Bachs Matthäuspassion und ihre Bedeutung für den christlichen Gottesdienst
von Thomas Erne
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Zur Einstimmung: Eingangschor der Matthäuspassion (I.1)
Musikalische Bekenntnisse
Ergriffen zu sein von Musik kennt im Protestantismus kaum eine Grenze. Der Schweizer Theologe und reformierte Protestant Karl Barth gibt ungeniert zu Protokoll: „Ich habe sogar zu bekennen, dass ich, wenn ich in den Himmel kommen sollte, mich dort zunächst nach Mozart … erkundigen würde“; und wie jede ordentliche Liebeserklärung ist Barths musikalische Konfession exklusiv: „In diesem Sinn kann ich mich nur zu Mozart bekennen“ [1]. Singulär ist Mozart für Barth, weil seine Musik für ihn der Inbegriff der Bedeutungslosigkeit ist. Musik, die ausschließlich „spielt“[2], die auf nichts verweist, nichts will, vor allem keine Religion, sie erfüllt das Herz des Theologen und lässt seinen Mund voll des Lobes übergehen. Daher sucht Barth, falls er in den Himmel kommt, nach Mozart. Das schöne Himmelszelt ist nur zu ertragen, wenn zur Entlastung von großer religiöser Bedeutsamkeit Mozarts Musik zu hören ist.
„Ich kann nur über diesen einen Komponisten schreiben…, den ich über alles liebe mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Verstande und all meiner Kraft.“[3] Auch das ist ein musikalisches Bekenntnis. Es stammt aus der Feder eines calvinistischen Protestanten, des holländischen Schriftsteller Maarten ´t Haart. Bis in die Wortwahl ist es der Formulierung im Kleinen Katechismus nach Luther und Brenz nachempfunden mit der die beiden Reformatoren die Quintessenz der zehn Gebote, das Doppelgebot der Liebe, erläutern: „Du sollst den Herrn Deinen Gott lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinem Verstand.“[4] Nur dass der Herr, den es zu lieben gilt, im Fall von Maarten t´Haart nicht der „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs“ ist, auch nicht der Gott „der Philosophen und Gelehrten“[5]. Maarten t´Haarts Herr und Gott, dem sein leidenschaftliches Bekenntnis gilt, ist Johann Sebastian Bach.
In ihren musikalischen Vorlieben hätten sich Barth und t´Haart nicht gemocht. Barth schließt die eingangs erwähnte Himmelszene mit der Bemerkung, im Himmel sei Bach für den Chor der Engel die Pflicht, Mozart dagegen die Kür. Aber in der Struktur ihrer musikalischen Obsessionen gibt es Familienähnlichkeiten. Es ist nicht nur die biografische Stilisierung, die an religiöse Erlebnisse erinnert: „Meine erste Begegnung mit großer Musik – ich muss damals etwa fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein – war meine Begegnung mit Mozart“[6], so Barth. „Ich kann nur über Bach schreiben kann, der mich als Kind mit der Bearbeitung des Chorals „Wohl mir, dass ich Jesum habe“ in seine Obhut genommen hat“[7], so Maarten t´Haart. Auch nicht nur die Exklusivität ihrer Vorlieben, die keine anderen musikalischen Götter neben dem einen duldet, der allein selig macht – Bach ist für t´Haart so singulär, wie Mozart für Barth, für den alle Musik vor Mozart nur Vorbereitung war und alle nach ihm nur Verfall[8]. Was die beiden vor allem verbindet, ist die intime Vertrautheit mit einem dichten theologischen System, das im Hintergrund ihrer musikalischen Konfessionen steht. Bei Barth ist es die kirchliche Dogmatik, in die er sich selbst hineinschreibt, bei t´Haart die strenge calvinistische Orthodoxie seiner Kindheit, der er schreibend und musizierend entflieht.
Bei beiden, so meine These, liegt eine tiefere Ursache ihrer Leidenschaft für die Musik in der sachlichen Notwendigkeit begründet, ein dichtes dogmatisches System wieder zu öffnen, also einen Rückgang zu unternehmen auf der Linie von einer einmal erreichten begrifflichen Bestimmtheit (Dogmatik) zurück zur Narrativität bis hinein in die Ritualität, in die geordnete, ausdrucksvolle, aber inhaltlich vage Unbestimmtheit[9] der Musik. Barth versucht diesen Rückgang, ohne die erreichte theologische Bestimmtheit preiszugeben[10]. Maarten ´t Haart dagegen will das komplette religiöse Gedankengebäude hinter sich lassen.
