Ich möchte Ihnen vorschlagen, dass sie selber einen ersten Schritt tun, um dieses Rätsel aufzulösen. Nutzen sie dazu ihre Bildung, ihre Fähigkeit zur Imagination. Sich ein Bild machen von einer Sache, sich im Thema zu orientieren, eine Vorstellung von der Aufgabe zu gewinnen und von den Mitteln sie zu lösen, dass alles sind Grundformen einer imaginativen Bildung – über die sie alle verfügen.
I. Vorspiel: Bildung und Barmherzigkeit mit Stil
Meine rechte Hand:
a) Bildung: Ich mache mir ein Bild von meiner Vision
Ich stelle mir, nach dem, was mir ihre Superintendentin, Frau Schmid, von ihnen erzählt hat, dass jeder von ihnen in dieser Stadt Lüneburg und der umliegenden Region Verantwortung trägt. Manche von ihnen hauptberuflich, andere nebenberuflich, manche ehrenamtlich, manche von ihnen haben einen sehr anstrengenden Beruf, ein großes Amt in der Verwaltung, der Industrie, der Bildung, der Kirche, andere eine kleines, aber mitunter ebenso anstrengendes, wieder andere haben sich nur auf bestimmte Zeit engagiert.
Aber jeder von ihnen, in welcher Verantwortung er auch steht, hat einen Vision, einen Traum, was sich in seinem Beruf, in seinem Amt in diesem Jahr 2008 positiv entwickeln könnte und sollte.
Eine solche Vision ist eine ungeheuere innere Ressource – für sie als ehrenamtliche Mitarbeiter, als Politiker, als Lehrende, als Beamte, als Selbstständige, als Pastoren und Pastorinnen. Ohne solche „Visionen“ wären sie nicht geworden, was sie jetzt sind. Ohne eine Vision könnten sie nicht leisten, was sie in diesem Jahr leisten wollen.
Was ist ihre Vision für 2008? Was soll sich 2008 in Lüneburg entwickelt, an dem Ort, wo sie etwas gestalten können, in der Schule, bei Ma Donna, in der Verwaltung, in der Kirche, im Jugendhaus, in diakonischen Einrichtung, im Seniorenheim, im Betrieb und Unternehmen, im Sportverein, im Kindergarten, im Krankenhaus, in der Selbsthilfegruppe?
Denken sie einen Augenblick darüber nach. Bilden sie sich: Machen sie sich ein Bild von ihrer Vision. Und dann halten sie ihre Vision fest – mit ihrer rechten Hand.
Meine linke Hand:
b.) Barmherzigkeit: Wie kann ich dir helfen?
Doch nun haben sie ja noch eine Hand frei. Eine Hand, mit der sie noch etwas anderes anpacken können. Und deshalb wenden sie sich ihrem Nachbarn zu. Die Rechte hält nach wie vor die eigene Vision fest, aber die Linke ist weit geöffnet.
Zuwenden heißt zum einen, dass es für diesen einen Augenblick nichts Wichtigeres auf der Welt gibt als ihren Nachbarn, ihre Nachbarin, ob sie einander bekannt sind oder nicht. Zuwenden heißt zum anderen: Sie schenken ihm oder ihr etwas sehr Wertvolles, ihre Zeit und ganze Aufmerksamkeit.
Und nun fragen sie einander: Was ist deine (oder ihre) Vision für 2008, die du in deiner Rechten festhältst (oder Sie)? Und wie kann ich dir – mit meiner Linken – helfen deine Vision auch zu leben?
Meine Wahrnehmung:
c.) Gebildetes und stilvoll barmherziges Lüneburg
Was ich von hier oben wahrgenommen habe ist ein „Gebildetes und stilvoll barmherziges Lüneburg“.
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Sie waren gebildet
Sie haben eine Vorstellung von ihrer Aufgabe für 2008 gebildet, die nicht einfach wiederholt, was schon ist. Das bedeutet ja Visionen entwickeln: Die Wirklichkeit im Horizont ihrer noch nicht verwirklichten Möglichkeiten zu sehen.
Urvisionär und Urträumer in dieser Hinsicht ist Jakob: Ein unscheinbarer Ort in der Wüste offenbart sich in seinem Traum als der Ort, an dem Gottes Himmelsleiter aufruht. Und deshalb sieht Jakob von nun an alle Wirklichkeit im Horizont dieser Vision. In seinem ganzen Tun und lassen steigen künftig die Engel auf- und ab. So weit geht Martin Buber[1], der große Ausleger des Alten Testaments, mit Jakobs Traum von der Himmelsleiter. Es ist nicht der Ort, Bethel. Es ist Jakob selber in dem die Erde mit dem Himmel verknüpft ist. In seiner Seele ruht die Himmelsleiter auf. Und deshalb sieht jeder, der wie Jakob Visionen im Horizont Gottes entwirft, die ganze Wirklichkeit mit dem Himmel durch eine Leiter verbunden, auf der die Engel auf- und absteigen.
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Sie waren barmherzig
Sie haben sich einander zugewendet. Jeder blieb bei sich mit seiner Rechten – das war ihr eigener Traum. Doch was tat er mit der Linken? Er war ganz beim anderen. Das ist ein Wesenszug der Barmherzigkeit: Sich nicht im anderen zu verlieren – nimm deine eigenen Visionen ernst. Aber über den eigenen Träumen den andern nicht vergessen: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
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Und: Sie waren es stilvoll
Auf sehr persönliche Weise haben sie die Regel aufgenommen und diesem Vorgang eine persönliche Note, ihren eigenen Stil verliehen. Stil kommt von Stylos, dem Griffel, mit dem man in der Antike auf Wachsplättchen schrieb. Stil ist also der individuelle Ausdruck, den ein Mensch einer allgemeinen Regel gibt, in diesem Fall den Regeln der Orthographie, des korrekten Schreibens.
