BÖHLER & ORENDT – Künstler des Monats Dezember 2017

Geschätzte Lesedauer 3 Minuten


Verloren

Ein paar Meter neben dem Fußweg an der Treppe, die von Rothenburg ob der Tauber zum Wildbad führt, geht man Stufen hinunter – und erschrickt. Zwischen den Bäumen, auf dem von Laub und Efeu bedeckten Boden sieht man ein paar Gestalten. Zuerst drei, vier, dann auch die anderen. Fast möchte man grüßen. Doch niemand bewegt sich. Es stellt sich ein diffuser Eindruck ein. Irgendetwas zwischen Märchenwald und Geisterbahn. Gestrandet im fränkischen Mischwald nahe Rothenburg. Elf Figuren junger Frauen und Männer stehen in Freizeitkleidung mit Handgepäck und Rucksack mitten im Wald.

Tritt man näher, nimmt man teilnahmslose, desillusionierte Gesichter wahr, die sich alle irgendwie ähneln. Ein Mann mit beigem Trenchcoat und schwarzem Hut steht da mit seiner Reisetasche in der Hand. Eine junge Frau hält ihre Hände vors Gesicht und blickt in den Himmel, eine andere mit hellgrünem Mundschutz steht gebeugt und hält ihren Selfie-Teleskopstab in der Hand. Eine Frau mit blondem Haar schaut teilnahmslos vor sich hin auf den Boden. Rucksäcke und Koffer sind abgestellt zwischen den Baumstämmen. Ein Vogel singt.  Der Farbige, an einen Baumstamm gelehnt, wirkt apathisch. Assoziationen stellen sich ein an Expeditionen des 19. Jahrhunderts, die aufgebrochen waren zu den weißen Flecken auf der Landkarte. Nicht alle kamen an. Viele strandeten im Niemandsland und erst viele Jahre später fand man eine Schiffsplanke, einen Blechteller, einen Schuh. Und man versuchte, sich vorzustellen, was geschehen sein könnte.

Doch hier im Wald bei Rothenburg geht es nicht um Historie. Die Figuren tragen die moderne Kleidung junger Leute, die rund um die Welt gleich aussieht. So dass diese Gruppe Verirrter von überall her gekommen sein kann. Da ist ein pinker Rucksack mit Smiley. Ein junger Mann trägt ein Kapuzenshirt in Tigeroptik. Ein rotes Herz prangt auf einem weißen T-Shirt: „I love Tofu“. Wie erstarrt in ihrer letzten Bewegung stehen die Figuren im Wald. Viele Märchen gibt es, die ihre Helden auf der Suche nach dem Glück versteinern lassen.  Die mit Kunstharz überzogenen Kleidungsstücke verleihen die Anmutung eines trendigen Wetlooks. Oder sind  einfach nur nass geregnet? Botschaften auf Sweatshirts und Jacken werden erkennbar: „You only live once“, „sometimes the hardest way ist the right way“, “destination promised land” oder einfach “life is good”. Die optimistisch klingenden Worte stehen in krassem Gegensatz zu Haltung und Gesichtsausdruck der Figuren. Haben diese jungen Menschen sich verlaufen und machen hier Rast, bis es weitergeht? Was lässt sie so betroffen aussehen, was macht sie so traurig?

Für die Deutung der Arbeit von Böhler und Orendt lohnt es, sich mit ihrer Recherche zu beschäftigen. Von der Beobachtung der Touristenströme Rothenburgs ausgehend, stießen sie auf eine Untersuchung, die sich mit Reiseeindrücken vornehmlich asiatischer Touristen in Paris beschäftigt. Kaum angekommen, erleben nicht wenige eine Art Trauma. Desillusionierung und Enttäuschung machen sich breit. Gerade die Touristen, die gut vorbereitet anreisen, die französische Literatur und Bilder der französischen Romantik oder der Impressionisten im Kopf haben, sind maßlos enttäuscht von der hektischen Atmosphäre der modernen europäischen Metropole. Die Vorstellungen im Kopf und das reale Paris lassen sich nicht zusammenbringen. Die Erwartungen zerplatzen an der Wirklichkeit.

Eine der Figuren von Böhler & Orendt wirkt wie eine direkte Umsetzung dieser Paris Untersuchung. „Life is good“  ist auf ihrem schwarzen Kleidungsstück zu lesen. Die Palme mit Insel neben der Aufschrift lässt an die Karibik denken. Doch von der Traumwelt des Kleidungsstücks ist in der Realität keine Spur zu finden. Hier sind nur Kiefern und einheimische Laubbäume. Offenbar besteht ein Spannungsverhältnis zwischen den Wünschen und Vorstellungen, die sich als Zitate auf den Kleidungsstücken der Figuren finden und dem, was wirklich da ist. Daraus ergibt sich die ernüchternde Aufgabe „der Auseinandersetzung mit der Abgefucktheit des Ist-Zustandes“, wie es im Titel der Arbeit heißt.

Text: Christof Hechtel, Referent für Verkündigung mit Medien und Gottesdienstberatung am Gottesdienst-Institut, Nürnberg.

 

Das Unheimliche ist ein prägender Eindruck dieser Installation. Es irritiert der Kontrast von Natur und Künstlichkeit. So unpassend wie Müll im Wald wirken die trashig gekleideten Figurinen, Zwitter zwischen Skulptur und Schaufensterpuppe. Ein Typus, der in Variationen immer wieder begegnet in den Menschenbildern der Gegenwartskunst. Ihre Ungelenkheit zeigt ihr unharmonisches Verhältnis zu sich und zu allem um sie herum und bringt sie in dieser Formgestalt auf eine symbolische Ebene.  Die erzählt von einer zwanghaft reisenden Generation, die auf der ganzen Welt Party und Event erleben möchte und plötzlich  hier im provinziellen Mittelgebirgswald völlig aus dem Tritt geraten ist. Die maskenhaft übertriebene Mimik der Gestalten zeugt von existentieller Enttäuschung,Verzweiflung, Ratlosigkeit, die Körpersprache von einem Schock. Die Utensilien und Wahlsprüche der grellen Jugendkleidung wirken dazu völlig absurd. Ziel und Verheißung sind abhanden gekommen, – Orientierungslosigkeit, die existentielle Verunsicherung zur Folge hat. Sie sind Stellvertreter für einen Zustand, in dem der unhinterfragte, selbstverständliche Weltzugriff  verloren gegangen ist.

„Sehnsuchtsorte“ lautete der Titel des 9. Kunstsymposions der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern, in dessen Rahmen die Figurengruppe „Ruhe auf der Flucht vor der Auseinandersetzung mit der Abgefucktheit des Istzustandes” von Boehler & Orendt der Öffentlichkeit übergeben wurde. Es ist die erste Arbeit in einem auf mehrere Jahre angelegten Kunstprojekt „Art Residency Wildbad“. Das Gerüst der Figuren besteht aus Holz und Hasendraht. Darüber wurden die Kleidungsstücke gezogen und dann mit Epoxidharz getränkt. Mittels Beton und Stahlarmierung sind die Figuren im Boden verankert.

Zuletzt war in der DG-Galerie in München eine umfängliche Installation des Künstlerduos zu sehen. Wir berichteten darüber in Heft 2/2017 von „Kunst und Kirche“.

Text: Claudia Breinl/ Fotos: @Böhler und Orendt