Beide sind deshalb, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, von der Musik als einer Gegenmacht zur Religion fasziniert. Barth allerdings will die Musik Mozarts in sein theologisches System integrieren[11] als ein Reservoir des Absichtslosen, das keine theologische Rationalisierung erschöpfen kann. Mozarts Musik ist gerade deshalb theologisch relevant, weil sie, nach Barth, keine religiösen Ansprüche erhebt. Daher besteht Barth auch darauf, dass die weltliche, nicht die Kirchenmusik Mozarts theologische Aufmerksamkeit verdient.
Für Maarten t´Haart dagegen ist die Musik Bachs das rettende Ufer auf seiner Flucht aus einer zwanghaften religiösen Erziehung. Er versucht umgekehrt die unleugbare Restreligion in Bachs Leben und Werk in seiner Bachbegeisterung zu marginalisieren. Man kann von Bachs fromm gemeinter Musik ergriffen sein, ohne sie für fromm zu halten, noch es sein zu müssen[12].
Welche Bedeutung hat Musik für die Religion? Die traditionelle Antwort lautet: Musik in der Kirche ist der Gesang, dessen „Grund und Inhalt das Christus Wort“ ist. Musik artikuliert deshalb die Antwort der frommen Gemeinde auf das Hören des Evangeliums. Sie rühmt Gottes großes Taten in Jesus Christus „ … nicht nur Gott zur Ehre, sondern auch dem Nächsten zu Nutz und Frommen“ [13]. Aber diese Antwort, auch wenn sie Bachs Intention in seiner Kirchenmusik trifft, greift zu kurz. Denn die fromme Gemeinde, die das Heilsgeschehen in ihre eigene Innerlichkeit überführen will, und vor allem auch kann, und die Bach für seine Werke voraussetzen durfte, diese aneignungswillige und erlösungsfähige Gemeinde gibt es so heute nicht mehr. Und doch erfreut sich ein Werk wie die Matthäuspassion einer ungebrochenen Beliebtheit. Am Morgen des Karfreitags sind die protestantischen Kirchen halb leer und nachmittags zur Aufführung der Matthäuspassion die Konzertssäle brechend voll. Woran liegt das?
1. Hörbeispiel: Arie des Josef von Arimathia, der dem verstorbenen Jesu sein Felsengrab zur letzen Ruhe anbietet: Mache dich mein Herze rein. Ich will Jesum selbst begraben … Denn er soll nunmehr in mir für und für, seine süße Ruhe haben.“ II, 13 (Nr. 65) und dann Anfang von II, 14 (Nr. 66) „Und Joseph nahm den Leib und wickelte ihn in ein rein Leinwand und legte ihn in sein eigen neu Grab, welches er hatte lassen in einen Felsen hauen…“
Hans Blumenbergs Blick auf die Matthäuspassion
Das Buch „Matthäuspassion“[14] ist eine tiefgründige und leidenschaftliche Auseinandersetzung des Philosophen Hans Blumenbergs mit dem zentralen Thema des christlichen Glaubens, der Passion des Gottessohnes. Blumenberg hätte sein Buch allerdings nie geschrieben, wäre er nicht ein Ergriffener gewesen, ergriffen von der Musik Johann Sebastian Bachs. Anders als Barth und Maarten t´Haart, die aus unterschiedlichen Gründen die Musik als Gegenposition zur Religion schätzen, ist Blumenberg an der Verbindung beider interessiert. Wie gelingt es der Musik Bachs die unter modernen Bedingungen extreme Unwahrscheinlichkeit der Passionstexte, wenn nicht plausibel, so doch erträglich sein zu lassen?
Anders als Barth und ´t Haart ist Blumenberg daher auch nicht an einer Separation von Musik und Theologie interessiert, sondern an dem staunenswerten und unheimlichen Vorgang, wie im Verhältnis von Bachscher Passionsmusik und Passionserzählung eine erneute Rezeption scheinbar obsolet gewordener religiöser Gehalte konstituiert wird. Jedenfalls der neuzeitliche Hörer der Matthäuspassion muss offenbar tief berührt werden von der Musik, sonst beginnen die Texte, die sie umspielt, nicht zu sprechen. Nicht die Musik Bachs[15], wohl aber die Theologie der Passion ist unzugänglich geworden. Jedes Jahr wird vor Ostern in Kirchen und Konzertsälen einer Gemeinde aus gläubigen, zumeist aber ungläubigen Hörern ein Geschehen vorgeführt, dessen entscheidende Voraussetzungen sie nicht mehr teilen- und das sie sich trotzdem gefallen lassen.