Manche haben das getan, indem sie, wie beim Schreiben, die Regeln variiert haben. Auf manche Änderung durch die Rechtschreibreform kann man verzichten – und wird doch noch gut verstanden. Andere haben die Regeln befolgt, aber ihnen ihren persönlichen Ausdruck verliehen durch die Art und Weise wie sie sich ihrem Nachbarn zuwandten, die Mimik, die Körperhaltung, die Handhaltung, die feine Ironie in der Sprache oder der warme Unterton.
Aber jeder war selbst beteiligt und als er oder sie selbst ganz dabei, auch da, wo er sich distanziert und verweigert hat. Damit beginnt stilvolle Barmherzigkeit – sie als persönlichen Ausdruck meiner Zuwendung zu gestalten. Als Minimum: den Scheck am Ende des Jahres für Brot für die Welt persönlich und eigenhändig zu unterschreiben, nicht online mit Mausklick abschicken.
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Und: Sie waren bei all dem nicht zufällig in der Kirche
Denn hier, in dieser wunderschönen St. Johanniskirche, lassen Menschen seit über siebenhundert Jahren ihre Füße auf weiten Raum stellen. Sie entwickeln Visionen für ihr Leben im Horizont Gottes, der Anfang und Ende der Geschichte überspannt. Und sie teilen hier ihre Träume von einem gelingenden Leben, um sie miteinander zu leben – zum Wohle der ganzen Stadt Lüneburg.
II. Visionäre Barmherzigkeit
Barmherzigkeit braucht imaginative Bildung. Eine neue Sicht, die mir vertraute Situationen neu erschließt.
Haben sie einen Traum, eine solche Vision, auch wenn sie an Barmherzigkeit denken? Oder gehört es für Sie einfach zum guten Ton barmherzig zu sein – was ja schon sehr viel wäre?
1. Wie lassen sich Visionen entwickeln?
Wie geht das eigentlich, Visionen entwickeln, auch von der Barmherzigkeit? In einer Synthese von Logik und Kreativität, Methode und Inspiration, so die Antwort eines der führenden Imaginationsforscher in Deutschland, Peter Fauser[2]. Lernen als innere Wirklichkeit. Über Imagination und Verstehen – das ist sein Thema. Fauser ist kein Theologe. Er ist Naturwissenschaftler. Ein Naturwissenschaftler kann ohne Phantasie nichts Neues entdecken, und falls doch, kann er ohne Phantasie wenig damit anfangen. Das kann auch ein Manager, Lehrer, Verwaltungsbeamter, oder Theologe von Fauser lernen. Ohne Phantasie, verbunden mit methodisch-klarem Denken, kommt keiner in seinem Gebiet weiter.
Wie entwickle ich Visionen, auch von der Barmherzigkeit? In den vier Schritten der imaginativen Bildung. Die Schritte haben den Vorteil, dass sie jeder in seinem Bereich anwenden kann. Die führe ich ihnen vor. Dann werde ich versuchen die vier Schritte für eine visionäre Barmherzigkeit zu nutzen. Da ich Theologe bin und Geschichten liebe, erzähle ich Ihnen die vier Schritte in einer Beispielgeschichte:
2. Die vier Schritte der imaginativen Bildung
a. Adam und Eva – Was ist denn das Besondere an mir?
Vorspann:
- Innere Bühne bauen: Stellen sie sich das Paradies vor: Garten
- Die handelnden Figuren aufbauen: Adam, der Mann … Eva, die Frau
- In Szene einführen: Mittagszeit – Mittagsruhe
„Eva – was ist eigentlich das Besondere an mir?“ Adam sitzt missmutig unter einer Palme und stochert mit einem Grashalm in seinen Zehen. „Die Gazelle kann schneller laufen, der Tiger besser brüllen und der Affe kann besser klettern. Was kann ich, was sonst keine Tier kann?“ fragt Adam. Eva denkt lange nach. „Vielleicht besser verdauen?“ sagt Eva. „Ach, was“ brummt Adam, „jeder Ochse kann das besser. “ Vermutlich bin ich noch nicht fertig, denkt Adam, Gott muss mich nachbessern. Und Adam wird ganz schwermütig bei dem Gedanken, dass er halbfertig ist. „Hör auf Adam“, sagt Eva. “Grübeln bekommt dir nicht und mir macht es schlechte Laune. Erzähl mir lieber eine Geschichte.“ Adam erzählt von einem Warzenschwein, das in ein Krokodil verliebt ist. Und die beide können beim Küssen einfach nicht zueinander kommen. Eva muss kichern. Die Tiere, die vorbeigehen, wundern sich. „Menschen“, sagt die Giraffe verächtlich. „Erfinden albernes Zeug und lachen über Dinge, die es nicht gibt als stünden sie ihnen vor Augen.“ – „Was hat denn die Giraffe“ fragt Adam. „Ach lass sie“ erwidert Eva, „Tiere haben eben keine Phantasie“ – „Das ist es“, ruft Adam. „Was?“, fragt Eva. „Na, das Besondere an mir“, erwidert Adam. „Es ist die Phantasie! Sie ist ein Teil der göttlichen Schöpfungskraft. Gott hat sie nur uns Menschen gegeben.“
b. Vier Schritte
Die kleine Geschichte – sie stammt übrigens aus der Sendung „Pinguin, die Sendung mit dem Frack“ im SWR 1 und wurde von Suzanne Bergmann geschrieben[3] – ist nicht nur eine Parabel über dieImagination. Die kleine Geschichte zeigt zugleich auch wie Imagination Visionen erarbeitet:
- Vergegenwärtigung: Abwesende Dinge, Personen und Gefühle werden für mich anwesend – z.B.: Das Paradies, Eva, Adam und sein Frust
- Konflikt: Meine bisherigen Sicht von Gott und der Welt kommt an ihre Grenzen. Z.B. So wie meine Schule jetzt ist jetzt, fehlt noch etwas; oder Adam: Alle Tiere haben etwas Besonderes. Nur ich nicht! Könnte es sein, dass Gott mich halbfertig vergessen hat?
