Dietrich Korsch, Christusbild – Menschenbild

Geschätzte Lesedauer 20 Minuten

Von Prof. Dr. Dietrich Korsch

Ersetzt die Kunst die Religion?

„Das Eindringen von abstrakter Malerei in kirchliche Räume stellt die Kirche vor ein Problem, das sie kaum bewältigen kann.“ So lautet der erste Satz in Horst Schwebels Dissertation „Autonome Kunst im Raum der Kirche“ aus dem Jahr 1968. Um die seinerzeit artikulierte Irritation zu begreifen, sind zwei historisch-systematische Erinnerungen nötig, die ich im ersten Teil dieses Vortrags benennen will. Daraus wird der hohe Anspruch moderner, insbesondere abstrakter Kunst hervorgehen, der die Kunst als Konkurrentin der Religion erscheinen läßt. Im zweiten Teil werde ich dann zeigen, daß es gerade dieser Anspruch ist,  der die Kunst über die Abstraktion hinaustreibt – und die Konkurrenz zur Kirche verschärft, indem nun auch noch das Christusbild autonomer Gestaltung unterworfen wird. Eben dadurch aber – und das ist der letzte, dritte Teil – wird die Deutungskompetenz der Theologie noch einmal besonders herausgefordert.

1. Das Bild und das Absolute

Die lange Debatte um die Rolle der Bilder im Christentum hatte, trotz aller Differenzen, doch immer die Unterscheidung offengehalten zwischen Gott als dem ganz und gar Undarstellbaren und den anschaulichen Bildern. Die Befürworter einer Verwendung von Bildern im Kultus konnten für ihre Position ins Feld führen, daß sich doch Gott selbst in Jesus Christus verendlicht und damit veranschaulicht habe. (1 Ikone) Die Gegner eines Bilderkultes waren der Auffassung, daß sich gerade das Göttliche in der Gestalt Jesu dann auch wieder der Anschaulichkeit entziehe, woraus sie den – ebenfalls nachvollziehbaren – Schluß ableiteten, auf Bilder Christi müsse grundsätzlich verzichtet werden (und dann auch auf Bilder der Heiligen, die nur aufgrund ihrer Teilhabe an Christus religiös belangvoll sein konnten). Bilderfreunde wußten um die hinter den Bildern eigentlich wirkliche Wirklichkeit Gottes; hofften aber eben darum darauf, daß diese durchaus durch die Bilder wirksam werde.  Bilderfeinde wußten, daß dieser Unterschied der Wirklichkeitsebenen sich doch auch am Bild bewähren müßte, also eine Kritik des Abgebildeten selbst einzuschließen hätte; doch kann diese Kritik angesichts der religiösen Hochschätzung der Bilder im Kult kaum mit der Verehrung zugleich artikuliert werden. Daß Bilder – allenfalls – verehrt werden können, daß aber nur Gott allein angebetet werden darf – das war die Formel, die den Gebrauch der Bilder, wo er denn erlaubt war, steuerte.Weil aber Bilder doch immer als Abbilder des Undarstellbaren zu gelten hatten, mußten sie der Anforderung ästhetischer Vollkommenheit in der Darstellung der Person Christi als Spiegel Gottes so weit wie nur möglich entsprechen. Die Einsicht in die Dialektik des religiösen Bildes zwischen unausweichlicher Darstellung und unerschöpflicher Undarstellbarkeit – das ist die erste Erinnerung, die ich geben will.

 1 Ikone

Die zweite Erinnerung ist spezifisch neuzeitlicher Art. Daß Kunst die Vollendung der Philosophie sei, hat der junge Schelling [2 Porträt Schelling] im Jahr 1800 mit Emphase vertreten. In seinem „System des transzendentalen Idealismus“ zeigte er, wie der Geist aus der Natur heraus zu sich selbst kommt; und wie er dann eine Geschichte beginnt, in der er sich selbst darstellt. Zwischen Natur und Geschichte aber – und in pointierter Weise: sie überragend – steht die Kunst. Denn der Künstler ist tätiger Geist, zweifellos. Was er aber schafft, geht über sein Wollen und Vorhaben und Planenkönnen hinaus; sein Werk ist das Kunstwerk, das so dasteht, als sei es „wie von Natur“ geworden. Das Kunstwerk als Einheit von Genie und Natur – das macht die exzeptionelle Position der Kunst aus. Die Philosophie in ihrer dürren Begriffsarbeit kann davor nur andächtig staunen. Und die Religion, die die eschatologische Vollendung erst in einer fernen geschichtlichen Zukunft erwartet, nicht minder.

 2 Porträt Schelling

Damit wird klar: Es ist nicht das Dargestellte als solches, das aufschlußreich ist für die Wirklichkeit des Absoluten. Gar nichts Abgebildetes kann Absolutes vergegenwärtigen. Es ist vielmehr das Kunstwerk als Kunstwerk, das Sinnlich-Präsente als Hervorbringung des Unsinnlich-Genialischen, das uns über uns selbst hinausweist, ja, uns der realen Gegenwart des Absoluten versichert. Man muß schon den gesamten Prozeß der Kunst in den Blick fassen, um das Kunstwerk als Kunstwerk zu verstehen. Man muß den Unterschied kennen zwischen einem Naturphänomen und einem Werk; man muß um die produktive Kraft der ästhetischen Hervorbringung wissen; man muß in der Rezeption darauf eingestellt sein, in der sinnlichen Präsenz der Kunst ihre spezifische Funktion als Vergegenwärtigung des Absoluten zu erwarten. Über eine reine Werkästhetik hinaus, so muß man sagen, kommt der Prozeß der Kunst als ganzer bereits bei Schelling in den Blick.