Das ist die Situation von der Blumenberg ausgeht: Die theologischen Grundlagen der Passion sind ein Fremdkörper, der sich mit nichts Vertrautem aus dem Horizont der eigenen Lebenserfahrung verbinden ließe. Dieser Bruch liegt nicht mehr innerhalb der Rezeptionsgeschichte christlicher Gehalte. Er betrifft in der Sicht Blumenbergs nicht mehr nur eine der kulturellen Umformungen[16], die den Protestantismus seit jeher begleiten. Es betrifft die grundsätzliche Möglichkeit die Theologie der Passion mit dem neuzeitlichen Bewusstsein in Verbindung zu bringen. Diese Möglichkeit unter gegenwärtigen Rezeptionsbedingungen wiederherzustellen, kann für Blumenberg nur eine Sache der Kunst sein und ihrer ästhetischen Reize, nicht der textkritischen Vernunft, und schon gar nicht eines blinden Glaubens.
Die Musik als Erbin des Rituals
Mühelos lassen sich die wesentlichen Merkmale von Ritualität[17] für die Passionsmusik in Anspruch nehmen. Als musikalische Form stellt die Passionsmusik eine symbolische Bedeutungsordnung[18] dar, ein Spielraum, vergleichbar einer Theaterbühne[19]. Der musikalische Verlauf entwickelt sich entlang der Linie von Ordnung und Spontaneität, Regel und Regelüberschreitung, festen musikalischen Gattungselementen und deren Variation. Es wird in der Passionsmusik eine kunstvolle Dramaturgie gepflegt, die das szenische Potential der Passionstexte wirkungsvoll ausschöpft und ihre Bewegungsenergien[20] freisetzt. Funktional ist der musikalische Verlauf der Passionsmusik auf eine Schwellensituation bezogen[21], die den Tod Jesus der Hörergemeinde zum erlebenden Nachvollzug anbietet, damit sie im symbolischen Mitsterben dieses Todes neu geboren werden[22].
Doch diese Merkmale der Ritualität werden bei Hans Blumenberg von einer pragmatischen Funktion der Musik überlagert, die er in ihrer Medialität entdeckt. Musik ist ein nicht-diskursives Medium. Sie hat keine Gründe für noch gegen sich. Der Musik kann nicht widersprochen, sie kann auch nicht bejaht werden. Insofern können die Fragen nach den Gründen für die Unwahrscheinlichkeit des Passionsgeschehens in ihr weder gestellt noch beantwortet werden. Medientheoretisch erfüllt die Passionsmusik die Funktion ein „Wahscheinlichkeitsverstärker des Unwahrscheinlichen“[23] zu sein.
Erst durch die Musik, so Blumenbergs These, werden daher die Texte der Matthäuspassion und ihre theologischen Prämissen für einen modernen Hörer wieder begehbar. Es ist eine Zugänglichkeit qua Zweifelsresistenz. Eine Qualität der Unbefragbarkeit, welche die Musik den Texten verleiht, jedenfalls solange sie erklingt. Solange können und müssen nicht die Frage gestellt werden, die sich dem historischen Sinn unweigerlich aufdrängen. In diesem Sinn der Unbefragbarkeit „ist die Passionsmusik Erbin des Rituals“[24]. Sie führt die Passion zwar nicht zurück in den kultischen Ursprung, aus dem sie herkommt, aber es gelingt ihr eine neue „Fraglosigkeit“ aus musikalischen Faktoren zu restituieren. Bachs Musik führt den neuzeitlichen Hörer auf die Stufe der Ritualität zurück, „ohne dabei den Zugewinn der Narrativität weder aufzugeben noch daran Hand anzulegen“[25].
Warum aber, fragt man sich, soll das narrative Material der Bibel, das in der Passion eine zentrale Rolle spielt, für das heutige Bewusstsein zugänglich werden? Warum nicht, so wie Maarten ´t Haart, erleichtert den ganzen Komplex an religiösen Fragen und Irritationen hinter sich lassen, getröstet durch den bloßen Klang der Musik Bachs? Wozu soll die Sünde Adams und das Opfer Jesu, wozu das Scheitern Gottes an seiner Schöpfung, warum die Eskalation des Gottesgedankens und seine Destruktion in der Passion seines Sohnes dem heutigen Hörer zugänglich werden? Müsste nicht gerade der Philosoph Blumenberg über diesen Verlust an religiösem Ballast erleichtert sein?