- Experiment: Ich entdecke eine neue Sicht von Gott und der Welt – z.B. Die Phantasie ist das Besondere, damit hat mich Gott ausgezeichnet!
- „Situative Kompetenz“: Die neue Sicht erschließt mir eine vertraute Situationen neu – ich kann anders in ihr handeln, z.B. mich nicht an meinen Defiziten – ich kann nicht so gut brüllen wie der Löwe – sondern an meinen Stärken orientieren – Phantasie ist eine Kraft.
c. Die barmherzige Samariterin Sonja im Film, Lichter von Hans-Christian Schmid.
Sie kennen sicher alle die Geschichte vom barmherzigen Samariter. Jesus arbeitet auch mit den vier Schritten der Imagination, wie ich sie ihnen vorgestellt habe. Er malt seinen ZuhörerInnen…
1. eine abwesende Situation als anwesend vor Augen, so dass sie etwas zu sehen und zu spüren bekommen: Ein brutaler Überfall auf der Straße nach Jerusalem Dann lässt er sie …
2. einen Konflikt spüren. Der homo religiosus, als frommer Priester und als Tempeldiener, das sind Identifikationsfiguren seiner Zuhörer, der Pharisäer, die mit ihm diskutieren. Dann kommt der Samariter, ein Outcast – und nicht die Frommen, sondern der Heide beugt sich zu dem Niedergeschlagenen und hat Erbarmen. Das ist der Konflikt. Die religiösen Gebote, das Doppelgebot der Liebe zu kennen, das ist das eine, aber es in der konkreten Situation, wo ich betroffen bin, auch anzuwenden – gilt hier das Gebot der Liebe? Ist der da auf der Straße denn mein Nächster? – das ist das andere. Und dann …
3. schickt Jesus die Phantasie seiner Zuhörer auf die Suche und lässt sie selbst eine Lösung finden: Wer glaubst Du ist dem Niedergeschlagenen zum Nächsten geworden? Da liegt in der Umformulierung schon ein Vorschlag: Wem ich zum Nächsten werde, der ist es auch. Und dann traut Jesus den Pharisäer ….
4. Situativen Kompetenz zu: Gehe hin und handle genauso!
Aber was heißt das?
Immer wenn jemand auf der Straße liegt und niedergeschlagen wurde, dann muss ich ihm helfen, wenn ich im Geist Jesu handeln will. Das wäre offensichtlich zu einfach. Handle ebenso würden bedeuten: handle genau wie der Samariter. Das wäre eine mechanische Anwendung der Handlungsmaxime des Samariters.
Wir würden aber unter dem Niveau der Erzählkunst Jesu bleiben, wenn wir den Ausgang dieser Geschichte einfach wie ein Ergebnis behandeln, dass wir heute nur noch anwenden müssen. Gehe hin und mach es genauso würden heißen: Tue das Gleiche, Identische, nicht Dasselbe, Ähnliche. Das aber meint Jesus, das Ähnliche, nicht Dasselbe. Urteile selbst in einer Situation, die so ähnlich ist, aberdoch anders, jedenfalls nicht identisch.
Aber wie kommen wir in eine solche Situationsähnlichkeit hinein? Wir kennen doch dieseGeschichte nur zu gut. Wir haben eine lange Geschichte der Barmherzigkeit hinter uns, inklusive der Auswüchse des Helfens, das Helfer-Syndrom, Helfen als verkappte Form von Herrschaft etc. Barmherzigkeit ist vieles, aber sicher kein Abenteuer, auch kein Spaß.
Ich glaube, es geht mit Hilfe der imaginativen Bildung. Und eine ihrer Formen ist der Film, der altbekannte Geschichten so transformiert, dass sie wieder zu unseren Geschichten werden. Das tut jedenfalls ein Film, aus dem ich Ihnen eine kleine Sequenz vorstellen möchte: Lichter von Hans-Christian Schmid[4]. Meiner Meinung nach, bietet er in einer seiner Szenen eine Übersetzung des barmherzigen Samariters in unsere Zeit, so dass wir wieder das Risiko spüren, das in der Aufforderung steckt: Geh hin und mach es ebenso.