Eigentümlicherweise war die Zeit für diese Idee noch nicht reif. Schelling selbst hat sie alsbald wieder um ihre Spitze gebracht und ein Absolutes konstruiert, das das Unvorhersehbare, Überraschende, Vielförmige der Kunst abermals philosophisch zähmen sollte. Hegel ist ihm, auf seinen eigenen Wegen, darin gefolgt. Gewiß, die Kunst ist ihm zufolge Gestalt des absoluten Geistes. Aber sie ist es doch in einem weniger entfalteten Sinne als die Sittlichkeit beispielsweise und die Religion, von der Philosophie als dem Selbstbewußtsein des absoluten Geistes ganz zu schweigen. Es hat gut 100 Jahre gedauert, bis die Idee Schellings nicht nur als philosophisches Konzept auftrat, sondern tatsächlich künstlerische Produktion und ästhetisches Verständnis prägte – dann auch in der bildenden Kunst; die Musik war, weil ohnehin nicht auf die Anschauung festgelegt, schneller vorangeschritten, brauchte aber auch noch eine neue Entfaltungsstufe bis zur abstrakten Musik der Zwölftonreihe.  Kurzum: Es bedurfte erst der Enttäuschungen in den Fortschrittserwartungen der Moderne, bis der Eigenwert der Kunst neu geschätzt wurde. Es mußten erst die Kosten der Rationalisierung spürbar werden, um die Schlüsselfunktion autonomer Trans-Rationalität in der Kunst zu gewärtigen.

Es ist die gegenstandsfreie bildende Kunst gewesen, die zu dieser Konsequenz gelangt ist. Die in diesem Sinne „abstrakte“ Kunst ist „autonome“ Kunst – Kunst, die sich selbst, der eigenen schöpferischen Kraft, dem Umgang mit dem Material, der Wirkung des Werkes, den Zugang zum Absoluten zutraut. Die schrittweise Entfernung vom Gegenständlichen vollzieht sich gewissermaßen als Reflexion der Gestaltungstechniken auf sich: das Malen als Malen; die Farbe als Farbe, die Form als Form. Es ist diese positive Selbstbestimmung, die die abstrakte Malerei als autonome verstehen läßt. In der künstlerischen Biographie Kandinskys [ 2 Bilder:  3 Murnau 1908;  4 Schaukeln 1925] und Malewitschs ebenso wie bei Mondrian und Marc, später auch bei Rothko [ 5 Porträt 1939,  6 Nr 11/20, 1949], läßt sich dieses Herauswachsen der künstlerischen Selbstbestimmung mit Händen greifen. Eben die Konzentration der Kunst auf sich selbst, wie sie im abstrakten Bild aufscheint, bringt nun aber eine eigentümliche Korrespondenz zwischen dem Künstler als dem Produzenten und dem Publikum als den Rezipienten ans Licht. Denn das Werk wird nur dann verstanden, wenn dieser selbstreflexive Vorgang, der sich in ihm ausdrückt, nachvollzogen wird. Das gegenstandsfreie Schaffen verlangt gegenstandsfreie Rezeption. Daher die Nähe der abstrakten Malerei zur Mystik, der gegenstandsfreien Vergewisserung des Absoluten in religiösen Kontexten.

 3 Kandinsky,Murnau,1908

 4 Kandinsky,Schaukeln,1925

 5 Rothko,Portait,1939

6 Rothko,11-20,1949

Genau darin aber scheint die Konkurrenz der Kunst zur zeitgenössischen Religion auf, wie sie sich in den Kirchen gestaltet. Im Zuge der Moderne nämlich, insbesondere des 19. Jahrhunderts, hat sich auch die kirchliche Religion gewandelt. Das traditionelle Ineinander von anschaulicher Repräsentanz des Absoluten und endlichen Darstellungsformen verschob sich in dem Maße in Richtung auf eine Behauptung positiver Realität der Religion, in dem die Naturwissenschaft ihrerseits Anspruch auf die Bestimmung der Realität erhob. Damit hat sich ein Realismusanspruch in der religiösen Erwartung aufgebaut und verstärkt, der bis hin zur Konfrontation zwischen Naturwissenschaft und Religion reicht.  Erst dadurch haben die scheinbar vorgegebenen Vorstellungen, mit denen die Religion arbeitet und die sich teils kosmologisch, teils heilsgeschichtlich auslegen, eine dinghafte Härte zugesprochen bekommen, die ihnen in vorkritischer Zeit nicht anhaftete. Daß es Gott „gibt“, daß Christus der Erlöser „ist“, daß die Welt als Schöpfung „dasteht“, daß das Ende der Welt „kommt“ – das werden sozusagen Fakten des religiösen Weltbildes. Daß auch diese Vorstellungen gemacht sind, bleibt dem religiösen Blick verborgen (er interessiert sich auch nicht dafür oder er leugnet es vehement). Die solchem Realismus entsprechenden Wahrnehmungsweisen dieser religiösen Daten reproduzieren sich konventionell; sie stabilisieren sich über existierende Sozialverbünde wie Familien, Kirchengemeinden, stilförmig homogene religiöse Gruppierungen. Sie äußern sich als verpflichtende Glaubensregeln und verbindliche Moralvorschriften. Es kommt mir in unserem Kontext auf die Beobachtung an, daß eine derartige Fassung der Religion eben nicht nur das religiöse Feld bestimmt, sondern auch die ästhetischen Erwartungen. Wer in dieser Weise religiöser Realist ist, wird auch ästhetisch am ehesten einem Darstellungsstil anhängen, der mindestens eine realistische Basis der Religion zu liefern verspricht, von der aus dann vielleicht symbolische oder allegorische Deutungen ausgehen können.