Offenbar macht es gerade für den Philosophen einen Unterschied, ob diese Erleichterung noch am Ort der Passion erlebt werden kann – und dazu müsste sie nachvollziehbar sein – oder ob sie nur das Resultat einer unüberbrückbaren Distanz geworden ist. Kathartische Erleichterung, das alles nicht mehr glauben zu müssen oder genau dort wieder anders glauben zu lernen, kann es nur geben, wenn zuvor das Gewicht gespürt wird, und sei es nur hypothetisch, was es bedeutet haben mag, an den Gott der Matthäuspassion Bachs zu glauben. Deshalb ist es ein Gewinn nachzuvollziehen, wie es gewesen sein muss, an diesen Gott zu glauben, der mit Blumenbergs Worten, die für uns abgelegenste Voraussetzung erfüllt, nämlich zutiefst beleidigt werden zu können durch die Menschen. Dann erst kann auch die Erleichterung gespürt werden diesen Gott nicht mehr zu haben, oder aber einen anderen Gott, so wie er sich im Durchgang durch seine Passion erst zeigt.
Der beleidigte Gott
Nach Blumenberg ist eben dies die Ausgangsthese der Passion, so wie sie Bach und seine Hörergemeinde verstanden haben, die Auffassung, dass Gott durch die Sünde des Menschen beleidigt und durch das Opfer seines Sohnes versöhnt werden kann. Genau dieser beleidigte Gott kann nicht „aus den Prämissen des Werks exstirpiert werden“. Müsste es dabei bleiben,wäre die Passion für den neuzeitlichen Hörer verloren, jedenfalls für den Hörer, der nicht bereit ist seinen Verstand dem Glauben einfach zu opfern. Dabei spielt die Frage, ob der moderne Hörer „einen Gott hat oder nicht“ kaum einen Rolle gegenüber der entscheidenden, ob er unter diesen Bedingungen überhaupt „noch erfassen kann, was es bedeutet würde einen zu haben“[26]. Genau diese Möglichkeit einer obsolet gewordenen Idee für den gegenwärtigen Hörer zu vergegenwärtigen, erschließt die Passions-Musik. Sie lässt die Zumutung des Textes, seine extreme Unwahrscheinlichkeit, nicht glaubhaft erscheinen, aber erträglich sein. Solange die Musik wirkt, solange in ihr etwas zu spüren, zu erleben ist, eine Emotionalität, ein Leiden und eine Leidensverzweiflung, die den Zuhörer ergreifen und bis in seine eigen Körperwahrnehmung, seine Gesten und seine Haltungen verwandeln kann, werden die kritischen Fragen überhört, die sich der Vernunft sonst unweigerlich aufdrängen. Die Musik ist Anwalt eines Subtextes, der zwar in den Passionstexten gespeichert ist, den diese aus sich und ohne die Hilfe der Musik aber nicht mehr freisetzen können. In Begriffen gegenwärtiger Medientheorie: Die Passionsmusik ist eine audio-visuelle Reinszenisierung, welche die biblische Szene in ihrer emotionalen Dramatik zu neuer Wirksamkeit für den modernen Hörer bringt.
Worin besteht nun dieser Text im Text? Nach Blumenberg ist es der spezifische Leidenston der Bachschen Passionsmusik, sein Realismus, mit dem er das Leiden, die Konkretheit des Schmerzes zum Tönen bringt. „Bach ist groß, weil er diese Zentrierung [auf das Kreuz] an sich genommen und zum Tönen gebracht hat“[27]. Bachs Musik ist in diesem Sinn konkreter Leidensausdruck und damit anti-doketisch, und zugleich anti-dogmatisch, nämlich individueller Ausdruck und nicht Begriff des Scheiterns Gottes. Man begreift durch die Musik nicht, warum dieser leidet, sondern man leidet mit. Es ist also der Leidensausdruck in der Musik, die Blumenberg zu seiner Ausgangsthese gegen die theologischen Prämissen des Passionstextes motiviert: „Der beleidigte Gott wird der gescheiterte Gott sein. Dass die Allmacht mit der Welt die gotteswürdige Intention verfehlt – und nicht schon an ihr, sondern erst in ihr zerbricht -, ist Thema der Passion“[28]. Genauer: Sie wird zum Thema durch die Passionsmusik. Ein Scheitern, das sich allerdings auch verstehen lässt als eine neue Horizontbesetzung, die die Passion einem möglichen Hörer zu Beginn des 21. Jahrhunderts Gott neu und anders erschließen kann.