Ich möchte Ihnen Sonja vorstellen, eine moderne Samariterin. Sonja arbeitet beim Bundesgrenzschutz als Russisch-Übersetzerin. Beim Verhör mit dem jungen Russen, der gerade illegal über die Grenze gekommen und von den Beamten gefasst worden ist, bekommt sie Mitleid und gibt dem Jungen auf Russisch Tipps, wie er um Asyl nachsuchen soll. Aber der Beamte macht kurzen Prozess: Abschieben nach Polen. Sonja geht nach Hause. Sie steht vor ihrem Auto und will die Tür aufschließen. Da steht plötzlich der junge Russe vor ihr. Er hat sich losgerissen. Sonja hört schon das Rufen der Wachen. Der Russe fleht sie an. “Helfen sie mir, sonst bin ich verloren.” Sonja erstarrt. Da ist die coole Distanz, die sie sich angewöhnt hat, um in ihren Job nicht verrückt zu werden. Und da ist der verzweifelte Blick des jungen Mannes. Mitgefühl und Coolness ringen in Sonja miteinander. Dann ist es zu spät. Die Beamten packen den Russen, reißen ihn zu Boden, fesseln ihn und führen ihn ab.
Dann sieht man wie Sonja in ihrem Zimmer sitzt. Ihr geht die Szene auf dem Hof der Kaserne nicht aus dem Sinn. Sie telefoniert mit ihrem Freund, einem Photographen in Berlin und weint dabei, so als ob sie spürt, dass ihr in diesem Übersetzerjob etwas verloren gegangen ist. Barmherzigkeit ist eine Ressource, die nicht nur dem Gegenüber, sondern auch dem Barmherzigen selbst gut tut.
Schließlich spürt Sonja, sie muss da rüber, nach Sublice und dem jungen Russen helfen. Ihr Freund kommt aus Berlin. Er merkt, dass sie es ernst meint. Er hält die Idee für total verrückt, aber er geht mit ihr, um das Schlimmste zu verhüten. Er findet den jungen Mann als erster und gibt ihm Geld, damit er sich einen Schlepper mieten kann und Sonja keine Dummheit macht. Ihr Freund ist der Anti-Samariter. Er meint es gut mit Sonja, aber vor allem meint er es gut mit sich. Der Schwindel fliegt auf, weil der Russe sich in Sonjas Wagen versteckt hat. Die beiden trennen sich im Streit und Sonja schmuggelt den jungen Russen allein über die Grenze.
Alles geht gut und sie fährt mit von Frankfurt/oder nach Berlin. Als sie ankommen ist es schon Nacht. Beim Potsdamer Platz will er plötzlich ziemlich unvermittelt aussteigen. Plötzlich hat es der Mann eilig. Er bittet Sonja anzuhalten. Er steigt aus. Sonja ist verwirrt. Warum hat er es plötzlich so eilig? Er bedankt sich und verschwindet.
„Scheiße“, sagt Sonja als sie daheim ankommt und ihre Tasche im Wagen sieht. Die wertvolle Foto-Ausrüstung ist weg. Man sieht dann noch die jungen Russen mit Sonjas (oder die des Freundes?) Kamera den nächtlichen Potsdamer Platz photographieren.
Was hat sich im Film im Vergleich zum biblischen Original bei Lukas verändert? Das Leben scheint seit den Tagen Jesu komplizierter geworden zu sein. Bei Jesus trifft der Samariter auf dem Rückweg einen Menschen an, der seinem Retter vermutlich dankbar ist. Zumindest wird er ihn nicht beklauen. Nicht so das Opfer, dem Sonja hilft. Kaum hat sie den jungen Russen gerettet, da wendet er sich gegen sie und bestiehlt sie. Spricht das dagegen, heute noch ein Samariter zusein? Sollen wir uns nicht mehr von der spontanen Warmherzigkeit, die Jesu vorlebt, anstecken zu lassen, weil wir heute damit rechnen müssen, dass unsere Barmherzigkeit schamlos missbraucht wird? Jedenfalls wird so die Frage nach Barmherzigkeit wieder spannend.
III. Wo stehen wir heute mit der Barmherzigkeit?
a. Historisch
Klaas Huizing vertritt im Anschluss an Max Polenz die These, dass das Christentum eine Kultur der Barmherzigkeit bis hinein in die Körpersprache etabliert hat mit der es in der Antike überaus erfolgreich gewesen.
„Das Ende der stoischen Leitkultur … hänge ursächlich mit dem Diakonie-Projekt des Christentums zusammen, also mit der barmherzigen Zuneigung zu den Armen, Alten und Schwachen …“ (K. Huizing[5]).
Es sind die Gesten der Barmherzigkeit, die in der Umwelt für Furore sorgen auch das Bestatten der Toten, ohne Ansehen der Person, die der antiken Umwelt imponieren und den Eindruck hervorrufen, dass das Christentum… „eine viel wirksamere Lebenskunst war als die alte Philosophie. Aus ehrlicher Überzeugung reden die Apologeten stolz davon, dass bei den Christen ein >Neues Leben< herrsche; und namentlich die aus dem Herzen quellende werktätige Nächstenliebe, die den Armen und Kranken, den Witwen und Waisen in ihrer Not beisprang, war wirklich etwas Neues, auch gegenüber der brüderlichen Zuneigung der Stoa“ (Max Pohlenz[6]). Leider habe die früh „einsetzende Hellenisierung des Christentums verhindert, dass diese leibfreundliche Gestenkultur zu einem Markenzeichen ausgebaut wurde“ (Huizing[7]). Hinzu kommt: Die Überschreitung der Stammeszugehörigkeit, und damit Hilfe für jeden Bedürftigen, ist das spezifisch Christliche, wenngleich bei Mt. 25 die Brüder nur die im christlichen Geiste sind, also die genetische durch eine spirituelle Familienähnlichkeit ersetzt wird. Kulturgeschichtlich wird man die Bereitschaft zur selbstlosen Hilfe gegenüber dem Nächsten, ohne Ansehen seiner Person oder Konfession als eine der großen Leistungen des Christentums ansehen dürfen, die sich bis in die Sozialgesetzgebung der modernen Verfassungsstaaten ausgewirkt hat.
