Summerschool 2024 „Kunst als Welterkenntnis“
Inge Kirsner
Die Basilika San Giorgio Maggiore (dem Drachentöter Georg gewidmet) gehört zu dem Gebäudekomplex eines Benediktinerklosters, dessen Ursprünge bis in das Jahr 982 zurückreichen. 1565 erhielt Andrea Palladio, der bereits ein Klostergebäude für die Benediktiner errichtet hatte, den Auftrag zum Neubau der baufällig gewordenen Kirche. Erst 1610 war der Bau auch innen vollständig ausgestattet, sodass die Kirche eingeweiht werden konnte. Während der Besetzung Venedigs durch die Franzosen (ab 1797) wurde auch San Giorgio ausgeplündert und die Bibliothek aufgelöst. Die Mönche mussten nach Padua ins Kloster der Kirche Santa Giustina gehen.
In der Kirche sind zwei wichtige Werke von Jacopo Tintoretto (1518-1594). Das „Manna-Wunder“ bzw. der „Manna-Regen“ und das „Letzte Abendmahl“. Beide sind als Raumillusion angelegt, sie erschaffen scheinbar eine weitere Seitenkapelle in der Kirche. Tintorettos Grab ist in der Kirche Madonna dell´Orto zu finden.
Das in der Basilika San Girogio befindliche Abendmahlsbild ist nur eines von mehreren Bildern von Tintoretto zum Abendmahl. In diesem Fall aber stellt Tintoretto den Tisch quer in den Raum und nutzt die Dynamik einer schrägen Perspektive, wen er diese Szene malt. Im Stil der ausgehenden Renaissance, des Manierismus (von maniera: Stil, Eigenart), lehnt Tintoretto die traditionellen Regeln der Renaissance-Malerei ab und bevorzugt eine exzentrische, eigenwillige und persönliche Kunsthaltung.
Zur Künstlerin Berlinde De Bruyckere, die aktuell in San Giorgio Maggiore in Dialog mit dem Bauwerk tritt. Sie wurde 1964 in Gent/Belgien geboren. Sie schafft Skulpturen, Installationen und Zeichnungen, deren zentrale Themen die Verletzlichkeit von Mensch und Natur sind, das menschliche Bedürfnis nach Schutz und Wärme, nach Liebe und Verständnis aber auch die oft brutale Realität, die durch Aggression und Gewalt, Schmerz und Angst beherrscht wird. Dabei zeichnet sich jedes ihrer Werke durch eine inhärente Gegensätzlichkeit aus.
Die Tierhaut, welche die Künstlerin seit Beginn der 1990er Jahre für verschiedene Skulpturen und Installationen verwendet, symbolisieren nicht nur Schutz und Wärme, sondern auch Verletzlichkeit und Angst. Sie scheinen nicht nur Geborgenheit zu schenken, sondern auch ersticken zu können. Die verschiedenen Werkgruppen (oft Figurengruppen, Bäume, Decken, Häute) sind nicht strikt voneinander getrennte, parallel verlaufende Werkstränge, sondern werden von der Künstlerin auch ineinander übergeführt und vermischt und zu neuen Kompositionen zusammengesetzt. Ein Werk scheint das nächste im Ansatz bereits in sich zu tragen oder den Gedanken, der im Vorhergehenden angelegt ist, weiterzuführen und zu vertiefen.
De Bruyckere lässt, anders als ihr Biennale-Vorgänger Sean Cully, die Blickachse vom Eingang auf den Hauptaltar frei. Hier ist die bronzene Kugel des Bildhauers Gerolamo Campagna (1549-1625) zu sehen. Sie zeigt Christus auf dem Erdball, getragen von den vier Evangelisten. Diese golden schimmernde Kugel spiegelt sowohl die Gemälde Tintorettos als auch die in den Seitenkuppeln zu findenden Skulpturen von de Bruyckere wider.
Archangelo I-III (2023-2024): Gesichtslose Engel mit überlangen Gliedmaßen, von schweren Fellmänteln verhüllt, gebaut aus organischen Materialien wie Wachs und Tierhaar. Sie werden gerahmt von einer Reihe von Spiegeln und einer bühnenähnlichen Inszenierung aus hellen Stoffen. Diese Bühne ermöglicht immer neue Blickachsen und Überlagerungen von Bildebenen und Lichteffekten. Statt liturgischer Farben wie Rot, Grün und Violett hat die Künstlerin helle Stoffe gewählt, die sie künstlich gealtert hat, damit sie sich besser in die Aura der Architektur einfügen.
In der Sakristei befinden sich riesige Wachsbaum-Fragmente auf verrotteten Werkbänken. Dort ist auch das manieristische Gemälde „Die Darbietung Christi im Tempel“ von Salviati und Palma di Giovane zu finden, auf dem Engel auf das Kreuz und das künftige Schicksal Christi verweisen. Auch die Baumfragmente richten sich auf bzw. deuten laut der Aussage der Künstlerin auf die Auferstehung Christi. Darauf verweist sie auch in ihrer Materialsammlung, in der ein Bild von einem unbeschädigten Baum in einem zerbombten Ort im Gaza-Streifen zu sehen ist. Neben einem Hoffnungsbild sei dies auch ein Bild der Einsamkeit und der existentiellen Frage, wo und wie wir heute im Leben stehen.
Weitere Aussagen zu den Werkzusammenhängen finden sich in den Vitrinen auf Fotos, Zeichnungen und Zeitungsausschnitten. Die Künstlerin nimmt hier Stellung zu dem, was sie umtreibt und was uns alle beschäftigt: „Kriege, Konflikte, Klimawandel, die Vergänglichkeit dessen, was uns umgibt“. So lautet das Urteil der Rezensentin Petra Schäfer (siehe link: Venedig-Biennale 2024; Weltkunst, Zeit online, entnommen 26.4.2024 unter https://www.weltkunst.de/ausstellungen/2024/04/berlinde-de-bruyckere-venedig): „Berlinde De Bruyckere wirft ihre Fragen mit einer höchst ästhetischen, universellen Bildsprache auf, die interkulturell verständlich ist. Dabei verschließt sie sich nicht der Schönheit, die sie umgibt. Das Licht, das über das Markusbecken und den Kirchenvorplatz bis in die Basilika scheint, erhellt ihre Erzengel immer wieder neu und anders und zeigt den Besucherinnen und Besuchern zahlreiche verschiedene Facetten ihres Œuvres.“
Man mag sich gar nicht vorstellen, dass die „Archangelos“ wieder aus der Kirche verschwinden werden. Die großen, eindrücklichen Gestalten unterstreichen die Größe und Lichtheit des barocken Kirchenraums und bringen die Vergänglichkeit, das große Thema des Barock, auf ihre ganz eigene Weise zum Ausdruck. Ist tot, ist lebendig, was sich unter den Decken verbirgt? Die Spiegel, die sie von verschiedenen Seiten zeigen, vertiefen das Geheimnis nur. Sie spiegeln und brechen gleichzeitig den Kirchenraum, dessen verschiedene Perspektiven niemals ausgelotet werden können. Die Gestalten werden ihr Geheimnis mitnehmen, wenn sie eines Nachts die Decken abwerfen und weiterfliegen.