Die Musik ist deshalb nicht nur Zugang, sondern wesentlicher Inhalt in Blumenbergs Passionsverständnis. Sie bringt zum Tönen, was die begriffliche Arbeit am Gottesgedanken verdeckt und was die Passion auch für einen Hörer interessant macht, der ihrer dogmatischen Position nicht mehr folgen kann. Man könnte sagen, in der Passionsmusik wird das Leiden und Scheitern des allmächtigen Gottes an der Welt, die er schuf, zu einem hörbaren Erlebnis.
Die schwächste und die stärkste Szene der Passion
Was Blumenberg in Bachs Musik gehört hat, und was ihn zu seiner Generalthese veranlasst hat – die Passionsmusik Bachs lässt „überhören“ und „homogenisiert, … was der Texte nicht beieinander halten kann“, und zwar deshalb, weil „die Musik keine Logik wider sich haben kann“[29] -, will ich in der Szene nachgehen, die bei Matthäus nach dem Abendmahl steht: der Kampf Jesu in Gethsemane.
In dieser Gethsemane Szene wird zweimal etwas überhört. Aber anders als in der Musik ist das Überhören des Petrus und der übrigen Jünger im Text eine theologische Kategorie. Es gehört an den Anfang einer Linie, die für Blumenberg im Neuen Testament beginnt und über „Narrration zur Apologetik bis zur Dogmatik führt“[30]. Ziel dieser Arbeit an dencharismatischen Evidenzerfahrungen der ersten Stunde ist die Kohärenz der Urüberlieferung. Nach Blumenberg ist es der Systematiker Paulus, der die Redaktionsarbeit, die im Neuen Testament beginnt, in seiner Theologie vollendet, die deshalb auch mit einem „Minimum an narrativen Versatzstücken“ auskommt.
Eine erste Reaktion gegenüber den greifbaren Inkonsistenzen der eigenen Überlieferung liegt in eben dem Überhören dieser Mängel bei den Jüngern. Man weiß die Fragen, die sich aufdrängen, nicht zu stellen. Einmal überhört Petrus den Hinweis, den Jesus auf seine Auferstehung gibt (Mt 26,32) und bleibt bei der Ankündigung Jesu stehen, „ihr werdet alle Ärgernis nehmen an mir“ (Mt 26,31). Im anderen Fall überhören die Jünger die Bitte Jesu, Gott möge den Kelch des Leiden an ihm vorübergehen lassen (vgl. Mt 26, 39), und zwar, weil sie schlafen. Anders die Musik. Sie hat das Überhören im Sinne einer Ausblendung des Unerträglichen nicht nötig. Sie ist weder Abwehr noch Verdrängen von Fragen. Stattdessen nimmt sie dem Hörer alle misstrauischen Gedanken ab und stiftet eine Fraglosigkeit, in der alles geschehen kann und alles zugelassen wird. Insofern ist die Unbefragbarkeit, welche die Musik stiftet, eine „Kategorie des Rhetorischen“[31], einer momentanen Abschirmung eines Hörerhorizontes, in dem nicht alle Fragen, die man stellen könnte, auch gestellt werden müssen. Jedenfalls nicht, solange die Musik erklingt.
2. Hörbeispiel: Petrus überhört den Hinweis auf die Auferstehung. (Nr. 14-17) “Jesu Zagen am Ölberg“
Jesu Zagen am Ölberg
Eine äußerte Belastungsprobe ihrer „Fähigkeit zu überhören“, an der auch die Passionsmusik scheitern wird, findet sich in der Szene, in der das theologisch Unerträgliche nur im Schlaf zu ertragen ist, in der Gebetszene in Gethsemane. Denn dort wird für einen Augenblick wie zwischen den Zeilen greifbar, dass der Gang ans Kreuz nicht einfach die Konsequenz eines innertrinitarischen Entschlusses vor aller Zeit gewesen sein könnte, sondern die dreifache Nachlassbitte Jesu, „Mein Vater, ist´s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber“ (Mt 26, 39.42.44), ein ernsthaftes Ringen mit dem Willen des Vaters gewesen sein könnte mit ungewissem Ausgang. Jesus könnte das Undenkbare gedacht und nicht von vornherein ausgeschlossen haben, dass der Kelch an ihm tatsächlich vorübergehen könnte. Deshalb bäumt er sich auf. Deshalb wiederholt er dreifach seine Bitte, weil er nicht will, dass sie untergeht.
Das hätte nach Blumenberg der Anlass für ein großes musikalisches Drama sein müssen, wenn hier Bachs Musik nicht selbst dem Versagen der Theologie vor den Zumutungen ihrer heiligen Textes gefolgt wäre. Denn vom Drama des Ringens in Gethsemane ist in Bachs Musik so wenig zu spüren wie in der theologischen Tradition. Sie hat dieses Gebet als eine kunstvolle Verzögerung einer im Willen Gottes längst beschlossenen Sendung des Sohnes ans Kreuz behandelt.
