Bibel in Bildern, in: Kinder- und Schulbibeln, 1999, 19.
[62] J. Hübner, 2mal52 Biblische Historien, Leipzig 1714, Vorrede (vgl. auch Reents, Hübner 44).
[63] J. Assmann führt die Bedeutung der konnektiven, generationsübergreifenden und identitätstiftenden Erinnerung vor (Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 1997, 15f.) am Beispiel der Liturgie des Sedermahls, dieser Belehrung jüdischer Kinder über den Auszug aus Ägypten, vgl. Dt. 6.20; Ex 12,26; Ex 13,14; Ex 13,8.
[64] J. Hübner „Ein jedwedes Kind hat von seinem Schöpfer empfangen erstlich ein Gedächtnis, dass es etwas auswendig lernen kann…“ Bibl. Historien, Vorrede, bei Reents, Hübner 43. Es folgen noch Verstand und Wille.
[65] M. Luther, Passional 1529, Vorwort. Worte und Werke Gottes kann man synästhetisch vor Augen, Ohren etc. halten “davon singet und saget, klinget und predigt, schreibet und lieset, malet und zeichnet.” Luther verteidigt sich dann gegen Einwände der “Bilderstürmer” mit dem Hinweis, er habe immer “Misbrauch und falsche Zuversicht an bilden” verdampt, aber “zu nützlichem und seligem brauch” die Bilder stehen lassen.
[66] Bibel für Kinder in deutscher und russischer (!!!) Sprache, Erlangen (1990), 31993
[67] Bei Erb soll die Lehre zum inneren Erleben werden. Davon zu unterscheiden ist die Gattung der Biblischen Spruchbücher “als Ergänzungen zum KlKat, um die Kenntnis des christlichen Glaubens durch Merkworte und Beweise zu festigen” (C. Reents, Art Kinderbibel TRE 18, 177). Biblischen Erzählungen dagegen verbinden beides, Lehre und Erlebnis, Kenntnis (notitia) und Erbauung (fiducia). Sie sind ”Zur Belehrung und Unterhaltung (!) gedacht” ebd. 178), allerdings sind die Erzählungen kein Zweck an sich, sondern unter der Regie der Moral (Lavater, Hebel, Anne de Vries) oder der Lehre (katechetische Kinderbibel, Erb) oder beidem (Hübner).
[68] Dt 6,6+7 ”Und diese Worte [Das: Höre Israel], die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen” vgl. 11,18. J. Assmann (Das kulturelle Gedächtnis, 1997, 212) bezeichnet das Deuteronomium als ein Paradigma kultureller Mnemotechnik.
[69] Jörg Erb. Schild des Glaubens, Lahr 601993. Vgl. Goethe, Dichtung und Wahrheit, I/1, 43 ”die Lehre [des kirchlichen Protestantismus] konnte weder der Seele noch dem Herzen zusagen.”
[70] Die Alternative, ob Illustrationen von Kinderbibel entweder autonome Kunstwerke oder ”Bildungsmittel…des sittlichen und religiösen Lebens” sind, wie dies Schnorr von Carolsfeld, Reprint Ausgabe Zürich 1972, S. VII (zu Schnoor, vgl. C. Reents, KuSch, 15) im Vorwort seiner ”Bibel in Bildern” schreibt, wirkt konstruiert.
[71] Zum Folgenden vgl. E. Herms, Die Sprache der Bilder und die Kirche des Worts, in: Die Kunst und die Kirchen,. 242-259
[72] Das Überlieferungsgeschehen wäre mißverstanden ”wenn man annähme, es ginge dabei nur um einen kognitiven Vorgang” Wendebourg/Brandt, Traditionsaufbruch, 35. Das innere Erleben wird näher hin als Befreiung von a) Schuld und b) Ermutigung und Orientierung verstanden. Christliche Orientierung ist ”Innenleitung des Handelns” bzw. ”Ausbildung innerer Gewißheit” (ebd. 90), welches den Herausforderungen postraditionaler und pluralistischer Gesellschaften gewachsen ist. Innerlichkeit steht also für Überlieferung qua Aneignung, in der die Beziehung zum Glauben nicht mehr qua Tradition, aber auch nicht nur qua Authentizität hergestellt wird.