Diese Sicht ist es nun aber, welche die Irritation verstehen läßt, die abstrakte Kunst in der Kirche erzeugt – Schwebels Ausgangsbeobachtung. Denn damit wird dem religiösen Realismus (der, um es noch einmal zu betonen, ein ganz modernes Produkt ist!) die ästhetische Entsprechung der Gegenständlichkeit verweigert. Und dies mit einem dezidiert religiösen Anspruch. [7 Marc, Kämpfende Formen 1914] Franz Marc sagt in „Der blaue Reiter“: „Wohl fühlt man, daß eine neue Religion im Lande umgeht“. (S. 30) Und er spricht explizit von einer „Mystik“, die in den Seelen erwacht sei. (vgl. Schwebel, Autonome Kunst, 16). Insofern kann man nachvollziehen, daß autonome Kunst als Bedrohung des religiösen Weltbildes aufgefaßt wird – gerade dann, wenn sie ihren religiösen Anspruch artikuliert.
Durch diese Bemerkungen zur Dialektik des Bildes im Christentum und zur Autonomie in der Darstellung des Absoluten können wir die Konkurrenz von Kunst und Religion als ein Phänomen des 20. Jahrhunderts besser begreifen, hoffe ich. Ich möchte diese Opposition aber noch weiter verschärfen, bevor ich zur Frage nach der Möglichkeit einer theologischen Deutung der Kunst der Gegenwart komme.

 

 7 Marc, Kämpfende Formen,1914

 

2. Menschenbild – Christusbild

Wenn die Vergegenwärtigung des Absoluten in der Kunst – und zwar genauer: im Kunstprozeß von Produktion, Werk, Rezeption und Kritik – das Signum autonomer Kunst darstellt, dann kann (und muß ?) alles mögliche in diese Funktion einrücken. So sehr der Gegenstandsfreiheit die reine Konzentration auf Farbe und Form in der abstrakten Malerei entgegenkommt: auch da, wo „gegenständlich“ gemalt wird, wird die Autonomie des künstlerischen Prozesses als Maßstab genommen, wenn überhaupt eine zeitrelevante Kunst entstehen soll. Picassos „Demoiselles d’Avignon“ (1907)  [ 8 Bild], das Inititalbild des Kubismus, und Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ von 1913 [ 9 Bild] atmen denselben Geist.

 8 Picasso,Demoiselles

 9 Malevich,black-square

Obwohl alles zur Darstellung gelangen, alles zum Ausdruck autonomer Kunst gereichen kann, so kommt doch der Darstellung des Menschen ein besonderer Rang zu. Denn überall da, wo ein Mensch im Bild erscheint – und genau gesprochen: nur da – haben wir eine Einheit (oder: ein sachliches Kontinuum) von Produzent, Werkdarstellung und Rezipienten vor uns. Es verblüfft dann auch nicht weiter, daß insbesondere am Bild des Menschen die unbeherrschbaren Spannungen auftauchen, die in der Entwicklung der Zeit vor sich gehen. Daß der Mensch Mensch wird – dazu soll eben auch die Kunst dienen, die den Menschen darstellt. Und dies nicht im Modus bloßer Vor-stellung, sondern im Kunstprozeß insgesamt. Erst im Betrachter baut sich auf, was das Kunstwerk ist und aus welcher produktiven Kraft es geschaffen wurde. Beckmanns „Nacht“ von 1918 [10 Bild]  etwa zeigt die Notwendigkeit auf, diesen Prozeß zu durchlaufen, um überhaupt erst im Rezipienten zusammenkommen zu lassen, was im Werk liegen könnte. Dieser Prozeß selbst hat, indem er durch das Zerrissene führt, verbindende Wirkung. Damit aber wird die Kunst gerade im Prozeß der Autonomie zum Äquivalent der Religion. Beckmanns spätes Triptychon von 1949/50 „Argonauten“ [11 Bild] weist schon von der Bildform her auf die religiöse Funktion hin.