Die Größe der Passionsmusik sich der doketischen Verkürzung der Menschlichkeit Jesus zu widersetzen, kommt hier an ihre Grenze. Die Gebets-Szene ist deshalb für Blumenberg „inhaltlich wie musikalisch die schwächste der Matthäuspassion“[32] Bach macht nichts aus dem Aufbäumen und dem Zu-Boden-Gehen Jesu. Es ist ein geringer Trost, dass seine Schwäche die der ganzen theologischen Tradition ist. Die Musik hätte spürbar machen können, dass Jesus den Weg der Passion nicht ging, weil er musste, sei es um seine Sendung nicht zu verraten, sei es um der Unschuldige zu bleiben, der sich an keinem Punkt dem Willen des Vaters entzieht. Bachs Aufgabe wäre es nach Blumenberg gewesen, die „verschuldungsfreie Entscheidbarkeit der Passion in der Ölbergnacht“[33] zur Geltung zu bringen und durch die „gewaltigste Musik“ die Hörer zu Zeugen eines „ungeschuldeten Heils“ zu machen.
Stattdessen macht Bach aus dem Ausruf Jesu, „Mein Vater, ist´s möglich …“ (Nr. 21)[34], eine flüchtige Einleitung zum Rezitativ des Basses, das aus dem Niederfallen des Heilandes eine Erhebung von uns allen, aus seinem Fall der Erlösung vom Sündenfall aller macht: „Der Heiland fällt vor seinem Vater nieder. Dadurch erhebt er mich und alle von unserem Falle“ (Nr. 22). Während die folgende Arie des Basses (Nr. 23) die Aneignung der Leidensbereitschaft und Willenseinheit Jesu mit dem Vater für den frommen Hörer der Passion ins Auge fasst: „Gerne will ich mich bequemen, Kreuz und Becher anzunehmen, Trink ich doch dem Heiland nach.“ Dieser, wie Blumenberg das nennt, leichtfüßige Übergang, der nichts spüren lässt von der Dramatik einer ernsthaften Versuchlichkeit Jesu, wiederholt sich auch bei der zweiten Bitte. Bachs musikalische Dramaturgie geht umstandslos von der Bitte Jesu zu seiner vollständige Ergebung in Gottes Willen über. Das Ringen Jesu mit dem Vater um seinen Tod endet in einem Choral, der die vollständige Ergebung in Gottes Willen als Inbegriff des Glaubens besingt: „Was mein Gott will, das g´scheh allzeit. Sein Will, der ist der beste“ (Nr. 25).
So bildet Bachs Passionsmusik für Blumenberg „das vielleicht größte Versäumnis der christlichen Tradition ab, den Doketismus der Christologie an deren härtesten Kern zu überwinden und das Wort von der Versuchlichkeit Jesu in seinem Realismus stehenzulassen … An Bachs Passion lässt sich die schiere Unüberwindlichkeit der Gnosis als Passion der Passion erfahren“[35].
Hörbeispiel 3: Der leichtfüßige Übergang von der Bitte um Verschonung zur Ergebung in Gottes Willen (Nr. 21-26 Anfang) “Gebet am Ölberg”
Der Schrei der Verlassenheit
Was aber wäre die stärkste Szene der Passionsmusik? Dazu äußert sich Blumenberg nicht, aber es lässt sich vermuten, dass es, in genauer Entsprechung zum Gebetsringen im Garten Gethsemane, das Todesringen Jesu am Kreuz (Nr. 61a-62) sein muss. Verbunden sind beide Szenen durch die Anrufung des himmlischen Vaters, einmal durch den zu Tode betrübten, das andere Mal durch den mit dem Tode ringenden Sohn. Die Stärke der Musik Bachs ist die Gewalt mit der sie eine Hörergemeinde fassungslos werden lässt angesichts dieser Leiden. Nimmt man, wie Blumenberg dies tut, den Gebetruf in Gethsemane als „ergebnisoffenes“ Ringen mit Gottes Willen, dann ist auch derSchrei der Verlassenheit „ergebnisoffene“ Gottesferne. So als habe die Ergebung in des Vaters Willen in Garten Gethsemane das Verspechen des Vaters impliziert diesen Weg ans Kreuz mitzugehen. Und der Schrei am Kreuz artikuliert die Fassungslosigkeit des Sohnes, dass der Vater dieses Versprechen nicht eingehalten habe. In Blumenbergs antidoketischem Realismus gehört zur wirklichen Bitte um Verschonung, auch die wirkliche Gottverlassenheit am Kreuz.