[73] J. Assmann, Gedächtnis, München 1997, 18
[74] W. Laubi/A. Fuchshuber, Kinderbibel, 1992, 272
[75] R. Bottigheimer, Kinderbibeln als Gattung. Historische und forschungspraktische Bemerkungen zu Gestalt und Wandel einer literarischen Gattung, in: Adam/Lachmann (Hg.), Kinder- und Schulbibeln. Probleme ihrer Erforschung, Göttingen 1999, 231
[76] D. Rössler (GPT 484) bezeichnet es, neben der 1. Verselbstständigung des Religionsunterrichts und 2. Dem daraus erwachsenden Problem einer solche Verselbstständigung tragenden Begründung der Religionspädagogik in einem allgemeinen Begriff von Religion und Bildung, 3.) ”das Problem der Wendung vom vorgegebenen und objektiven Stoff (z. B. Katechismus) zur Orientierung des Unterrichts an der Person des Schülers und dessen Religiosität” als Grundfragen der Religionspädagogik (vgl. außerdem GPT 500).
[77] Medien dieser privaten und familiären Erinnerungskultur sind neben der Bibel und der Kinderbibel die quasi agendarische Ordnung privater Familienfeste, Gedenktage der privaten Familiengeschichte wie Ehe- und Familienjubiläen und Geburtstagsfeiern oder fotographische Erinnerungsstücke aus verschiedenen Stadien der Familiengeschichte (vgl. WOlfgang Steck, Praktische Theologie, Stuttgart 2000, 246f.). Und umgekehrt beeinflußt eine eigenständige private Religionspraxis und ihre biographienahe, an der Individualität der einzelnen Subjekte orientierte Erinnerungskultur die institutionalisierten Formen der kirchlichen Erinnerungspraxis. So ist etwa ”der protestantische Predigtgottesdienst in hohem Maße individualisiert.” Die Predigt hat selten noch die Form einer, an ”die öffentliche Allgemeinheit gerichteten Kanzelvortrags. Sie ist vielmehr als persönliche Anrede an Einzelne gehalten” und kommt erst in subjektiver Aneignung, in der ”Predigtarbeit des Zuhörers…an ihr Ziel.” (a.a.O.316)
[78] Dietrich Korsch, Religion mit Stil, Tübingen 1997, 49
[79] Vgl. V. Drehsen, Reprivatisierung des heiligen Kosmos, 266: ”Sind nicht seit jeher gerade solche Funktionen primär (!) in die Kompetenz der Religion gefallen, die Luckmann mit Stichworten wie Identitätsfindung…soziale Gestaltung von Lebensplan und Daseinsführung anzeigt?”
[80] Vgl. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 222
[81] Variation ist Fortschritt im Selben und entspricht einem weiten Begriff des Institutionellen (nach A. Gehlen). Institution ermöglicht Kontinuität ohne Uniformität, vgl. Wendebourg/Brandt (Tradition, 91-92). Identisches in Form der Variation bricht den Identitätszwang und bedeutet ein Moment von Freiheit, das dem Erzählerischen diesseits bloßer Beschreibung und jenseits einer Konstitution von Wirklichkeit zu eigen ist. So auch H. Blumenbergs Variante der Gewaltenteilungsthese, daß, wer Varianten erzählen kann, dem Absolutismus der Wirklichkeit nicht mehr ausgeliefert ist (AaM, aber wo?).
[82] Darin herrscht Übereinstimmung mit Wendebourg/Brandt (Tradition, 17), auch wenn sie dem Wiederholen, der bloßen Repetition der Überlieferung, auch eine positive Funktion abgewinnen: ”Dies [Überlieferung] geschieht in unterschiedlicher Weise: Einerseits muß das Zeugnis stets in seiner biblischen (kanonischen) Gestalt wiederholt werden, durch Lesen der biblischen Schriften, durch Vorlesen und Rezitieren […] Andererseits erschöpft sich das Überliefern nicht in solcher Wiederholung.”
[83] Um die Unterscheidung von E. Jüngel (Gott als Geheimnis der Welt, 1978, 426) zwischen Wiedererzählen und Weitererzählen auf den Prozess der Erinnerung anzuwenden.
[84] Vgl. E. Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte, 1995,19, der das Religiöse darin sieht, daß es in einem geistigen Akt eine Form eingeht und überwindet.
[85] Kommunikation ist geradezu Inbegriff von Kirche, die ”das Kommunikationsgeschehen (ist), das sich im Rahmen der verschiedenen Organisationsformen der verfaßten und gestalteten Kirche zwischen ihren Mitgliedern abspielt” K. Stock, Tugendlehre, 142.
[86] ”Diese [die Ortsgemeinde] stellt den Kontext dar, in dem sie [die christlichen Familien] zur christlichen Überlieferung beitragen. Nur in diesem Horizont sind die Gestaltung und die Institutionen des christlichen Lebens im familialen Bereich vor einer Privatheit und Beliebigkeit bewahrt, die sie in der Öffentlichkeit irrelevant machen würde.” Wendebourg/Brandt (Hg.), Traditionsaufbruch, 104. Ist Kirche Kontext oder Horizont der religiösen Erziehung der Familien?