b. Gegenwart
Und was ist aus dieser stolzen Idee der Barmherzigkeit heute geworden? Haben wir heute stattdessen eine Krise des Helfens? Jedenfalls ist Barmherzigkeit, die „werktätige Nächstenliebe, die den Armen und Kranken, den Witwen und Waisen in ihrer Not beispringt“, heute weder etwas Neues noch ein selbstverständlicher Wert. Vielmehr muss Nächstenliebe auch gegen Einwände verteidigt werden. Im Wesentlichen sind es drei Einwände:
1. Barmherzigkeit in der Gesellschaft: Psychologisch-soziologisch-biologisch
1. Psychologisch ein Helfer-Syndrom (HS)
– von Schmidbauer stammt der Titel „Die hilflosen Helfer“ (1977) geprägt. Der Syndrom-Helfer hilft anderen, um sich zu helfen, um eigene Bedürfnisse nicht wahrzunehmen und die innere Leere nicht zu spüren.
2. Soziologisch verdeckte Machtausübung
– von D. Stollberg stammt die Formel: Helfen heißt Herrschen (HeHeHe).
3. Sozialbiologisch, dysfunktionale Gegenselektion
– sozialbiologisch, bei Konrad Lorenz und seiner Schule, wird Altruismus als Arterhaltung entlarvt. „Echten“ Altruismus gibt es selten, und wenn, dann ist er dysfunktional, weil er Leben erhält, das ohne diese Hilfe zu Grunde geht und gehen sollte aufgrund der evolutionären Selektion „of the fittest“.
Gegen diese Einwände kann man argumentieren. Kurz drei gegen Argumente für das Helfen:
- Es gibt souveräne Helfer: z.B. Samariter, der abgibt. Helfen darf auch dem Helfer gut tun, solange der Client vor Übergriffen geschützt ist.
- Barmherzigkeit arbeitet gegen die Asymmetrie beim Helfen: Liebe deinen Nächsten und dich selbst.
- Barmherzigkeit sprengt in der Tat die Grenzen der eigenen Gruppe und fragt nur, wer Hilfe braucht. Im Übrigen haben Gemeinschaften, die solidarisch sind, auch noch größere Überlebenschancen.
Aber es gibt noch einen vierten Einwand, der eigentlich überhaupt kein richtiger (diskursiver) Einwand ist, sondern viel mehr ein (ästhetisches) Unbehagen und eine Unlust (Geschmacksurteil):
- Ästhetisch: Barmherzigkeit ist einfach kein attraktiver Lebensstil. Sie macht keinen Spaß und ist extrem uncool.
Woher kommt dieser „Einwand“ und was kann man dagegen tun?
2. Barmherzigkeit in der Kirche
Wie steht es mit der Barmherzigkeit heute in der Ev. Kirche? Die Erwartungen sind jedenfalls sehr hoch, in Ost und West, übrigens auch bei den Ausgetretenen und Konfessionslosen. „Die evangelische Kirche sollte auf jeden Fall Alte, Kranke und Behinderte betreuen“[8]. Diese Aussage bekam bei der letzten Umfrage der EKD zur Kirchenmitgliedschaft von 2006 den Spitzenplatz. Diakonisches Profil rangiert deutlich vor christlicher Verkündigung, also der Erwartung, die Kirche sollte unbedingt die christliche Botschaft weitersagen. Aber wie sieht es mit der Barmherzigkeit bei den Mitgliedern selber aus? Die Mitglieder sind ja sehr verschieden und verschieden ist ihre Einstellung zur Barmherzigkeit. Da hilft die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung weiter. Sie hat die evangelischen Kirchenmitglieder in sechs Milieus aufgeteilt und mit fünf Typen der Kirchenbindung[9] in Beziehung gesetzt.
1. Das hochkulturell-traditionsorientierte Milieu
zu dem 13% der Kirchenmitglieder gehören. Der Altersdurchschnitt ist hier relativ hoch, nämlich bei 63 Jahre. Man ist naturverbunden, pflegt einen konservativen Musikgeschmack und ist sozial engagiert. Barmherzigkeit gehört hier noch zum guten Ton
– 45% Kerngemeinde
2. Hochkulturell moderner Lebensstil.
Altersschnitt 44 Jahre. Eric Clapton und Bach und Spaß. 14 % der Kirchenmitglieder. Lehrer und Pfarrer kommen überwiegend aus diesem Milieus
– 17,5% Typ Kerngemeinde.
3. Das gesellige und nachbarschaftsbezogene Milieu
Das sind 16% der Kirchenmitglieder mit Altersschnitt von 63 Jahre. Traditioneller Normorientierung, also auch Sinn für soziales und ehrenamtliches Engagement. Volksmusik als bevorzugte Musik, Harmoniemilieu
– 27,4 % Typ Kerngemeinde
4. Das unauffällige, sozial sehr gering integriertes Milieu.
16% der Kirchenmitglieder mit einem Altersschnitt von 53 Jahren. Ablehnend gegen Hoch wie Jugendkultur, niedrige Bildung, niedriges Einkommen, wenig soziale Kontakte, konventionelle Werte.
– 4,5 % Typ Kerngemeinde
5. Das Do-it-yourself Milieu.
18% der Kirchenmitglieder mit einem Altersschnitt von 42 Jahren gehören. Es ist ein modernes Angestelltenmilieu, Heimwerker, die Gartenarbeit lieben und diese Haltung mit einem jugendkulturellen Freizeitverhalten verbinden.