 10 Beckmann,Nacht,1918

 11 Beckmann,Argonauten,1948

Die Spezifik dieser durch die autonome Kunst hindurch gehenden Menschenbildung läßt sich deutlich kontrastieren gegenüber der Tradition des Christusbildes – und als dessen Erbe verstehen. Das Christusbild der klassischen Ikone versucht die Reinheit, die Tadellosigkeit, die Idealität des Menschlichen als Spiegel des Göttlichen zu repräsentieren. Nur das vollkommene Menschliche kann auf die Einheit mit Gott verweisen; eben dieses Menschliche aber tritt dem tatsächlich existierenden Menschen als unerreichbares, nur zu verehrendes Ideal gegenüber. [12 Bild Pantokrator] Das Bild selbst repräsentiert die Einheit von Gott und Mensch in der Person  Jesu – und das Bild wirkt eben aus dieser Einheit heraus auf den Betrachter.

 12 Pantokrator

Einen interessanten Übergang markiert Dürers Selbstbildnis in der Manier Christi aus dem Jahr 1500 [13 Dürer Selbstbild 1500]. Man könnte darin bereits die Erhebung des Künstlers in den Rang des Erlösers sehen; also die antithetische Ersetzung Christi durch den produktiven Künstler; doch das wäre vielleicht noch zu harmlos. Die Identifikation des Künstlers mit Christus ließe sich auch – statt sie als Usurpation aufzufassen – als identifikatorisches Hineinschlüpfen in die Rolle des Erlösers deuten. Eher Unterwanderung als Beerbung. Für den Rezipienten gehört ja gerade dazu, die Differenz zwischen dem Künstler und der zitierten Körperhaltung Christi als Pantokrator zu kennen und dadurch mit der Identifikation zwischen Christus und dem Künstler zu spielen. Christus – nun in der Gestalt des Künstlers; der Künstler als Erscheinungsform Christi. Das betrifft die Seite des Produzenten des Kunstwerks.

 13 Duerer als Christus

Der Rezipient sieht sich vor allem in den leidenden und gekreuzigten Christus hinein. Man könnte an der Physiognomie und der Körperhaltung des Crucifixus studieren, was für wen zu welcher Zeit Stellvertretung hieß: Im Anschauen des gebrochenen Antlitzes Jesu sich selbst erblicken, den eigenen Leib im Crucifixus inkorporiert sehen (Lamprechtsburg 1150). [14 Bild] Oder Riemenscheiders Schmerzensmann von 1490/1500 [15 Bild]: Sinnbild des leidenden Menschen, der sich darin aufgehoben findet.

 14 Crucifixus,1150

 15 Schmerzensmann

Nicht an Christus teilhaben, sondern Christus am eigenen Schicksal teilnehmen lassen: das ist die umgekehrte Lesart der Identifikation. Sich selbst in die Christusgestalt projizieren – eines der bekanntesten Bilder, die diese Bewegung zum Ausdruck bringen, ist der Christus mit der Gasmaske von George Grosz [16 Bild]. Von da aus ist der Schritt so naheliegend wie konsequent, die Funktion des Christus ganz im Bild des Menschen aufgehen zu lassen: das Triptychon der Kreuzigung 1944 [17 Bild] geht etwa bei Francis Bacon über in ein soteriologisch aufgeladenes Menschenbild (Three portraits 1973) [18 Bild].

16 Grosz,Gasmaske      17 Bacon,crucifixion

 18 Bacon,Triptychon

 

 

 

Damit bin ich bei dem Ergebnis angekommen, das ich besonders hervorheben möchte: Das Menschenbild als Erbe und Kontrafaktur des Christusbildes. Und zwar so, daß der Gehalt der Rettung des Menschen, wie er im Christusbild symbolisiert ist, nun ins Menschenbild eingeht. Dogmatisch und von außen betrachtet scheint das befremdlich, gar blasphemisch: Ausdruck einer Moderne, der nichts mehr heilig ist. Doch das ist der vergebliche Einspruch des religiös-ästhetischen Realismus. Nimmt man die Zwischen- und Schaltstelle wahr, die in dem Hervortreten des Kunstprozesses als Vergegenwärtigung des Absoluten liegt – erst dann wird die tatsächliche Herausforderung klar: Kunst nimmt auf eigene Rechnung den Platz ein, den Religion als für sich reserviert behaupten wollte.

Es kennzeichnet die Weitsicht Horst Schwebels, daß er das Thema „Autonomie der Kunst“ und das Thema „Christusbild“ miteinander verbunden hat. „Das Christusbild in der bildenden Kunst der Gegenwart“ heißt seine Habilitationsschrift von 1980. Und einer seiner Aufsätze trägt den Titel: „Gibt es ein abstraktes Christusbild?“ (Kunst und Kirche 44, 1981, 23-26) [19 Bild Newman: Kreuzweg Station 5] Einerseits ist es der Impuls der autonomen Kunst, der die Darstellung des Christus prägt; andererseits behauptet gerade beim Christusbild der religiös-ästhetische Realismus seine Ansprüche auf authentische Repräsentation der Religion. Entstellung der Heiligen – oder Transformation des Heiligen: Was liegt hier vor?

