Architekturflash – Temporäre Kapelle Veltheim

Kapellen auf Zeit erhalten vor allem auf Landesgartenschauen große Aufmerksamkeit. Konzipiert für den überschaubaren Zeitraum von 6 Monaten sind die kirchlichen Pavillons meist leicht aufbaubar und wiederverwendbar. Die Lichtkirche des Architektenbüros Raum-z, die für die Landesgartenschau in Bad Nauheim 2010 konzipiert wurde, beeindruckte durch ihre architektonische Interpretation der sakralen Dimension von Licht. Je nach Tageszeit und Veranstaltung verändert die Kapelle ihre Lichtgestalt, indem sie unterschiedlich mit dem Tageslicht korrespondiert oder von Innen durch LED-Strahler zu einem Lichtkunstwerk wird. Der ökumenische Kirchenpavillon der bayer/uhrig Architekten wiederum, der 2015 für die Landesgartenschau in Landau entworfen wurde, fand große Beachtung wegen seiner wandelbaren und leichten Bauweise. Die zur einen Hälfte geöffnete und zur anderen Seite mit Hölzern geschlossene Kapelle ist ein vielseitiger Ort, der sowohl zum individuellen Innehalten einlädt als auch für öffentliche Veranstaltungen nutzbar ist.

Im Gegensatz zum massiven Kirchenbau, der für die Ewigkeit gebaut wurde, betonen diese sakralen Mikroarchitekturen eher das Provisorische, Bewegliche und Vorübergehende. Sie passen zu einer Gesellschaft, die sich im Wandel und in Bewegung befindet und auf ihrer Wanderschaft nach Orten der Ruhe und Besinnung sucht.

 

Das ist auch der Wunsch der reformierten Gemeinde Winterthur-Veltheim in der Schweiz für ihre Temporäre Kapelle. Sie “soll den Menschen, die sie besuchen, Inspiration, Ruhe und Kraft geben, sich mit den Themen unserer Zeit auseinanderzusetzen und das Göttliche dieser Welt immer wieder neu zu entdecken.”

Doch wie fing alles an? Die Gemeinde nahm das diesjährige Schweizer Zwingli-Jubiläum zum Anlass, sich mit der 1000jährigen Geschichte ihrer Veltheimer Dorfkirche zu beschäftigen. Sie entdeckten eine Geschichte voller Veränderungen und Zerwürfnisse, die sich baulich in Umbauten und Erweiterungen der Kirche zeigten. Beispielsweise gab es im heutigen Chor der Steinkirche einen zugemauerten Bogen, der bis 1864 in den alten frühgotischen Chor führte. Dieses spirituelle Zentrum der ersten kleineren Kirche wurde aus unbekannten Gründen 1864 abgebrochen. Für die Gemeinde stand die Frage im Raum, ob dieser Ursprungsort der Kirche nicht wieder aufgebaut und erlebbar gemacht werden könnte.

 

 

Zeitgleich stand in der benachbarten Kirche Rosenberg Baumaterial von abgebauten Asylunterkünften zur Verfügung, die während der Flüchtlingskrise 2015/2016 als temporäres Zuhause in der leerstehenden Kirche von Freiwilligen aufgebaut wurden.

Wie könnte man diesem außergewöhnlichen Projekt Nachklang verleihen, fragte sich die Gemeinde. Diese inspirierenden Fragen führten schließlich zur Idee einer temporären Kapelle, die am Ort des frühgotischen Chors aus dem Baumaterial der Flüchtlingsunterkünfte entstehen sollte.

Der Architekt und Gemeindemitglied Markus Jedele-Schudel entwickelte einen Entwurf für die Kapelle, der an die Asyl-Häuschen erinnert. Die Fassade des Kubus besteht aus Hölzern der Asylunterkunft, die nun ein verwobenes, ornamentales Fassadenbild prägen. Im Innenraum der Kapelle erstreckt sich ein Spitzbogengewölbe, das exakt die ursprüngliche Form des Chores der Dorfkapelle nachzeichnet. Zusammen mit einem Lichtspalt und dem zurückgenommenen Weiß der Wände erhält der Raum eine sakrale Atmosphäre. Der braune Boden und das farbige Oberlicht sollen einen Bezug zu den historischen Fresken in der Dorfkirche herstellen.

Die Kapelle wurde zunächst in einem Busdepot vorfabriziert. Rund 2 km Latten und mehrere 100 m2 Grobspanplatten aus dem eingelagerten Material der Asylhäuser standen zur Verfügung.

Die Wärmedämmung für die Kapelle wurde in einer gemeinschaftlichen Aktion aus alten Romanen, Musiknoten und Gesangbüchern hergestellt. Das geschredderte Material ergab 15 m³ Wärmedämmung, das von der Gemeinde als “Schutzmantel mit Geist” bezeichnet wird.

Im folgenden Schritt wurde der vor 150 Jahren zugemauerte Bogen zwischen dem alten und dem noch existierenden Chor der Dorfkirche aufgebrochen. Am 18. Juni 2019 war es dann soweit: Ein Schwertransporter brachte die vorgefertigte Kapelle aus dem Busdepot nach Veltheim. Ein Spezialkran stellte die Kapelle in zwei Teilen auf – den unteren Kapellenraum und das Spitzbogengewölbe. Nach nur einem halben Jahr Planungs- und Bauzeit wurde die Kapelle am 2. Juli 2019 feierlich eröffnet.

 

Finanziell unterstützt wird das zweijährige Projekt mit einem Kredit von 140.000 CHF, der vom Kirchengemeinderat genehmigt wurden sowie vom Stadtrat von Winterthur mit 45.000 CHF aus dem Hedwig und Zygmunt Luciak-Weilenmann Fond.

Ein Rahmenprogramm unter der Leitung der Kuratorin Anita Bättig nimmt die Idee der Veränderung und des Wandels auf. TRANSFORMATION # heißt die Ausstellungsreihe in der Temporären Kapelle, die alle zwei Monate künstlerische Positionen zeigen wird, die sich mit dem Thema Flucht und Heimat auseinandersetzen.  Aktuell sind die Arbeiten des iranisch-schweizerischen Künstlers Navid Schopp zu sehen, mit denen er sich mit der (Jugend)kultur Irans und mit Aneignung, Austausch und Umwertung fremder Kulturen auseinandersetzt. Die Ausstellung “Brennpunkt I – III” ist noch bis zum 25. Oktober 2019 in der Temporären Kapelle Veltheim zu sehen. Mit diesen künstlerischen Impulsen wird die Kapelle zu einem Ort werden, “an dem sich Kunst und Kirche in experimenteller Form begegnen können”, heißt das Vorhaben der Gemeinde.

 

Mit dem Projekt der Temporären Kapelle hat die Gemeinde von Veltheim ihrem Wunsch nach neuen Impulsen für das kirchliche Leben im Alltag auf besondere Weise Ausdruck verliehen. Entstanden ist ein inspirierender Ort, der die Kraft hat, weit über die Dorf- und sogar Landesgrenzen hinaus, neue Anregungen für das kirchliche Leben zu setzen.

 

Text: Dorothea von Kiedrowski

Fotos und Abbildungen: Christian Schwager, Markus Jedele-Schudel, Nathalie Bartens, Zentralbibliothek Zürich, Architekten-Kollektiv AG, handholzwerk

www.kapelle-veltheim.ch