– 8,9 % Typ Kerngemeinde
6. Jugendkultureller Lebensstil.
Das sind 22% der Kirchenmitglieder mit einem Altersschnitt von etwa 29 Jahre, das so genannte „Hedonistenmilieu“. Man will seinen Spaß haben, geht viel ins Kino, die Disko,in Rock- oder Popkonzerte. Keine Naturverbundenheit, kaum Nachbarschaftskontakte. Lebensgenuss und Unabhängigkeit, sehr geringes soziales Engagement
– 1,5 % Typ Kerngemeinde..
Insgesamt gehören nur 15,5 % aller Mitglieder zum Typ 1 Kerngemeinde!
Fazit: Barmherzigkeit wird in der Kirche von einer kleinen, aber starken Gruppe (hochkulturell-traditionelles Bürgertum und Kleinbürgertum) als traditionell wichtiger Wert geschätzt, die in der kleinen Kerngemeinde in der Kirche überproportional vertreten sind (70% der Kerngemeinde), obwohl sie nur 29% der Mitglieder repräsentieren.
Darum herrscht in der Kirche, in den Gremien, den aktiven Gruppen und Kreisen zu recht der Eindruck, dass Barmherzigkeit traditionell sehr ernst genommen wird. Aber die zahlenmäßig größte Gruppe der Kirchenmitglieder sind mit 22% die jugendkulturellen Genussmenschen. Sie lehnen dagegen soziales Engagement weitgehend ab und wollen vor allem ihren Spaß haben. Das fällt innerhalb der Kirche nicht weiter auf, weil dieses Milieu nur mit 1,5 % in der Kerngemeinde präsent ist. In der Kirche spiegelt sich damit etwas wieder, was vermutlich ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist: Barmherzigkeit und soziales Engagement wird zum Anliegen bestimmter Milieus. Ganze Segmente der Gesellschaft dagegen, vor allem die der Jugendkultur, verabschieden sich aus der Barmherzigkeit und der Solidaritätskultur. Soziales Engagement ist für Jugendliche und viele junge Erwachsene extrem uncool. Allenfalls etwas für Wichtigtuer oder Außenseiter, aber kein akzeptierter und attraktiver Lebensstil.
3. Zur Barmherzigkeit bei Jugendlichen
Dazu noch einen Befund aus der Jugendshell Studie 2006[10]: Bei der Werteorientierung der 12- 25 jährigen kommt „Soziales Engagement“ an 18. Stelle, mit abnehmender Tendenz seit 2002, von 25 Werten. Platz 1 nimmt Freundschaft und Platz 2 Partnerschaft ein, gefolgt von Familienleben, alle mit zunehmender Tendenz seit 2002. Auf dem letzten Platz (24. und 25.) sind Konformität und Alterhergebrachtes. Bei Jugendlichen, die für sich einen Glauben an einen persönlichen Gott reklamieren, fallen die Wette für soziales Engagement etwas besser aus, 4,7 statt 4,4, und der Wert „Das Leben in vollen Zügen genießen“ ist etwas weniger wichtig, 5,2 statt 5,4 bei einer Skala 1 für unwichtig bis 7 sehr wichtig[11]. Meine Fazit aus dieser Werteliste: Barmherzigkeit assoziieren Jugendliche mit Konformität und Althergebrachten. Soziales Engagement ist auch – sicher nicht nur, blickt man auf die Gegenargumente – extrem uncool, weil es Inbegriff des Konventionellen und Althergebrachten ist und im sozialen Engagement kein individueller Ausdruck, keine Selbsttätigkeit, keine Eigenverantwortung, kein Abenteuer[12] und Spaß, also kein attraktiver Lebensstil möglich ist.
Der Rebell – Charles Baudelaire
Wütend stößt ein Engel wie ein Adler nieder,
Faßt den Schopf des Zweiflers mit den Fäusten, roh,
Schüttelt ihn und sagt: „Du lernst die Regel wieder!
(Ich, dein guter Engel, hör!) Ich will es so!
Lieben sollst du, ohne alle die Grimassen,
Arme, Böse, Toren Krüppel jederzeit,
Dann kannst Jesu du vorüberschreiten lassen
Auf dem stolzen Teppich aus Barmherzigkeit
So ist Liebe! Ehe dein Herz verhärten kann,
Zünd Ekstase neu an Gottes Glorie an;
Das ist Wollust, die beständigen Reiz verspricht!“
Jener Engel, heftig strafend wie er liebt,
Dem Verfluchten seine Faust zu spüren gibt;
Aber der Verdammte sagt stets nur: „Ich will nicht!“
IV. Barmherzig leben – kein „cooler“, ein „heißer“ Lebensstil? Es geht nicht ohne ästhetische Reize auf dem Weg zu einer diakonischen Lebenskunst
a) Barmherzigkeit visionär neu sehen lernen
1. Beispiel: Lichtkunst und Barmherzigkeit – Ein Herz für die Stadt
Der 7. 7. 1207 ist der Geburtstag der heiligen Elisabethvon Thüringen, einer Heldin der Barmherzigkeit. Deshalb war 2007 auch das Elisabethjahr. Gestorben ist sie 1231. In den 24 Jahren ihres kurzen Lebens hat sie in der Tat einen „stolzen Teppich der Barmherzigkeit“ gewoben und sich aufgeopfert in tätiger Nächstenliebe. In Marburg gründet Elisabeth ein Hospital und pflegt hingebungsvoll Kranke und Sieche. Vier Jahre nach ihrem Tod wird Elisabeth heilig gesprochen. Ihr Grab in der Marburger Elisabethkirche wird zum Zentrum einer großen Pilgerbewegung.