 19 Newman,Kreuzweg

Gestatten Sie mir einen kleinen biographischen Exkurs, der doch auch viel mit der Sache zu tun hat. Als ich Ende der achtziger Jahre Pfarrer an St. Jacobi in Göttingen war, gelang es uns, die für die Kasseler documenta zusammengestellte Begleitausstellung „Ecce homo“ in dieser großen gotischen Innenstadtkirche zu zeigen. Der gewiß massivste Eingriff in die Kirche war die Plazierung des riesigen Triptychons „West-Nacht“ (1984) [20 Bild] von Rainer Fetting vor dem erstrangigen spätmittelalterlichen Hochaltar. Der „neue Wilde“, als Spätexpressionist, vor den goldenen Skulpturen [21 Bild]. Die Straßen-Szene statt der Heiligen-Gestalten. Vor dem so verhüllten und verborgenen, aber auch neu belebten Altar fand seinerzeit dieEinführung des damals neu berufenen Landessuperintendenten Rolf Koppe statt. – Ich glaube nicht, daß wir wußten, was wir taten. Wir hätten es gar nicht tun können ohne die emphatische Zustimmung des Kirchenvorstandes, der sich anrühren und aufregen ließ von der Wirkungskraft neuer originaler Kunstwerke. Wir haben den durch die Ausstellung verfremdeten Kirchenraum dann ganz normal in Gebrauch gehabt – als wäre ein Windstoß durch die Kirche gegangen, der alles herumwirbelt, nichts auf seinem Platz läßt und dennoch überraschende neue Ordnung erzeugt, ungeplant und unbeherrschbar. Wir haben Künstler und Kritiker eingeladen zum Gespräch, auch Interpreten wie Horst Schwebel und Andreas Mertin. Haben wir diese Bewegung der Kunst wieder domestiziert im Kirchenraum? Oder haben wir sie zu einer eigentümlichen Geltung kommen lassen, indem wir Tendenzen verstärkten, die in der Werken selbst liegen? Haben wir die Konkurrenz von Kunst und Religion entschärft? Oder haben wir die religiöse Dimension der Kunst, gerade am Thema Menschenbild zu erkennen, zutreffend akzentuiert?

20 Fetting,West-Nacht

 21 St.Jacobi,Altar

Doch diese Fragen scheinen noch viel zu harmlos. Daß Abstraktion und Christusbild heute zusammenhängen, das läßt sich noch ganz gelassen behaupten. Denn sie sind doch über Werke vermittelt, die als solches anschaubar und sozusagen an die Wand zu hängen sind (also auch umgedreht oder weggestellt werden könnten). Sehr viel schärfer, greller, krasser und bedrohlicher wird es dort, wo sie dieser Zusammenhang von künstlerischem Prozeß und Repräsentation des Absoluten in Aktion versetzt, wo er rituell aufgeführt wird. Daß es nachgerade eine Konsequenz zu dieser Fortführung gibt, läßt sich mit Gründen behaupten. Denn in diesen Aktionen der Performanz kommen Produktion, Produkt, Teilnahme und Rezeption zeiträumlich so dicht zusammen wie nirgends. Über diese Konsequenz wird Wilhelm Gräb morgen ausführlich handeln. Ich beschränke mich auf ein Beispiel und eine Anmerkung.

Ein besonders eindrückliches, aufregendes, abstoßendes Exempel einer solchen kunstreligösen Aktionskunst war am 19.11.2005 im Wiener Burgtheater zu erleben: Die 122. Aktion von Hermann Nitsch. [22 Bild] Daß hier in die Requisitenkiste der Mythologie gegriffen wird, daß archaische Vorstellungen von Tod und Blut und Leben, von Nacktheit und Gewalt zitiert und gebraucht werden, ist das eine; das ist soweit unoriginell, wenn es auch – für mich – vermutlich jenseits der Grenze des Erträglichen läge. Die Attraktionskraft der Aufführung – bei der übrigens der Künstler der einzige ist, der nicht mit Blut besudelt wird! – ist das andere; die Tatsache der Nobilitierung Nitschs durch den Großen Österreichischen Staatspreis im Herbst 2005 und die Bereitstellung des Burgtheaters für die genannte Aktion, die Bereitschaft aber auch der Mitwirkenden: das ist das Verblüffende. Denn das spricht dafür, daß eben auch der Bereich des Rituellen, des Handlungsbezogenen, als Domäne der Kunst, also als Kunstreligion, gesellschaftlich akzeptiert wird. Zweifellos wird die Anhängerschaft Nitschs nicht über den Status einer Sekte hinauskommen; aber daß ein solches kunstreligiöses Sektenwesen auch da, wo es kaum noch esoterisch-kulinarisch genossen werden kann, auf Resonanz stößt: das zeigt die neue Dimension der Kunstreligion an. (Sehr viel gemäßigter übrigens wirken, jedenfalls auch mich, die Werke, die sich aber vermutlich nicht solchen Aktionen verdanken, wie dieses Schüttbild, das ein Bluthemd darstellt [23 Bild]).

 22 Nitsch,Akt.122,Burgtheater,11-05

 23 Nitsch,Bluthemd

Allerdings zeigt sich dabei, das ist meine Anmerkung dazu, auch eine eigentümliche Dialektik. Einerseits drängt die Einheit von Abstraktion und Absolutem in die Aktion; insofern stellt die Performanzkunst eine konsequente Weiterentwicklung der Moderne dar. Andererseits aber wird erkennbar, wie schwer der Weg zu finden ist zwischen biederem Kitsch (Volkstanz in der Kirche) und grenzverletzenden Aggressionsritualen. Ich sehe mich nicht in der Lage, diese Bewegung (jetzt schon) zu kommentieren. Daß es sich um eine massive Herausforderung der Religion handelt – das dürfte aber außer Frage stehen.