Wie aber kann ein Vater, und sei es der himmlische, mit diesem Schrei seines Sohnes leben? „Es muss dann der Vater danach ein anderer Gott sein“[36]. Oder im christlichen Sinn: Es zeigt sich erst am Gekreuzigten, an seinem Schrei der Gottverlassenheit, und an seiner Auferstehung, wer Gott in Wahrheit ist, nämlich „ein ganz und gar kontingenter, in seinem Liebeswillen zu uns begründeter und in seinen Liebestaten in der Geschichte für uns manifest gewordener Sachverhalt“[37]. Dann wird denkbar, dass der Vater sich schon „vorher“ als der Gott „danach“ zeigt, dass er genauso fassungslos ist wie die Hörergemeinde angesichts dieser Passion, die er nicht gewollt hat. Dann könnte sich Gott am Ende der Passion „mit Tränen niedersetzen“(Nr. 68), zusammen mit der trauernden Gemeinde.
4. Hörbeispiel: Der Schrei der Gottverlassenheit (Nr. 61a-62 Kreuzigung und Nr. 68 Schlußchor)
Perspektiven für den christlichen Gottesdienst
Sichtet man die Überlegungen Blumenbergs im Blick auf den „Lernort Gemeinde“, dann ist eine Konsequenz, dass die Musik im Gottesdienst nicht nur Reaktion und Antwort auf die Darbietung des Evangeliums ist, sondern ihr eine konstitutive Bedeutung zukommt. Sie ist „Erbin des Rituals“ und stellt an sich eine „Ordnungsleistung“ dar, die unverzichtbar ist für die Bereitschaft sich auf Unwahrscheinliches einzulassen. Und dazu gehört die Kommunikation des Evangeliums auch dann, wenn es um sich um die Kerngemeinde handelt.
Das ist ein Argument für die unverzichtbare Bedeutung der Musik im Gottesdienst, nicht aber für eine bestimmte Musikrichtung. Dazu bedürfte es einer Phänomenologie musikalischer Gattungen in liturgischer Absicht. Die pragmatische Funktion, die Blumenberg in der Musik als Medium entdeckt, wird erst in einer hermeneutischen Arbeit am religiösen Sinn bestimmter musikalischer Werke und Stilrichtungen praktisch-theologisch bedeutsam. Es wäre eine Arbeit an Tiefenschichten, die im theologischen Diskurs oft ausgeblendet werden, den emotionalen, energetischen, gestischen, dramatischen, rhetorischen Subtexten biblischer Texten. Werden diese Subtexte in und mit Hilfe der Musik bewusster wahrgenommen, dann könnte in der gottesdienstlichen Feier der Reichtum an Ausdrucksebenen revitalisiert werden – und die Chancen deutlich verbessern werden christliche Themen ins Spiel zu bringen.
Konkret und im Blick auf die Matthäuspassion Bachs könnte man nun sagen, dass in ihr ein Leidenston, eine Haltung des Mitleids und des Mitleidens dramatisch inszeniert und im Hörer formiert und ausgebildet wird, die nicht nur einen veränderten Horizont des Glaubens anzeigt – das wäre Hans Blumenbergs Argument für das Scheitern der göttlichen Allmacht -, sondern auch eine Veränderung, wie in diesem Horizont der Glaube stilbildend wirkt. Der christliche Gottesdienst, in dem sicher nicht die gesamte Matthäuspassion, aber doch regelmäßig wiederkehrend die Passionschoräle erklingen, könnte in der Passionszeit der Ort sein, an dem christliche Lebenskunst ausbildet und gelernt wird. Lebenskunst, die in ihrem Kern nicht ein abstraktes Wissen um Gut und Böse ist, sondern die konkrete Verwandlung hin zu einer Haltung der Barmherzigkeit und zu Gesten der Solidarität mit Schwachen und Leidenden.
[1] K. Barth, Wolfgang Amadeus Mozart. 1756/1956, Zürich 1956, 8.
[2] Zur Bedeutung des Spiels in der kirchlichen Praxis, allerdings ohne die Musik einzubeziehen, vgl Thomas Klie, Zeichen und Spiel. Semiotische und spieltheoretische Rekonstruktionen der Pastoraltheologie, Gütersloh 2003.
[3] M. ´t Haart, Bach und Ich, München 2002, 17.
[4] Der Katechismus nach Luther und Brenz, Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Stuttgart 1996, 1492.