7-7-1207 ist aber auch eine Telefonnummer. Wer diese Nummer wählt wird von einer freundlichen Frauenstimme darauf aufmerksam gemacht, dass das Herz leuchtet, solange er in der Leitung bleibt. Wohnt der Anrufer in Marburg, dann sieht er auch, was die freundliche Stimme ihm verheißt. Hoch über der Stadt am Kaiser Wilhelmturm leuchtet bei Nacht eine violettfarbene Blattpflanze mit zwei herzförmig nach unten gebogenen Rauten. Die Künstlerin Helmi Ohlhagen[13] hat das Motiv dem Portal der Elisabethkirche entnommen. Wählt jemand (09005) 7-7-1207 beginnt um die 8 m große Ranke ein rotes Herz zu leuchten und strahlt über der Stadt in den nächtlichen Himmel – bis der Anrufer wieder auflegt. (für nicht Marburger: www.marburg.de/webcam).
Jeder kann sich an dieser Leuchtreklame für die Liebe beteiligen. Das spektakuläre Lichtkunstwerk wirbt mit modernen Mitteln – Neonlicht und Handy – für die uralte Idee christlicher Nächstenliebe, für Elisabeth und ihr großes Herz für Arme und Kranke. Denn das Marburger Licht-Herz bewirkt auch Liebe: Jeder Anruf spielt Geld ein für zwei soziale Projekte. Im ersten Halbjahr 2007 wird eine soziale Einrichtung, Mobilo e.V. unterstützt, im zweiten Halbjahr das Pilgerzentrum der Elisabethkirche. Man konnte das Herz auch für eine ganze Nacht zum Firmenjubiläum oder zur Goldenen Hochzeit als sogenannter Nachtwächter mieten.
Die Marburger Kunst-by-Call hat die uralte Idee der Barmherzigkeit neu gesehen – sie erinnern sich an die vier Schritte von P. Fauser, um Visionen zu entwickeln – Sie haben entdeckt, dass man mit der Lust an der Kommunikation mit dem Handy und dem Spaß an der Ästhetik der Lichtreklame, die den öffentlichen Raum bei Nacht bestimmt, Gutes bewirken kann. Ein Beispiel wie Barmherzigkeit zum „heißen“ Lebensstil werden kann.
Auch andere Städte haben ihre Wohltäter. Lüneburg zum Beispiel ??? Im Jahr 2008 könnte auf dem berühmten schiefen Turm der St. Johanniskirche vielleicht ein Wichern-Kunstwerk-by- Call aufleuchten. Und jeder Call würde einer der diakonischen Einrichtungen oder Ma Donna zu Gute kommen.
2. Beispiel: Von wegen nix zu machen – Werkzeugkiste für Weltverbesserer
Der katholische Pfarrer Franz Meurer, der Kabarettist Jürgen Becker und der Journalist Martin Stankowski haben mit einer Klasse der Köln International Design School ein Buch herausgebracht mit den Titel: „Von wegen nix zu machen – Werkzeugkiste für Weltverbesserer[14]“.
Es sind wunderbar-kreative Ideen, Anleitungen zur Solidarität und Nächstenliebe – die alle Spaß machen. Und zwar weil es Ideen sind, die etwas Unbekanntes an der bekannten Barmherzigkeit sehen, etwas Ungewöhnliches am Gewöhnlichen, etwas Unselbstverständliches am Selbstverständlichen der Nächstenliebe. Ohne solche (ästhetischen) Re-Visionen geht es heute nicht mehr in der Nächstenliebe. Es muss etwas Reizvolles hinzukommen, dann kann auch Gutes tun zu einem Lebensstil werden, der nicht nur Jugendliche begeistert.
Da gibt es z.B.:
– Joseph Beuys Idee der sozialen Wärmeskulptur in Form einer Patenschaft von pensionierten Lehrern, die sie für Kinder mit Migrationshintergrund übernehmen und diese bis zum Abitur begleiten.
– Das gibt die Kölner Designprofessorin, die zum Thema „Provokation und Design“ Puppen mit Behinderungen entwirft, um mit der Integration von Behinderten im Kinderzimmer zu beginnen.
– Oder die Aktion “Kinderkostenlos – Fleischwurst für Kinder“
– Oder die Idee des doppelten Espresso, zwei zahlen, einen Trinken, der zweite für jemand, der ihn sich nicht leisten kann.
Es macht Spaß in diesem Buch zu lesen wie helfen Spaß machen kann.
b) Stilvoll leben – stilvoll glauben?
- Stilvoll zu leben
… hat damit zu tun, die Regeln, die in unserer Gesellschaft gelten, nicht einfach zu übernehmen, weil sie bewährt und anerkannt sind – sondern ihnen eine persönlichen Ausdruck zu geben, sie als individuelle Aneignung und innere Wirklichkeit zu übernehmen. Und dazu muss man Regeln variieren, das Unbekannte im Bekannten entdecken, die Wirklichkeit, wie einst der Visionär Jakob, im Horizont der noch nicht verwirklichten Möglichkeiten sehen lernen.