3. Der Konflikt der Deutungen

Zur autonomen Kunst im Horizont des Absoluten gehört die Deutung mit hinzu. Ohne den interaktiven Prozeß von Produktion, Produkt oder Handlung, Kommentar und Kritik kommt die Kunst überhaupt nicht zur Wirkung. Der Reiz der Aktionskunst liegt gerade in der Verdichtung dieser Dimensionen des Kunstprozesses. Insofern – und das ist in dieser Schärfe zweifellos neu – wird die Rezeption (und das Verständnis, das sich mit der Rezeption verbindet) bewußt Teil der Kunst. Indem die Kunst Deutung provoziert, kommt sie erst zu sich selbst. Indem Deutung vorgenommen wird, vollendet sich das Kunstwerk im Rezipienten.

Nun impliziert der Vorgang von Deutung freilich auch, daß die (impliziten) Maximen des Kunstschaffens und die Kriterien der Auffassung der Geschaffenen keineswegs eo ipso übereinstimmen. Im Gegenteil, man muß gerade darum mit einer Differenz rechnen, weil und damit der Prozeß der Kommunikation durch Kunst und über Kunst so zustandekommt, daß eben divergente Perspektiven aufeinanderstoßen und damit der Anstoß der Kunst verarbeitet werden kann. Produktionsperspektive und Rezeptionsperspektive verhalten sich dabei auf eigenartige Weise asymmetrisch zueinander. Einmal muß das Produzierte die Rezeption anstoßen; ihr also nicht nur Material liefern, sondern auch Aufforderungssignale senden. Umgekehrt freilich ergeben sich die Prinzipien nicht allein aus dem Akt der (nämlich dieser) Rezeption. Sie sind teils erfahrungsgesättigt durch andere, frühere Rezeptionen, teils besitzen sie transzendentalen Status (daß wir also um das Schöne wissen müssen, um Schönes als solches empfinden zu können). Die spannende Frage ist in diesem Zusammenhang, woher die Kategorien der Beurteilung entspringen; oder, etwas weniger anspruchsvoll formuliert, mit Bezug worauf sie ihren Urteilscharakter begründen.

Die grundsätzliche Differenz zwischen Produktionsintention und Rezeptionsmuster weist bereits auf die Grenze hin, die der Deutung gesetzt ist, welche Künstler ihrem eigenen Werk angedeihen lassen. Horst Schwebel hat schon 1979 eine Reihe von äußerst aufschlußreichen Gesprächen mit Künstlern geführt („Glaubwürdig“, München 1979). Sie werfen, selbstverständlich, ein interessantes Licht auf Lebensläufe und Selbstbilder. Hinsichtlich der Werkdeutung freilich macht sie die Befangenheit der Perspektive  sichtbar.

Joseph Beuys beispielsweise [24 Bild] erläutert in diesem Band die religiöse Grunddimension seines Werkes. Etwa in dem Satz: „Das einfach Anschauen eines Menschenantlitzes ist schon in sich etwas Sakramentales“ (27). Daß diese spirituelle Strömung dann als „Christussubstanz“ oder „Christusimpuls“ benannt wird (31), daß der Mensch als „eine Art Gott“ verstanden wird (37) – das ist dann sozusagen die künstlerische Privatmythologie des Joseph Beuys. Und die braucht man nicht zu kennen, um von dem „Blitzschlag mit Lichtschein auf Hirsch“ (1985) [25 Bild] ergriffen zu werden – oder sich von „Zeige deine Wunde“ betroffen zu finden [ 26 Bild] . Selbst wenn man – als Theologe – der religiösen Selbst-Deutung zustimmen möchte, die Beuys gibt: die religiöse Qualität der Werke ist nicht von der vorgängigen Deutung durch den Künstler abhängig.

 24 Beuys

 25 Beuys,Blitzschlag

 26 Beuys,Wunde

Diese Unabhängigkeit zeigt sich in dem genannten Band mit Gesprächen, die Horst Schwebel geführt hat, ex negativo am Beispiel von Dieter Wellershoff, dem vor wenigen Wochen verstorbenen Schriftsteller und Literaturwissenschaftler[ 27 Bild]. Wellershoff, der akribisch genaue, bis ins Schmerzhafte hinein fest-stellende Autor, sieht sich selbst als religionslosen Realisten. Seine ideologische Auffassung ist, daß es mit dem Christentum insbesondere und mit der Religion insgemein im wesentlichen vorüber sei (132). Die Literatur übernimmt dann, gerade im Sinne des Wellershoffschen Realismus, in säkularisierter Form deren Rolle: „Die Theologie hat ja heute Schwierigkeiten, von Himmel und Hölle zu reden. Ich finde, es ist heut vor allem Sache der Literatur, die Dimensionen von Himmel und Hölle offenzuhalten, sie anschaulich und erkennbar zu machen, allerdings als innerweltliche Zustände.“ Das sollte man einmal machen: Himmel und Hölle als innerweltliche Zustände beschreiben! Es könnte sein, daß die uns gewohnten mythologisch-religiösen Begriffe auf einmal eine neue Kontur bekommen, die gerade ihrem religiösen Verständnis  weiterhilft.