[87] E. Herms, Die Sprache der Bilder und die Kirche des Wortes, in: Die Kunst und die Kirchen, 1984, 256. Abenteuer meint nicht subjektives Belieben, sondern ”to put at risk one´s present self-understanding,” D. Tracy, Plurality und Ambiguity.Hermeneutics, Religion, Hope, San Francisco 1987, 16
[88] Wendebourg/Brandt (Hg.), Traditionsaufbruch 2001, 200: “Dieser Zusammenhang der Ebenen und Orte der Überlieferung bildet keine zusätzliche Größe zu den unterschiedenen Ebenen und institutionellen Orten, keine eigene Klammer, die sie äußerlich zusammenhält.”
[89] Wendebourg/Brandt (Hg.), Traditionsaufbruch 93f. gliedern das christliche Leben ebenfalls dreifach wie D. Rössler (GPT), aber anders akzentuiert: 1. Erfahrbare Gemeinschaft in der Lebenswelt (Familie, Gemeinde. Kommune). 2. Gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeit (Kirchenleitung, andere Kirchen, Wirtschaft, Wissenschaft , Medien) und 3. Persönliches Leben des Einzelnen (Amtshandlungen und andere Formen individueller Frömmigkeit?).
[90] W. Lück/F. Schweitzer, Religiöse Bildung Erwachsener. Grundlagen und Impulse für die Praxis, Stuttgart 1999, 77: „kirchliches Christentum ohne Bezug auf Individuum und Gesellschaft wird steril – individuelles Christentum ohne Bezug zu Kirche und Gesellschaft wird privatistisch.“
[91] M. Moxter, KaL, 312. Auf die Formel der „Permanenten Variation“ bringt es Wendebourg/Brandt, Traditionsaufbrüche, 91
[92] Barbara Cratzius, Colin u. Moira Maclean, Die Baby-Bibel, Augsburg 1996. Der Text lautet: „Bau´ ein großes Schiff“, sagte Gott zu Noah. Noah gehorchte ihm. „Nimm deine Familie und von allen Tieren ein Paar mit hinein“, sagte Gott. Der Regen rauschte herab, vierzig Tage und vierzig Nächte. Gott aber beschützte alle Menschen und Tiere in der Arche.“
[93] D. Henze/R. Meier, Ich bin für dich da. Allererste Geschichten aus dem Alten Testament, München 2000.
[94] Vgl. R. Bottigheimer, Gott in Kinderbibeln. Der veränderliche Charakter Gottes, in: G. Adam u. R. Lachmann (Hg.), Kinder- und Schulbibeln. Probleme ihrer Erforschung, Göttingen 1999, 90-102. Die in modernen Kinderbibeln vorherrschende ”neue Sanftheit” Gottes formiert sich im 19. Jahrhundert und blendet alles Irritierende wie Zorn und Strafe aus der Darstellung Gottes aus. Programmatisch äußert sich in diesem Sinne Albert Ludwig Grimm (Geschichten der Heiligen Schrift für Knaben und Mädchen erzählt, Heidelberg 1817; Bottigheimer, 95), der die Bibel für „das merkwürdigste Buch” hält, das wir haben und das für Kindern, ohne eine Auswahl der für sie geeigneten Geschichten unverständlich sein muß. Unverständlich ist für Kinder ist nach Grimms Meinung alles ”Grausame und Ungerechte”. Grimms Auswahl von Geschichten aus der Heiligen Schrift für Knaben und Mädchen von 1817 läßt deshalb alles Unnötige und Unverständliche, also Zorn und Strafe Gottes weg, um so die Kinder ”von der Güte Gottes” zu überzeugen. Die Tendenz zur idealisierenden Besetzung der Gottesposition greift nach Bottigheimer Motive aufgreift, die schon Comenius verfolgte: der lieber Gott als Erzieher der Menschen und göttlicher Pädagoge (deshalb kommt erst am Schluß von Orbis sensualium pictus, Die Vorsehung Gottes u. Das Jüngste-Gericht, 308-310. Zu Comenius, vgl. Lachmann, Art. Kind, TRE 18, 163). Comenius eröffnet der Erziehbarkeit des Kindes Raum, indem er Schöpfung und Gottes Ebenbildlichkeit zu den pädagogisch maßgeblichen theologischen Loci erklärt. Die ”neue Sanftheit Gottes” setzt sich in modernen Kinderbibeln durch. Zum Kanon der Kinderbibel gehört heute die Geschichte vom verlorenen Sohn, nicht aber Abraham und Isaak auf dem Berg Morija. Und wenn doch, dann nur in einer Fassung, die ,wie bei Anne de Vries, keinen Zweifel an der Güte Gottes läßt. ”Gott hat alles gut gemacht”, so ihr abschließender Kommentar.
