Autobahnkirchen

Geschätzte Lesedauer 6 Minuten
Beispiele einer situativen Ekklesiologie


1. Annäherung

6 Km bis zur Ausfahrt Autobahnkirche Baden-Baden. Bei Tempo 180 hat der Fahrer zwei Minuten Zeit um sich  mit seiner Familie zu verständigen, ob er dieser Einladung Folge leistet. Sonst muß er im Schnitt achtzig Kilometer warten bis sich ihm die nächste Chance bietet. Autobahnkirchen sind christliche Gotteshäuser, die am Rand der Autobahnen Reisenden eine Mitte bieten wollen. Neben dem Mindestabstand von 80 Kilometer müssen sie folgende formale Kriterien erfüllen: Sie sollten nicht mehr als einen Kilometer von der Autobahn entfernt sein, Toiletten haben, von 8-20 Uhr täglich geöffnet sein und Platz bieten für mindestens eine Busladung an Besuchern.  Dreißig solcher „Rasthäuser der Seele“, in denen  man „Ruhe“ tanken kann, gibt an es bundesdeutschen Autobahnen. Es scheint eine nationale Eigenart zu sein. Kein anderes Land der Welt bietet seinen Autofahrern ein so lückenloses Angebot zur inneren Einkehr. Mit einer Ausnahme: Der Norden Deutschlands bildet bis auf die Dorfkirche Kavelsdorf bei Rostock eine autobahnkirchenfreie Zone.

2. Ortsbegehung

Autobahnkirchen zerfallen in zwei Gruppen. Die Wehrkirche aus dem 13. Jahrhundert in Kavelsdorf oder die Feininger-Kirche in Gelmeroda sind zufällig durch die Streckenführung in Reichweite der Autobahn geraten und  werden simultan als Gemeinde- und als Autobahnkirche genutzt. Genuine Autobahnkirchen dagegen sind für ihre automobile Funktion konzipiert und neu gebaut worden. Die älteste  Autobahnkirche dieser Art steht seit 1958 an der A8 in Adelsried. Sie verdankt sich einer privaten Stiftung, wie viele der neu gebauten Autobahnkirchen. Gegen den Trend – die beiden großen Kirchen stöhnen unter der Last zu vieler Kirchengebäude –  entstehen entlang der Autobahn in Deutschland neue Kapellen und Kirchen. Ekklesiologisch bedeutsam ist an diesem Umstand, dass die neuen Kirchen sich keiner planvollen kirchlichen  Strategie verdanken. Sie entstehen, weil private Stifter auf neu entstehende religiöse Bedürfnisse reagieren, und zwar dort, wo sie entstehen, an den großen Hauptverkehrsadern. Rechnet man den Kerzenverbrauch von St. Christopherus, eine der meist frequentierten Autobahnkirchen bei Baden-Baden, auf die Besucherzahlen hoch, so sind es über eine Million Besucher, die jedes Jahr die Autobahnkirchen in Deutschland besuchen. Allein zwischen 1985 und 2006 sind  21 neue Autobahnkirchen entstanden,  allerdings nur knapp die Hälfte davon auch neu gebaut. Die „jüngste“ Autobahnkirche, die Jakobiskirche in Wilsdruff, ist eine romanische Pilgerkirche aus dem 12. Jahrhundert. 2006 wurde sie zur Autobahnkirche deklariert  Sie knüpft an ihre ursprüngliche Bestimmung an und bietet heute nicht mehr Jakobs- sondern modernen Autobahnpilgern ihren Schutz an.

3. Private Liturgien

So wenig sich die Autobahnkirchen einer planvollen kirchlichen Strategie verdanken, so wenig lassen die Liturgien, die sich an diesen Orten entwickeln auf den kirchlichen Formenkanon reduzieren. Neben dem sonntäglichen Gottesdienst, vor allem in simultan genutzten Autobahnkirchen, sind es vor allem Formen anonymer und privater Andacht, die nur ausnahmsweise manifest werden. So gibt es in nahezu allen Autobahnkirchen ein Gäste- oder Anliegenbuch, das in den sonntäglichen Fürbitten  aufgegriffen wird. Jede Autobahnkirche hat einen Lichterbaum oder andere die Möglichkeit Kerzen zu entzünden. Die wichtigste Liturgie stiftet der Ort und der Raum der Autobahnkirche selbst. Die Besucher, meist Einzelne, ab und zu auch Gruppen, treffen in der Autobahnkirche  selten einen Pfarrer oder ehrenamtliche Betreuer an. Aus dieser Not machen die wenigen programmatischen Äußerungen eine Tugend und konzentrieren sich auf das Bild der Autobahnkirche als ein Ort stiller Einkehr in der Hektik des Straßenverkehrs. Die Initiative zur ersten Autobahnkirche verdankt sich allerdings einem anderen Motiv. „Maria, Schutz der Reisenden“, so der Name der Adelsrieder Kirche wurde nach einem tödlichen Verkehrsunfall von der Familie eines Unternehmers gestiftet. Das Bedürfnis nach stiller Andacht scheint daher durchsetzt zu sein vom Bewusstsein der Gefahr, der sich jeder Verkehrsteilnehmer aussetzt. Selbstbesinnung und Kontingenzbewältigung dürften die beiden dominanten Motive sein, welche die religiöse Bedürfnislage der Besucher von Autobahnkirchen charakterisiert.