Was diese kleine Gegenüberstellung der Selbstdeutungen von Beuys und Wellershoff zeigt, läßt sich negativ so sagen: Kunst ersetzt Religion nicht aus sich, als sei das ein quasi selbstläufiger gesellschaftlich induzierter Vorgang. Es kommt vielmehr auf den Deutungszusammenhang an, in den Kunst eingerückt wird. Und was diesen Deutungshorizont angeht, sind die Künstler gegenüber den bloßen Rezipienten keineswegs privilegiert. Es könnte sogar sein, daß diejenigen, die (früher hätte man gesagt: als Genies) in einem Wirkzusammenhang des Schaffens stehen, auch darum weniger gut urteilen können, weil sie gar zu nah an den Werken stehen. Und daß es umgekehrt durchaus eine Kompetenz der Zuschauenden gibt, ihr Urteil zu formulieren – im Zusammenhang der Wahrnehmungen im Schaffensprozeß und im Werk und der Deutungserfahrung über das jeweilige Werk hinaus. Künstler müssen sich nicht selbst kommentieren; Kritiker müssen nicht auch Künstler sein.

Interessant ist nun aber die Frage, woher die Kriterien des Urteils erwachsen. Das ist besonders dann eine durchaus schwierige Frage, wenn den Kunstwerken im Kunstprozeß zugemutet und zugestanden werden soll, daß es sich um kategorial unableitbare Produktionen des Absoluten handelt. Denn damit ist doch gesagt, daß sich ein Urteil über Kunst weder aus der moralischen Integrität des Künstlers noch aus seinem moralisch guten Wollen, weder aus der Gegenstandstreue der Abbildung noch aus dem akademischen Traditionsbezug des Werkes fällen läßt. Vielmehr ist der Entdeckungscharakter des Werkes selbst zu würdigen: daß es etwas – in dem Prozeß der Kunst, den ich hier immer mitzuhören bitte! – zum Vorschein bringt, das es in dieser Weise, als diesen Ausdruck noch nicht gab. Daß darin sein Reichtum besteht, sein Anstoß, seine Verstörung, seine Kraft.

Wenn das gilt, dann haben wir einen ersten und entscheidenden Schritt voran getan. Wir wären uns nämlich derjenigen Deutungsperspektive inne, aus der am Ende jede Deutung entspringt, sofern sie nicht nur Vorkommendes in vorhandene Raster einordnet. Deutung entspringt zuletzt einer Art von Teilhabe am Absoluten, einem Innewerden, das seiner Wirklichkeit gerade im deutenden Austausch gewahr wird. Es dürfte sich übrigens zeigen lassen, daß dieser Sinn von Deutung genau auf der Linie liegt, die sowohl Friedrich Schlegel als auch Walter Benjamin für die Kritik in Anspruch genommen haben. Daß Schlegel etwa der Auffassung ist, Kritik diene der Verbesserung der Kunst, kann nur aus einer – wie immer gebrochenen – Teilhabe am Absoluten hervorgehen, deren die Kunst ja nicht weniger (eher intensiver) inne ist.

Das Absolute in der Kunst – das ist durchaus eine Beschreibung, die dem Selbstbewußtsein der modernen Kunst eigen ist,auch wenn sie (aus Gründen, die wir sahen) es anders formulieren würde. Das Absolute in der Kunst – das ist dann auch ein impliziter Maßstab der Kritik. Freilich: Einer, der sich nun gerade nicht positivieren läßt über moralische Werte und ästhetische Konventionen. Die Struktur zu akzeptieren vom Absoluten in der Kunst – das führt gerade den Konflikt der Interpretationen herauf. Der besteht dann freilich nicht im Krieg der Feuilletons (den es auch immer gibt); der Konflikt der Interpretationen wird dadurch sachhaltig, daß sich unterschiedliche elementare Erschließungsformen der Präsenz des Absoluten aufdrängen, so daß verschiedene, keineswegs einfach miteinander kompatible Urteilsanleitungen, Geschmacksgewichtungen, Basisdifferenzen ergeben, aus denen dann die konkreten Urteile geschöpft werden. Diesen Sachverhalt kann man sich schon ganz schlicht dadurch vor Augen führen, daß man verschiedene, methodisch stringente, aber inhaltlich gegensätzliche Interpretationen desselben Kunstwerks (im Kunstprozeß) nebeneinander hält. Sie werden, obwohl sie das je anders ausdrücken, doch immer ein „Qualitätsurteil“ treffen, das seine Gültigkeit aus nichts anderem herkommen sieht als aus der absoluten Präsenz im Werk und Prozeß.