[5] B. Pascal, Das Memorial, Werke Bd. I, Heidelberg 81978, 248.
[6] K. Barth, Mozart, 7.
[7] M. t´Haart, Bach und ich, 17f.
[8] Vgl. K. Barth, Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 1947, 49-53.
[9] Zur Unterscheidung von bedrohlicher, weil unbestimmter Unbestimmtheit (Chaos) und gutartiger, weil bestimmter Unbestimmtheit bei Hans Blumenberg, vgl. Ph. Stoellger, Metapher und Lebenswelt, Tübingen 2000, 367.
[10] Zu Barths dogmatischen Verfahren zwischen „Leben und Lehre“, vgl. Jörg Dierken, Glaube und Lehre im modernen Protestantismus, Tübingen 1996, 37ff.
[11] Explizit geschieht dies bei Karl Barth in der Schöpfungslehre KD III/3, Zürich 1950, 334-342.
[12] M. ´t Haart, Bach und ich, 93-105. Maarten t´Haart verweist auf Bachs Parodierverfahren, das zeige, dass Bach die von ihm die vertonten Texte nicht sehr wichtig waren.
[13] O. Söhngen, Theologische Grundlagen der Kirchenmusik, in: K. F. Müller/W.- Blankenburg (Hg.), Leiturgia. Handbuch des evangelischen Gottesdienstes Bd. IV, Kassel 1961, 1-266, 13f.
[14] H. Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt a. M. 1988 (=MP).
[15] Allerdings hat auch die Musik Bachs ihr eigenes Verfallsdatum. Das zeigt das Schicksal der Matthäuspassion, die nach ihrer Uraufführung 1729 in Leipzig erst von Felix Mendelssohn-Bartholdy 1829 in Berlin wieder aufgeführt wurde, nun allerdings nicht mehr in einer Kirche, sondern in einem Konzertsaal, vgl. M. Boyd, Johann Sebastian Bach, Stuttgart 1984, 292.
[16] Dazu findet sich eine knappe und erhellende Skizze, in: Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift der EKD und VEF, Gütersloh 2002, 11-17.
[17] Ritualität ist Kennzeichen der Kultur insgesamt, vgl. dazu K. Huizing, Der inszenierte Mensch, Stuttgart 2002, 127-134.
[18] Vgl. B. Waldenfels (Das leibliche Selbst, Frankfurt 2000, 66) Hinweis auf Gestalt und Struktur.
[19] Der bedeutenden englische Schauspieler, Regisseur und Theatertheoretiker Edward Gordon Craig (1872-1966) hat die Matthäuspassion auch für die Bühne bearbeitet, vgl. M. Boyd, Johann Sebastian Bach, Stuttgart 1984, 201; zu Craigs Theatertheorie, vgl. Th. Klie, Zeichen und Spiel, Gütersloh 2002, 74-92.
[20] Eindrücklich in John Neumaiers Ballett-Choreographie der Matthäuspassion in Hamburg (Uraufführung 25.06.1981, Wiederaufnahme beim Kirchentag in Hamburg 1995).
[21] Vgl. P. Bahr, Ritual und Ritualisation. Elemente zu einer Theorie des Rituals im Anschluss an Victor Turner, in: PTh 33 (1998), 143-158.
[22] Etwa in der Arie des Basses (Nr. 23): „Gerne will ich mich bequemen, Kreuz und Becher anzunehmen, Trink ich doch dem Heiland nach.“
[23] K. Huizing, Der inszenierte Mensch, 222; ähnlich argumentiert J. Hörisch, Ende der Vorstellung. Die Poesie der Medien, Frankfurt 1999, 225f.
[24] MP 45.
[25] MP 42.
[26] MP 14f.
[27] MP 78.
[28] MP 15.
[29] MP 46
[30] MP 40f.
[31] Rhetorik reflektiert die Resonanz einer Rede beim Hörer, das Rhetorische die rückwärtige Verbindungen symbolischer Sinndarstellung zur Lebenswelt, vgl. dazu Th. Erne, Rhetorik und Religion. Studien zur praktischen Theologie des Alltags, Gütersloh 2002, 77-99.
[32] MP 195
[33] MP 198
[34] Die Nummern in Klammer beziehen sich auf den Text in der Neuen Bach Ausgabe, Serie II, Bd. 5, Matthäuspassion (BA 5038), hrsg. v. A. Dürr, Kassel 1972.
[35] MP 198
[36] MP 250
[37] I.U. Dalferth, Gott. Philosophisch-theologische Denkversuche, Tübingen 1992, 231.