[95] Etwa Isaaks Opferung oder den Kindermord zu Bethlehem.
[96] ”Wer also behauptet, religiös zu sein, muß aus seiner Religion einen Glauben ableiten können, der dem Kleinkind in Gestalt des Urvertrauens weitergeben kann.” E. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M. 1998, 75. Vgl. F. Schweitzer, 219, Hinweis auf Erikson und basic trust bei Lachmann Art Kind TRE 18, 169.
[97] Der Typ des pater aeternus als machtvoller Greis in antikem Gewand wie ihn Schnorr von Carolsfeld in der Nachfolge Rafaels geprägt hat und der noch im ”Gottesbüchlein” von Ernst Veit (Erster Unterricht im christlichen Glauben (Gottesbüchlein), München, 21935 (1933), 3 Abd. 5) als alter Mann mit langem Bart auf einer Wolke eine eher bedenkliche Wirkung auf kindliche Gemüter ausübte, sucht man in modernen Kinderbibeln vergebens..
[98] F. Schweitzer LuR 216ff. Hinweis auf Erikson, A. Vergote, H. Kohut. ”Frühe Erfahrungen stehen in einer nicht aufzulösenden Spannung – zwischen Grundvertrauen und Grundmißtrauen, Geborgenheit und Verlassenwerden […] Psychologisch gesehen geht beides in das Gottesbild ein, das Gefühl der Geborgenheit wie das des Verlassenwerdens […]”. So auch Erikson, der von einem relativen Gleichgewicht zwischen Urvertrauen und Urmißtrauen spricht, wobei ein mehr an Vertrauen günstigere Ausichten für die Bewältgung von unvermeidlichen Lebenskrisen bedeutet. Vgl. Erikson, Idenität und Lebenszyklus 69. Ebenso Schweitzer LuR 232: Bei den für die Entwicklung des Gottesbildes kritischen vier Zeiten (frühkindliches, ödipales, privat-offizielles und adoleszent Gottesbild bestehen die beiden Gefahren darin ”daß ein lähmendes und bedrohliches Gottesbild entsteht oder daß die religiöse Erziehung an den Erfahrungen…der Kinder und Jugendlichen vorbeigeht.”
[99] F. Schweitzer (LuR, 71) nennt gegenüber der Festlegung auf kindliche Schuldgefühle im Bild eines allwissenden Vatergottes nicht nur psychoanalytische Einwände Freuds, sondern auch theologische Gründe, ”auch die Theologie muß vom christlichen Verständnis Gottes als Liebe her eine solche Festlegung ablehnen.”
[100] Beispielhaft ist hierfür das zweifache Umarmen [enankalizomai] der Kinder durch Jesus in Mk 9,36 u. 10,16
[101] So äußert sich Nipkow, Bildung, 300: ”In dieser Spannung [zwischen ganzheitlicher und aufklärerischer Seite der pädadogischen Hilfe zum Glauben] gilt unverrückbar ein Maßstab: Gelingt es, die Liebe Gottes, den Inhalt des Evangeliums, auf pädagogischem Wegen so zu verdeutlichen, daß dieser Sinn in befreiender Klarheit als wahr erfaßt wird.”
[102] E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen1978, 429
[103] Das Stichwort fällt schon bei Goethe, Dichtung und Wahrheit I/1, 34: ”das allzu leichte, und durch Predigten und Religionsunterricht sogar trivial gewordene Neue Testament […] konnten uns [Kindern] kein Interesse geben.”
[104] Vgl. Nipkow (Bildung 298) ”Kinder wachsen immer noch mehr oder weniger mit der Rede vom >lieben Gott< auf, in wie verblaßter Form hierbei auch das Evangelium aufscheinen mag.” Nipkow sieht das Problem weniger in der Trivialisierung (verblaßt), sondern in der Theodizee ”>Gott ist Liebe<…scheint das Leben zu widerlegen.” (Ebd.)
[105] Anneli Baum-Resch, KuSch, 265. Baum-Resch sieht die Alternative zum ”Märchenbuchliebergott” darin, daß auch die schmerzlichen Erfahrungen, die Menschen mit Gott machen, hervorgehoben werden.