Wenn man nun aber mit einer – durchaus sachgerechten! – Pluralität von Kategoriensystemen als Hintergrund derKritik rechnen muß, dann kann auch die christlich-religiöse Erschließungsform eines solchen Urteilszusammenhangs nicht dekretorisch von authentischer Kunst-Interpretation ausgeschlossen werden. Für die christliche Religion gilt ja insbesondere, daß sie die Vergegenwärtigung des Absoluten im Menschen Jesus von Nazareth wahrnimmt; nicht nur in seinem Leben und in seiner Verkündigung – sondern auch im Sinn seines Todes, dessen definitive Gültigkeit in die Verkündigung seiner Auferstehung gefaßt worden ist. Erst diese Erweiterung macht die Kunde von Jesus zur Begegnung mit Gott. Gott wird darin erkannt als derjenige, der sich selbst in der Endlichkeit des Menschenlebens präsent macht, um dessen Brüchigkeit anzunehmen und anzuerkennen, dieses Leben damit aber auch zu einer Versöhnung leitet, die die Qual seiner Endlichkeit in die Anerkennung seiner Grenzen transformiert. Das ist es, was den christlichen Glauben als eine Bestimmung humaner Existenz prägt, die das ganze Leben durchdringt.

Es kann nicht ausbleiben, daß diese Grundfigur – die man selbstverständlich noch erheblich erweitern müßte – auch die kritischen Urteile über die Kunst prägt. Nun ganz und gar nicht – bitte! – in dem Sinne, als sei mit der Jesus-Geschichte ein narratives und ikonographisches Ideal aufgestellt, das es nun ästhetisch abzuarbeiten und durchzuführen gälte. Wohl aber wird eine Urteilsfähigkeit generiert, die sich an den künstlerischen Präsenzen des Absoluten im sinnlich Erscheinenden erfreut – und sie danach befragt, ob und wie der Verweisungszusammenhang zum Absoluten und zu anderem mit und neben sich gestaltet ist. Denn so wie der religiöse Akt in differenzierender Einheitsbeziehung zu Gott steht, so auch alle Kunst im Verhältnis zum Absoluten. Kommt dieses Verhältnis von Einheit und Differenz an den Tag – oder nicht? Das, so scheint mir, ist die Grundidee einer religiösen Kunstkritik, die nicht einfach positionell-abbildhaft und traditionell-schematisch urteilen will.

Exemplifizieren läßt sich das – jetzt ganz am Schluß – durch einige Hinsichten auf das Menschenbild, sofern es als Erbe des Christusbildes gesehen werden kann. Ich wähle dafür zwei Werke großer deutscher Gegenwartskünstler, die Horst Schwebel nahestehen: Werner Knaupp und Jürgen Brodwolf.

 27 Dieter Wellershoff

[28 Bild Knaupp] 12er-Reihe Lebensspur heißt diese Installation von Werner Knaupp von 1984. Aus gebranntem Eisen sind die 12 Figuren auf dem Boden. Durchs Feuer gegangen, aber nicht untergegangen. Jedenfalls noch als Lebensspur zu erkennen.Die 12er-Reihe läßt an die Stämme Israels denken; an Jesu Jünger auch. Zusammen liegen sie, unterschiedlich in ihrer Restgestalt. Sollen, müssen zusammen wahrgenommen werden. Je tiefer die Wahrnehmung in die Leere der Körper eindringt, um so dringlicher wird der Appell, die Versicherung: was so durchs Feuer gegangen ist, gebrannt hat, das bleibt am Ende übrig. Zu sehen ist nur der – gewalttätige? – Zerfall. Zu spüren, zu hoffen ist: das Gegenteil. Menschenbilder, die Spuren des Lebens werden.

 28 Knaupp,12er-Reihe Lebensspur,1984

Menschenfiguren aus Farbtuben zu bilden, das ist eine oft geübte Technik Jürgen Brodwolfs; die farbentleerte Tube das Material der menschlichen Gestalt. Figuren aus Tüchern formen, das ist eine andere bevorzugte Arbeitsweise Brodwolfs; Leichentücher, denkt man, die aber die Gestalt der Leichname noch erhalten – Formen jenseits der Leere. Stets beeindruckt hat mich eine Installation Brodwolfs aus sechs Kästen: Figurenbeugung [29 Bild Brodwolf]  Ein Weg, der zu Ende geht, eine Gestalt, die immer mehr verschwindet. Das Dahingehen auch noch der in die Tücher gehüllten, von ihnen geformten Gestalt. Dagegen: Figurenentfaltung heißt dieses Objekt in drei Kästen aus dem Jahr 1981. [30 Bild Brodwolf 2]. Hier ist es anders, gerade entgegengesetzt: Die zusammengeknüllte Figur entfaltet sich. Gewinnt ihre Form zurück (oder: eine, die sie noch nie besaß?) Die Ent-Faltung ist aber mit demselben Material gestaltet wie die Beugung. Die Form untersteht der Geschichte, der Geschichte von Leben und Tod, der Geschichte eines Lebens aus dem Tod.

Christusbilder sind beide Werke nicht, weder bei Brodwolf noch bei Knaupp. Aber Menschenbilder, deren ästhetische Wirkung dazu ruft, weiter gedeutet zu werden. Dieser Aufforderung folgend, läßt sich ein Gehalt entziffern, der in die fortgesetzte Debatte um die Wahrheit der Kunst hineinführen könnte. Die These, daß die Kunst die Religion ersetzte, wird sich, so behaupte ich, im Fortgang der Debatte selbst dementieren.

 29 Brodwolf,Figurenbeugung

 30 Brodwolf,Figurenentfaltung,1982

Vortrag als PDF herunterladen

Das Urheberrecht und die Klärung der Bildrechte obliegt dem Verfasser.