4. Kulturgeschichtliche Hintergründe

„Massentourismus“ ist keine Erfindung der Moderne. Im Mittelalter ging die Zahl allein der Jakobspilger jährlich in die Hunderttausende. Die Pilgerzüge nach Santiago oder Rom formieren sich ab dem 12.Jahrhundert nicht mehr nur aus dem Adel, sondern aus Reisenden aller Stände. Für einfache Menschen war die Pilgerfahrt eine gesellschaftlich sanktionierte  Möglichkeit ihrem Alltag zu entrinnen. Befreit von schwerer Arbeit und unter dem Schutz Gottes, der treuga dei, war die Pilgerfahrt im Mittelalter eine erste Form des Urlaubs für die Seele, eine gemeinschaftliche Suche nach  Transzendenz.
Diese gesteigerte Mobilität erforderte eine feine verästelte Organisation von Wegen, Kapellen und Hospizen. Im Zentrum der touristischen Infrastruktur des Mittelalters stand die christliche Gastfreundschaft. Die Pilger konnten unterwegs in Klöstern und Kirchen kostenlos übernachten, weil die Mönchen und Nonnen in den Pilgern Christus selbst beherbergten (vgl. Mt 25,23; Heb 13,2).  Den anwachsenden Pilgerströmen war diese Form der Betreuung allerdings nicht mehr gewachsen. Neben Klöster und Hospizen, die ausschließlich zur Betreuung der Pilger gegründet wurden, entstanden erste gewerbsmäßige Raststätten, die von Anbeginn mit dem zweifelhaften Ruf gewinnsüchtiger Wirte verbunden waren.

5. Theologische Horizonte

Unter veränderten Bedingungen knüpfen die Autobahnkirchen an alte Motive der Pilgerfahrten an. Es sind Schutzräume für moderne Nomaden, die dort Ruhe suchen, nicht vor Räubern und anderer Gefahr, sondern vor der extrem beschleunigten Bewegung all ihrer Lebensverhältnisse – ohne auf diese Qualität gänzlich verzichten zu können oder zu wollen. Es ist eine momentane Entschleunigung, Transzendenz beim Zwischenstopp. Autobahnkirchen repräsentieren eine situative Ekklesiologie. Kirche, die an den Orten und zu den Zeiten präsent wird, wo das Bedürfnis nach religiöser Lebensdeutung und Gottesbegegnung in der modernen Gesellschaft entsteht. Exemplarisches Handlungsfeld einer situativen Kirche ist der Tourismus (vgl. EKD Text 82). Praktisch-theologisch gehört die spirituelle Bedürfnislage in den Kapellen am Rande der Autobahnen nicht in erster Linie in die Seelsorge, sondern in die noch zu entfaltende Disziplin einer evangelischen Asketik. Dabei handelt es sich um die Gesamtheit einer christlichen Lebenskunst, die in einer verzweigten und komplex verästelten postmodernen Gesellschaft in unterschiedlichen Situationen  und an vielfältigen Orten, siehe die liturgische Topologie in diesem Band,  wahrgenommen und kultiviert werden muss.