Wir können nicht zusammenleben, ohne Regeln und Ordnungen, in denen auch die Weisheit der Generationen vor uns bewahrt ist. Dazu gehört auch die kluge Regel, das Doppelgebot der Liebe: Liebe Gott von ganzem Herzen und liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Aber wir können in den bewährten Ordnungen und mit den tradierten Regeln nur lebendig bleiben, wenn wir sie als innere Wirklichkeit übernehmen – und dazu müssen wir sie wieder überschreiten, gleichsam vergessen und für unsere Zeit neu erfunden werden.
- Stilvoll glauben
Und was hat dieses Grundprinzip der Lebendigkeit – ohne Ordnung kein bewusstes Leben, ohne Überschreiten der Ordnung keine Lebendigkeit – mit dem Glauben an Gott zu tun? Schauen sie sich in dieser ehrwürdigen alten Kirche um. Wo wenn nicht hier – allenfalls noch im Theater – ist der Ort für Revisionen? Generationen von Lüneburgerinnen und Lüneburgern haben in dieser Kirche eine innere Mitte für ihr Leben gefunden, zentriert in der Vertikalen, der Beziehung zum Himmel. Hier haben sie gespürt, dass in ihrer Seele eine Himmelsleiter aufruht. Sie haben gelernt wie Jakob zu träumen im Horizont, den Gott aufspannt. Haben Visionen für ein gelingendes Leben miteinander geteilt und miteinander zu leben gewagt: Gebildet und stilvoll barmherzig. Daran haben sie heute angeknüpft – und werden das fortführen, da bin ich mir sicher, zum Wohle ihrer Stadt Lüneburg im Jahr 2008.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit
[1] vgl. M. Buber, Erzählungen der Chassidim, in: Werke Bd.3, München 1963, 560
[2] Peter Fauser, Lernen als innere Wirklichkeit. Über Imagination, Lernen und Verstehen, in: P. Fauser/E. Madelung (Hg.), Vorstellen und Bilden. Beiträge zum imaginativen Lernen, Velber 1996.
[3] Frei nach: Susanne Bergmann, Warum können Menschen nicht fliegen, in: Pinguin, die Sendung mit Frack SWR 1 Stuttgart, 16.7.2000, Folge 323, Frage 1909
[4] Hans-Christian Schmid/Michael Gutmann, Lichter, Claussen+Wöbke 2003. Weitere Filme von Hans-Christian Schmid: Requiem, Nach fünf im Urwald, Crazy, 23, Mechanik des Wunders.
[5] K. Huizing, Ästhetische Theologie Bd. 2. Der inszenierte Mensch. Eine Medien-Anthropologie, Stuttgart 2002, 110.
[6] Max Pohlenz, Stoa und Stoiker, Zürich 1950, XXIVf.
[7] K. Huizing, Der inszenierte Mensch, 111, vgl. dagegen die positive Einschätzung der Verbindung von Christentum und griechischer Antike in Papst Benedikts Regensburger Rede.
[8] KMU IV, 2006, 457 (29/K15). Dem entsprechen hohe Werte bei der Mitgliedschaft;„Ich bin in der Kirche, weil sie viele Gutes tut“ und „weil sie etwas für Arme, Alte und Kranke tut“ (KMU IV, 449).
[9] Vgl. KMU IV. S. 65: Typ 1 ist „religiös und kirchennah“, Typ „Kerngemeindemitglied“. Typ 2 ist wenig religiös und kirchennah. Typ 3 ist religiös und kirchenfern. Typ 4 ist etwas religiös und etwas kirchennah. Typ 5 ist nicht religiös und kirchenfern.
[10] Shellstudie 2006, 177 und 226. Bei H. Barz (Postmoderne Religion. Jugend und Religion, Opladen 1992, 75+76) ist der Befund schon ähnlich: Seltener Nennung altruistischer Wert bei der Umfrage mit Jugendlichen. Selbstlosigkeit kommt in Verbindung mit Helden der Umwelt (Robin Hood, Greenpeace) oder des Sozialen (Mutter Theresa) vor. Soziales Engagement gilt als Wichtigtuerei, Tick. Politik verbinden Jugendliche mit Gefühlen der Ohnmacht („kann man eh nichts machen“), negativen Assoziationen („schmutziges Geschäft“) und steht dem Lustprinzip entgegen („Ich hab was besseres zu tun.“). Theologiestudenten sind die Ausnahme. Sehr hoher Wert beim Motiv: „Ich will anderen Menschen zu helfen“, um Pfarrer zu werden, vgl. Schaubild bei Riess.
[11] Shellstudie 2006, 228
[12] Vgl. Barbara Moschner, Bielefeld, 2002, Was motiviert zum Ehrenamt? Spaß und Abenteuer: Wer Freiwillige für ein Projekt gewinnen will, muss eine Atmosphäre schaffen, in der Menschen freudig und gern in einer Gruppe aufgenommen werden. Der Spaß an der Tätigkeit darf nicht zu kurz kommen. Dieses Ziel kann durch eine Förderung von Selbstbestimmung und Autonomie in den Gruppen erreicht werden. Das Einbringen eigener Vorstellungen und Ideen muss möglich sein. Deshalb sollte es möglichst wenig Bevormundung von Seiten der Institution geben, es sollten keine unnötigen Zwänge aufgebaut werden.
[13] Das Marburger Lichtkunstwerk „Siebensiebenzwölfnullsieben“ von Helmi Ohlhagen mit Texten von S. Kolbe u. C. Lichtenstern, Jonas-Verlag Marburg 2007
[14] F. Meurer/J. Becker/M. Stankowski, Von wegen nix zu machen. Werkzeugkiste für Weltverbesserer, Köln 2007.