[106] Vgl. Ricoeur, Die Kritik des Idols führt zum Symbol, außerdem Tillichs Unterscheidung von idolisierenden und symbolischen Gebrauch der Symbole; bei Schweitzer, Lebensgeschichte, 214
[107] Gott geht nicht auf im subjektiven Erleben. Er ist daher in Geschichten von Gott nur angedeutet, aber nicht eingeholt ”Gottes Sein als Geschichte läßt sich zwar durch Geschichten andeuten, aber doch nicht einholen.” E. Jüngel, Gott als Geheimnis, 428)
[108] F. Schweitzer, LuR 213. Auch Erikson spricht aus psychologischer Sicht von Reifung und Entwicklung , weil die Balance von Urvertrauen und Urmißtrauen kein stabiler Zustand ist, der ”für neue Konflikte von innen und Änderungen von außen unangreifbar sei.” Identität und Lebenszyklus 69. Es ist die Entwicklung einer als grundlegend gedachten Struktur. Deshalb kann Härle (Dogmatik, 514) Erikson Urvertrauen bei allen Unterschieden als Interpretament für die grundlegende Erfahrung des Glaubens, also als Vertrauen auf Gott, ansetzen. Zum Problem des transzendentalen Charakter quasi apriorischer anthropologischer Grundbegriffe, vgl. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 298.
[109] So warnt Michael Roth im Blick auf W. Elert davor ”mit Hilfe des Offenbarungsbegriffs die Irreduzibilitäten der unterschiedlichen Weisen der Gegenwart Gottes zu überspielen.” Und er empfiehlt von ”Gottes Gegenwart in der Schöpfung, im Gesetz und in seinem Handeln in Jesus als dem Christus diejenigen Widerfahrnisse zu unterscheiden, in denen Gott schlechthin verborgen ist, die völlig bezuglos (!) zu der Erfahrung des vergebenden Handelns Gottes in Christus stehen.” (Michael Roth, ZThK 2/2001, 229). E. Jüngel dagegen will die Unterscheidung von deus absconditus und revelatus nicht als eine, Gottes Offenbarung problematisierende verstehen. Absonditus ist Gott ”als bei sich selbst seiend” in seiner ”allmächtigen Freiheit”, revelatus als ”zum Menschen kommenden” in ”überströmender Liebe”, beides aber ist im dreieinigen Gott ”ursprünglich beieinander”, vgl. E,. Jüngel, Quae supra nos, nihil ad nos, Entsprechungen 227.
[110] Vgl. K. E. Nipkow, Bildung Gütersloh 21992, 271
[111] Die religiöse Subjektivität ist bei allem Recht, ihre eigene religiöse Anschauung zu bilden, gleichwohl keine Form der ”organisationslosen Selbstdurchsetzung”, sondern zu ihrer Realisierung immer schon auf eine Institution verwiesen, vgl. E. Troeltsch, Soziallehren, 980.
[112] Vgl. E. Herms, Die Sprache der Bilder, 253. Qualitätskriterium jeglicher Darstellung ist ”die Entschiedenheit […] durch signifikante Variation von Gewohntem eine individuelle Darstellungsintention der intersubjektiven Teilhabe zugänglich zu machen”
[113] Die Diagnose der Religionssoziologie über die zunehmende Privatisierung der Kirche enthält auch den Hinweis, sich der veränderten Bedeutung der Familie für die Überlieferung des Glaubens bewußt zu werden. ”Einerseits versammelt sie [Kirche] ein Relikt der traditionellen Religion […] Andererseits zeichnen sich immer deutlicher in den Kirchengemeinden Konturen neuer Sozialformen von Religiosität ab. […] Das Augenmerk ist dabei radikal auf den privaten Lebensbereich gerichtet;” V. Drehsen, Die Reprivatisierung des heiligen Kosmos: Peter L. Berger und Thomas Luckmann, in: Karl Wilhelm Dahm/Volker Drehsen/Günter Kehrer (Hg.), Das Jenseits der Gesellschaft. Religion im Prozess sozialwissenschaftlicher Kritik, München 1975.
[114] ”Das Christentum (als Kirche) vertritt die Einsicht, daß die Bestimmung des Menschen nicht auf die Lebensgestaltungen begrenzt ist, die der Mensch seiner Welt zu geben vermag.” D. Rössler, Vernunft der Religion, 1976, 75.
[115] F. Schleiermacher, Der christliche Glaube, Berlin § 3.1. (18302) 1960, 15. § 3: Die Frömmigkeit, welche die Basis aller kirchlichen Gemeinschaften ausmacht, ist rein für sich betrachtet weder ein Wissen noch ein Tun, sondern eine Bestimmtheit des Gefühls oder des unmittelbaren Selbstbewußtseins.”