6. Topologisch-liturgische Utopien

Die meisten Autobahnkirchen bleiben hinter den Möglichkeiten zurück, die sich ihnen am Rand der modernen Verkehrsströme bieten, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen sind sie topologisch zu wenig auf den Kontext und Kontrast zum Autoverkehr bezogen, zum anderen sind sie liturgisch eigentümlich karg.
Topologisch sind Autobahnkirchen Heterotopien. Gegenwelten, die sich definieren durch die Nähe und Beziehung zum modernen Autoverkehr, um diesen zugleich als Ort der Besinnung und Ruhe zu dementieren. Die Autobahnkapelle Roxel z.B. inszeniert die Abkehr von der automobilen Technik und die Hinwendung zur Natur als religiöse Konzentrationsbewegung. Der Eingang liegt auf der Verkehrsseite. Die Altarwand aus Glas dagegen öffnet den Blick auf ein großes Kruzifix, das außerhalb der Kapelle vor dem Waldrand steht. Dabei lässt sich der Eindruck von Kruzifix und Waldrand nicht ablösen vom Verkehr, der die Besucher an diesen Ort überhaupt erst kommen lässt. Diese Dialektik wird aber von vorhandenen Autobahnkirchen nicht bewusst gestaltet, sondern nur stillschweigend in Kauf genommen.  Der Entwurf von Fabrice Henninger, Peter Weigand und Christian Kirchner, drei Architekturstudenten, plaziert deshalb die Autobahnkirche mitten in den Verkehrstrom. Ein Lichtdom auf dem Mittelstreifen führt das Licht in den unterirdischen Andachtsraum, eine Mischung von Grabeshöhle und Gebärmutter, die von beiden Seiten der Autobahn durch Fußgängertunnel erreichbar ist. Dieses „Lichtei“ unter der Fahrbahn, mit natürlichen Materialen als Gegenkonzept zum technisierten Verkehr entworfen,  bezieht aus der bewusst gestalteten Beziehung zum Verkehr eine intensive Qualität der Stille, gerade weil der Verkehr über dem von Licht durchfluteten unterirdischen Raum ständig präsent bleibt [Bild?].
Auch für das Leitmotiv der Autobahnkirchen, Ruhe und Stille, gilt, dass das Bedürfnis der Autofahrer so nur unzureichend verstanden wird. Fahren auf der Autobahn ist ausgesprochen monoton. Es absorbiert die Aufmerksamkeit, ohne sie wirklich zu beschäftigen. Zudem ist der Autofahrer in extremer Weise in Bewegung, ohne sich selber dabei zu bewegen. Autobahnkirchen sind daher nicht als Orte von Reizentzug interessant, sondern als Orte eines anders gearteten Reizklimas. Es müsste in Autobahnkirchen eine Atmosphäre herrschen, die zurbewußten Wahrnehmung des leiblichen Selbst führt, damit sich die körperlichen Anspannungen lösen, die beim Autofahren aufgebaut werden. Das beginnt bei den Wegen zu und in der Kapelle, bei der Raumdimension, der Enge im Wagen und der Weite im Kirchenraums, beim Wasser als belebendes Element – jede Autobahnkirche sollte einen Brunnen haben -, dann die Lichtführung, Farbgebung, der Blick ins entspannende Grün der Natur etc..
Autobahnkirchen werden in der Regel nicht von Personal bespielt. Vielleicht wird das von den Besuchern auch selten erwartet. Aber der Blick auf die Geschichte der Pilgerwege zeigt, wie wichtig die persönliche Dienstleistung am Wegrand für Reisende ist. Da die meisten Serviceleistungen der Klöster, Übernachtung, Nahrung und Flicken der Sandalen etc., heute an gewerbliche Rasthäuser delegiert sind, bleibt nur die liturgische Präsenz, um mit einladenden Gesten die private und anonyme Andacht zu rahmen. Denkbar sind Musik, liturgische Zwischenspiele, Anleitungen zur Meditation, Gespräche am Rande, Anwesenheit von Personen in einem spirituellen Hospiz auf Zeit, damit Gottes Gastfreundschaft auch in gastfreundlichen Menschen konkret wird.
Thomas Erne

Literatur:

Harald Rein: Grenzen der Seelsorge. Die Spannung zwischen territorialer Pfarrgemeinde und funktionaler Seelsorge am Beispiel der Autobahnkirchen in der Bundesrepublik Deutschland, Bern 1987.
Gereon Vogler, Besinnung in Autobahnkapellen, in: R. Bleistein (Hg.), Menschen unterwegs. Das Angebot der Kirche in Freizeit und Tourismus, Frankfurt 1988.
Kamprad, Barbara und Pflästerer, Hans-Albrecht: Auf die Schnelle in die Stille. Millionen machen Halt an Autobahnkirchen, in: Evangelischer Arbeitskreis Freizeit, Erholung und Tourismus in der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hrsg.): Das Leben ist eine Reise. Kirche und Tourismus: Impulse-Modelle-Bausteine, Hannover 2004.
Fern der Heimat: Kirche. Urlaubsseelsorge im Wandel, EKD Texte 82, Hannover 2006.
G. Fermor/G. Schäfer/H. Schroeter-Wittke/S. Wolf-Witthöft [Hg.]: Gottesdienst-Orte. Handbuch der Liturgischen Topologie, Günter Ruddat zum 60. Geburtstag, Leipzig 2007.

Links: www.autobahnkirche.info